Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 33

Anation

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„Aigonn!“ Anation öffnete so jäh die Augen, dass Schwindel über ihr zusammenschlug, als sie versuchte, sich aufzusetzen und umzusehen. Erstaunt fasste Rowilan ihre Schulter und stützte sie, während die junge Frau sich an den Kopf fasste. Anation musste die Augen wieder schließen, einen Moment innehalten. Doch es war plötzlich eine solche Unruhe in ihr aufgestiegen, dass sie selbst auf den Schamanen überging.

„Ganz ruhig“, redete er auf sie ein. „Aigonn ist nicht hier, ihm ist nichts geschehen!“ Rowilan wusste, dass dies eine Lüge war. Niemand konnte sie ihm beweisen und je länger er ausharrte und darauf wartete, dass dieser junge Mann aus seinem Dorf, der ihm seit Jahren schon das Leben schwer zu machen versuchte, ein Lebenszeichen von sich gab, desto weniger glaubte Rowilan daran, dass er sich vielleicht einfach nur verirrt hatte. Anations Unruhe bestätigte seine Ahnung.

„Nein …, nein, darum geht es nicht …“

Angestrengt umkrallten ihre Finger die Stirn. An den geweiteten Pupillen war ersichtlich, dass die Betäubung der Droge kaum nachgelassen haben konnte. Doch Rowilan war in diesem Moment allein darüber unendlich erleichtert, dass sie zu ihm aus der Welt der Geister zurückgekehrt war. Ihre Stimme hatte noch immer einen brüchigen Klang, als sie völlig aufgewühlt sagte: „Aigonn, sein Geist, ich habe ihn gespürt, gerade eben. Er hat seinen Körper verlassen!“

„Was sagst du?“ Die Beruhigung über Anations Zustand war vergessen. Rowilan blickte erschrocken zu der jungen Frau hinunter, versuchte einen Blick zu erhaschen, um sehen zu können, ob sie nicht vielleicht ältere Visionen der Geisterwelt mit sich genommen hatte. Doch ihre Stimme ließ keinen Trugschluss zu.

Der Schamane wagte es kaum zu sagen, als er aussprach: „Heißt das …, sie haben ihn getötet?“

„Nein, … Er lebt noch. Er …“ – Plötzlich schreckte sie hoch. Der Schwindel schien sie niederzwingen zu wollen, in diesem Moment aber ging sie darüber hinweg, als wäre es ein Jucken. Ihre Züge veränderten sich. Erst kam das Erkennen, dann das Entsetzen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, versuchte sie, sich auf die Beine zu rappeln, geriet ins Schwanken. Rowilan konnte gerade noch aufspringen, um sie unter den Achseln zu fassen, bevor sie in die Heide gestürzt wäre. Ihre Hände krallten sich um seine Arme, dann verkündete sie voller Panik: „Wir müssen hier weg! Man hat seinen Geist gezwungen, seinen Körper zu verlassen. Irgendetwas, … irgendjemand treibt ihn durch das Tor zur Anderen Welt!“

„WAS?“

„Wir müssen hier weg, sofort! Ich kann ihn finden! Wenn wir zu lange zögern, könnte diese Person, wer auch immer das ist, seine Seele so weit geführt haben, dass er nicht mehr zurückfindet. Er kann sich nicht wehren. Wahrscheinlich hat er die Kontrolle über seine Sinne verloren!“

„Warte!“ Rowilans Griff um ihre Achseln und Schultern verstärkte sich. Er bremste damit Anations Versuch, augenblicklich loszurennen und erneut umzustürzen. Die Ruhe in seiner Stimme war mehr als erzwungen, als er fragte: „Kannst du spüren, ob …“ Er wagte es kaum auszusprechen. „… einer der Männer überlebt hat, die ich mitgebracht habe, um dich zu retten?“

„Meine Sinne sind nicht scharf.“

„Aber vermutlich noch immer schärfer als die meinen. Versuch es, bitte!“

Anation schloss die Augen. Sie brauchte Gewalt, um ihren Atem zu beruhigen, ihrem Geist ein Stück Gleichmäßigkeit wiederzugeben, der noch immer von den Drogen umnebelt war. Nach einem kurzen Moment schüttelte sie den Kopf: „Zwei vielleicht. Aber auf keinen Fall mehr. Sie heben sich kaum von den Eichenleuten ab, die die Suche nach uns aufgenommen haben. Vielleicht sehe ich auch gerade nur Späher, die erleichtert darüber sind, das Moor verlassen zu können. Ich kann mich irren. Es gibt nichts, an dem ich sie ausmachen könnte, außer ihren Gefühlen. Ich kann nicht die Seelen der Lebenden sehen!“

„Ist gut.“ Er lockerte seinen Griff. „Kannst du denjenigen finden, der Aigonns Geist manipuliert?“

„Ja.“

„Gut.“ Damit fasste er Anation an der Taille, holte einmal tief Luft und hievte sich die junge Frau zurück auf die Arme. Überrascht stieß sie aus: „Was tust du?“

„Dich tragen. So kommen wir schneller voran, als wenn du alle zwei Schritte vor mir zu Boden fällst. Ich habe leider kein Pferd mehr.“

Sie nickte nur. Rowilan nahm schnell Geschwindigkeit auf, während die junge Frau ihn tief in den Wald führte. Er bemühte sich, so gut wie möglich das Stechen in seiner Seite zu ignorieren. Die Wunde war nicht tief, aber schmerzhaft.

Sie mieden die Wege aus der Gefahr heraus, den Eichenleuten zu begegnen. Glücklicherweise fand der Schamane einen alten Trampelpfad. Mit jedem Schritt schien das Dickicht um sie herum unwegsamer zu werden. Es dauerte nicht lange, bis er die Orientierung verloren hatte. Die Dämmerung lag hinter den Bäumen verborgen. Zwielicht verwandelte alle Farben in ein sanftes Grau, ließ bald Dunst aufsteigen, der es kaum mehr möglich machte, seine Umgebung zu erkennen. Es war Anations pures Gefühl, das sie führte. Rowilan war alles andere als wohl dabei. Doch als es fast völlig dunkel zu werden begann, ergriff die Erschöpfung Oberhand und er musste sie absetzen.

„Ist es noch weit? Wir werden uns verirren, wenn wir noch tiefer in den Wald laufen.“

„Ich weiß es nicht. Es scheint nicht so, aber dieser alte Pfad wird häufiger begangen, als man vermutet. Vorhin noch konnte man erkennen, dass sich viele, sich überlappende Fußspuren im Matsch eingedrückt haben. Ich denke deshalb, dass wir wenigstens Menschen treffen werden. Die Frage ist nur, wen und wo.“

Verdrießlich blickte Rowilan sich um. Er konnte nicht leugnen, dass er lieber nach den beiden überlebenden Männern gesucht hätte, bevor sie sich auf diesen Weg hier begeben hätten. Doch Anation hatte ihm deutlich gemacht, dass dafür keine Zeit geblieben wäre. Ihre Stimme zeugte noch immer von Dringlichkeit, als sie ihn ermahnte: „Los jetzt, wir müssen weiter. Ein solches Ritual dauert zwar lange, aber nicht ewig. Vielleicht bleibt uns jetzt schon keine Zeit mehr.“

Sie hatte Recht, das wusste der Schamane. Aus diesem Grund unterdrückte er erfolgreich die Müdigkeit, die seine Glieder schwer werden lassen und seinen Geist in dämmernden Schlaf ziehen wollte. Anation versuchte, aus eigener Kraft aufzustehen. Als er sie jedoch abermals schwanken sah, beschloss Rowilan, sie weiter zu tragen. Während Anation all ihre Kräfte, ihre Sinne aussandte, um das dünne Band zu finden, das noch immer zwischen Aigonns Geist und seinem Körper bestand, führte sie sie noch tiefer in die Dunkelheit. Solange, bis Rowilan nicht einmal mehr die eigenen Füße auf der Erde erkennen konnte.


Aigonn fühlte nichts. Der Schmerz war eine Erinnerung, die wie ein Echo verhallte. Kein Gefühl, kein Laut fand Eingang in sein Bewusstsein. Er konnte nichts sehen, als hätte ihm jemand die Augen verbunden. Doch er wusste genau, dass sie offen standen.

Leere. Er war die einzige Präsenz in einem vollkommen leeren Raum. Seine Gedanken schienen von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen zu werden, während er einfach nur dalag, ohne Gefühl, ohne den Drang, etwas zu tun, hilflos wie ein Säugling im Mutterleib, nur ohne Schutz, ohne die Geborgenheit. Fühlte es sich so an, kurz bevor eine Seele den Weg zur Erde fand, wenn sie rein war, alle befleckenden Erinnerungen des vergangenen Lebens fortgespült waren? Doch Aigonn fühlte sich nicht gereinigt, er war leer, aber verwundet. Verwundet auf eine Art, die kein Mensch sehen, sondern lediglich fühlen konnte, wenn man die Sinne schärfte und nach den Dingen suchte, die sonst für niemanden zugänglich waren. Leere. Er war allein, ganz allein. Diese Gewissheit jagte einen plötzlichen Schrecken durch seinen Kopf. Er hallte als Klang, laut wie ein Hornstoß, wider und ließ Aigonn unwillkürlich zusammenzucken.

Die fremde Stimme, die ihn geführt hatte, war verschwunden. Man hatte ihn in die Andere Welt getrieben und nun sich selbst überlassen, lediglich mit einem schleierhaften Auftrag behaftet, der in dieser Dimension alle Bedeutung verlor. Er war gestorben, obwohl sein Körper noch immer am Leben war. Aigonns Geist hatte die Welt der Menschen verlassen, eine unsichtbare Grenze übertreten, die seit Anbeginn der Zeit endgültig und unwiderruflich war. Kein Zurück, kein Voran. Nichts. Nur die Leere.

Plötzlich zuckte ein Lichtblitz durch das Gestaltlose. Aigonn wich zurück, als wäre es sein eigener Muskel, eine Nervenbahn. Was war das? Konnte es das letzte Band sein, das ihn mit seinem Körper in der Menschenwelt verband? Konnte er zurück?

Zaghaft folgte er dem blassen Licht. Ihm war unklar, wie er sich fortbewegte. Es erinnerte ihn daran, wie er als Kind durch die Rur geschwommen war. Ein Name, der plötzlich in unglaubliche Ferne gerückt war.

Irgendwann tat sich über seinem Kopf ein Strudel aus Licht auf. Der pulsierende Ring schien ganze Geistesebenen umzustürzen, ohne einen einzigen Laut auszulösen. Die Stille war unwirklich, gespenstisch. Aigonn erkannte das Band seines Lebens, das durch ihn hindurch in das Außen führte, oder das Innen. In dem Moment aber, als er es fassen wollte, schlug ihm eine Stimme entgegen. „Finde Moribe! Finde Haelinon! Bring sie beide zu mir! Ich lasse dich nicht zurückkehren, wenn du es nicht tust!“

Die Gewalt, die diesen Worten innelag, schleuderte Aigonn zurück. Er taumelte durch die Leere, bis er irgendwann zum Stehen kam und von weitem nur noch das Licht des Strudels aufblitzen sah. Finden. Er sollte jemanden finden? Seine Mutter, ihre Seele?

Dort war sie wieder, die Verzweiflung. Sie verlieh dieser fremden Welt etwas schrecklich Vertrautes, während Aigonn sich nach allen Seiten umsah, irgendeinen Anhaltspunkt dafür suchte, dass es hier überhaupt etwas gab außer dem Licht. Er würde nie wieder zurückkehren können. Tot, aber doch nicht tot. Unzugehörig, egal, wo er sich befand. Eine ferne Erinnerung hielt ihm die Erzählung über Menschen vor Augen, deren Geister zwischen den Welten verloren gingen. Irgendwann starb der Körper. Man konnte versuchen, ihn am Leben zu erhalten, doch nicht für ewig. Die Andere Welt raubte einem Menschen die Erinnerungen an sein früheres Leben, manche nur, nie alle, doch oft genügte es, damit derjenige, der seinen Körper verlassen hatte, den Weg nicht zurückfand.

Verloren. Bis das Ende dieser Welt kommen würde, damit sie wiedergeboren werden konnten.

Auf einmal war eine Regung im Nichts auszumachen. Aigonn wirbelte herum, konnte erst nichts erkennen, bis er die Konturen einer Gestalt zu fassen bekam, eine Silhouette, vielleicht noch weniger. Jedoch spürte er ihre Aufmerksamkeit voll auf sich gerichtet – für einen Herzschlag. Dann verblasste sie wieder, doch dort, wohin sie ihre unsichtbaren Schritte setzte, erschien plötzlich aus der Leere ein unregelmäßiger Streifen Gras.

Aigonns Gedanken überschlugen sich. So schnell er konnte, folgte er der Silhouette, fand das Gras, das sich wie eine Spur hinter ihr herzog und erschauerte unwillkürlich, als er den Fuß darauf setzte. Dies war eine Erinnerung. Die Erinnerung, die eine Seele behalten hatte, bevor sie den Weg in die Andere Welt gefunden hatte.

Sie reagierte nicht, als Aigonn ihr folgte. Auf einmal aber, als er den Blick in die Höhe hob, sah er andere Gestalten, viele mehr, jede von einer Spur eigener Erinnerungen umgeben. Aigonn schwankte zwischen Schreck und Faszination. Er konnte spüren, dass dies nicht die Heimat der Naturgeister war, die den Menschen nur an den höchsten Feiertagen erschienen, wenn die Grenze zwischen den Welten dünn war. Dies war die Welt der Toten, ihre allein. Alles schien ein Schatten der Menschenwelt zu sein, vertraut, aber doch weit entfernt.

Er konnte nicht sagen, wie lange er lief. Irgendwann tauchte unabhängig von den Seelen ein Hintergrund auf, eine Welt, Bäume, Wälder, Flüsse, der Erde ähnlich, doch auf eine gewisse Weise so anders, dass es Aigonn unheimlich wurde. Die Erinnerungen der Toten hinterließen vertraute, unzugehörige Flecken in diesem Bild. Je länger er weiterlief, desto mehr konnte er einen strahlenden Himmel ausmachen, nicht blau, nicht gelb, nicht weiß, von keiner Wolke verdeckt, sondern nur von einem überirdischen Glühen durchzogen, das älter war als die Zeit. Er konnte es spüren, ohne es zu wissen. Dies war die Dimension, die vor ihrer eigenen bestanden hatte, jedoch mit der Welt der Menschen unwiderruflich verbunden war. Würde die eine untergehen, würde die Andere folgen, das hatten die Schamanen sie schon als Kinder gelehrt.

Die fremdartige Schönheit raubte Aigonn den Atem. Sein Geist war nicht in der Lage, die vielen unterschiedlichen Sinneseindrücke zu verarbeiten. Wollte er diese Welt wirklich verlassen? Wollte er fort von hier? Zu gern hätte er sich einfach niedergelassen, die Welt der Menschen vergessen. Was machte es, dass ein Fremder ihm den Ausgang versperrte? Vielleicht sollte er sich einfach hinsetzen und warten, bis sein Körper starb?

Dieser Gedanke wurde plötzlich zur gewaltigen Verlockung. Den Tod erwarten. Ja, warum sollte er zurückkehren? Was gab es dort zu finden? Sein altes Leben erschien ihm plötzlich ungeheuer weit entfernt, schattenhaft – auch wenn er alle Erinnerungen mit sich genommen hatte. Würde er sie mit in sein nächstes Leben nehmen? Es war ein faszinierender Gedanke, er entglitt ihm jedoch, als er die unbeschreibliche Ruhe spürte, die dieser Welt anhaftete. Er hatte sich nur ins Gras sinken lassen, die Arme nach hinten abgestützt. Und in diesem Moment überfiel ihn eine Müdigkeit, als müsste er so lange schlafen, bis die Wunden seines alten Lebens verheilt waren.

Schlafen … Seine Augen flackerten. Er ließ sich nach hinten sinken, tiefer ins Gras, die Lider geschlossen. Der letzte Funke Licht drang an seinen Geist.

„Aigonn!“ Die erstaunte Stimme ließ ihn auffahren. Erinnerungen hallten nach, schrien auf, eine unaussprechliche Hoffnung entflammte und entzündete ein Gefühl ohne Namen, als er die Augen aufschlug.

„Mutter.“ Er wollte seinem Blick nicht trauen, nicht glauben, was er sah. Langsam stand er auf, so vorsichtig, als könnte sie mit jeder Bewegung wieder verschwinden. Doch sie blieb, einen Ausdruck zwischen Fassungslosigkeit, Freude und Entsetzen in ihrem Gesicht, das so klar und schön war, wie er es nur aus seinen Erinnerungen kannte. Dies war sie, die Frau, die ihn geboren hatte; die, die sie gewesen war, bevor die Schatten sie zu sich geholt und ihren Geist abgeschirmt hatten. Seine Mutter. Tränen stiegen Aigonn in die Augen. Er fühlte sich wieder wie ein Kind, wie ein Fünfjähriger. Ohne nachzudenken fiel er ihr in die Arme, umschlang sie, sog ihren Duft ein, um ihn nie wieder missen, nie wieder vergessen zu müssen.

„Mutter, du hast mich gefunden …“ Er konnte die Tränen nicht halten. Die Außenwelt verlor ihre Bedeutung. Aigonn bemerkte kaum, wie sie ihn mit zärtlicher Gewalt von sich schob und halb erschrocken, halb freudig sagte: „Aigonn, was tust du hier? Was hast du getan? Du bist noch am Leben!“

„Nicht mehr lange, es ist egal. Ich bleibe, ich gehe nicht zurück!“

„Aigonn!“ Ihre Hände hielten seine Oberarme umschlungen und schüttelten ihn sanft, jedoch mit einem Nachdruck, der einen faden Geschmack in seinem Mund aufkommen ließ.

Ihre Augen duldeten keine Ausflüchte, als sie ihre Frage wiederholte: „Aigonn, was – hast – du – getan? Dass du hier bist, bricht ein uraltes Gesetz der Götter, der Welt, des Seins. Du hättest das Tor gar nicht durchschreiten können dürfen. Was ist geschehen?“

Die Wirklichkeit, weit entfernt in der Welt der Menschen, holte ihn ein. „Ich bin gezwungen worden. Ein Fremder hat mich betäubt, ich weiß nicht womit, aber er konnte meinen Geist ohne Gegenwehr dazu bringen, das Tor zu durchqueren. Doch das ist jetzt egal! Ich brauche nicht zurück, erst recht nicht, wenn er mich zwingen will, hier jemanden zu finden, bevor er mich heimkehren lässt!“

„Was sagst du? Wen sollst du finden?“

„Dich. Und Haelinon.“ Haelinon …, Haelinon, der Name klang nach, wieder und wieder in seinem Kopf. Aigonn war sich bewusst, dass er wusste, um wen es sich handelte. Doch die Erinnerung war zu weit entfernt, um sie zu greifen. „Ich soll euch beide zu diesem Fremden bringen, warum auch immer.“

„Oh Götter!“ Moribe schlug sich eine Hand vor den Mund. „Ich hätte niemals geglaubt, dass er bei dir wagen würde, was er schon Derona angetan hat! Sie hat ihm furchtbare Rache geschworen!“

„Derona!“ Aigonn horchte auf. „Wo ist sie? Ist sie hier in der Nähe?“

Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein. Sie war nie lange hier. Kurz nach ihrem Tod ist sie in die Welt der Menschen zurückgekehrt. Sie war immer an unserer Seite, an meiner, deiner. Immer nahe. Ich weiß nicht, ob du es gespürt hast. Ich habe es. Sie wollte Gerechtigkeit, wie sie es nannte. Ich nenne es Rache. Rache, die ich ihr nicht geben konnte. Ich glaube fast, der Zorn, der sie geleitet hat, hat sich irgendwann ihrer Kontrolle entzogen. Es tut mir so leid, Aigonn! So unendlich leid! Du musst mir glauben, dass ich euch niemals im Stich lassen wollte. Ein menschlicher Körper und die Zustandsform seines Geistes sind schwächer als man glaubt – zumindest bei jemandem wie mir. Ich hätte dich beschützen müssen, erst recht jetzt. Du musst zurück!“

„Nein.“ Nun schüttelte er den Kopf, energischer als Moribe zuvor. „Nein, ich gehe nicht zurück. Ich bleibe bei dir! Die anderen brauchen mich nicht; sie werden ohne mich zurechtkommen.“

„Aber die Frau, Anation …“

„Sie ist stark. Sie braucht meine Hilfe nicht.“

„Sie ist auch wegen dir zurückgekommen!“

Diese Worte ließen Aigonn innehalten. In seinem Kopf arbeitete es. Ein Drängen, vielleicht seine Vernunft, begann seiner Mutter Recht zu geben. Sein Willen aber sträubte sich dagegen mit aller Kraft. Du brauchst nicht zurück, bleib einfach hier, warte, bis dein Körper gestorben ist. Dann ist es für eine Rückkehr zu spät!

„Vergiss, was in der Welt der Menschen geschieht, Mutter! Es ist egal. Wir sind hier, werden irgendwann zurückkehren. Ihre Kämpfe sind nicht mehr unsere!“

„Täusche dich nicht darin!“

Unwillkürlich fuhr Aigonn herum. Die Stimme ließ ihn erschauern, mehr noch. Sie hatte nichts Menschliches an sich, nichts, das er von den Geistern kannte. Sie war etwas Größeres, Älteres, das ihn ohne zu denken auf die Knie sinken ließ. Noch bevor er begriff, was soeben geschah, riss vor ihm die Erde auf. Gleißendes Licht flutete die Welt, brach wie Nebelschwaden aus dem Boden. Aigonn konnte nicht atmen, er brauchte es nicht. Die Macht, die auf ihn einströmte, machte unnötig, was seinen menschlichen Körper am Leben erhalten hatte. Tränen rannen ihm aus den Augen. Es war kaum zu ertragen, er konnte nicht hinsehen. Die Luft vibrierte. In dem Moment, als Aigonn glaubte, in dieser ursprünglichen, uralten Macht zu zerfließen, bäumte das Licht sich auf, bündelte sich, bis es Gestalt annahm. Eine Gestalt, die seine Gedanken zum Stocken brachte.


„Das ist es.“ Anations Stimme war nur noch ein Flüstern. Rowilan hätte beinahe geglaubt, die junge Frau wäre auf seinem Arm eingeschlafen, doch als sie sich in diesem Moment aufrichtete, schien sie wacher, als ihr Körper es zulassen wollte. Das konnte der Schamane spüren. Die Schatten der Nacht hatten sich über den Wald gesenkt. Samtene Schwärze verschluckte alle Konturen, ließ nur an wenigen Stellen undeutliche Silhouetten zurück, sodass es Rowilan schien, als hätte Anation ihn auch zu irgendeinem unbestimmten Baum führen können. Erkennen konnte er ohnehin nichts. Es war Neumond. Wie blind musste der Schamane sich vortasten, bis er in der Dunkelheit eine Felsformation ausmachen konnte, die sich finster von den nachtschwarzen Schatten abhob.

„Wo sind wir?“, fragte er. Anation glitt vorsichtig aus seinen Armen, schwankte kurz, dann antwortete sie: „Ich weiß es nicht genau. Es liegt ein Hauch über diesem Ort, der an eine Grabstätte erinnert, lauter zurückgelassene Erinnerungen aus alten Generationen. Ich bräuchte Aigonns Hilfe, um dir Näheres sagen zu können.“

Aigonns Name brachte die Anspannung zurück, die Rowilan für einen kurzen Moment hatte verdrängen können. „Hat sich etwas getan, verändert?“

„Nein. Der, der ihn kontrolliert, wartet. Aigonn hat das Tor durchquert.“ Mit diesen letzten Worten stockte ihm der Atem. Ein Tor zur Anderen Welt! Aigonn war gezwungen worden, eines der ältesten Gesetze ihrer Welt zu brechen. In Gedanken hatte er gehofft, Aigonn hätte es vielleicht gar nicht durchqueren können. Doch geahnt hatte er die Wahrheit auf eine Weise – und sie verriet ihm die Dringlichkeit, so schnell wie möglich etwas zu unternehmen.

„Was ist nun?“, sagte er dann. „Gibt es einen Eingang?“

„Warte!“

Unsicheren Schrittes ging Anation vor, suchte sich einen Weg zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, bis ihre Hände kalten Fels ertasten konnten. Ihre Gedanken überschlugen sich. Die Stimme in ihrem Innersten brüllte, schrie ihr einen Weg zu, dessen Bruchteile sie jedoch nicht schnell genug erfassen konnte.

Das dünne Band, das Aigonns Seele mit seinem Körper verbunden hielt, spürte sie so deutlich wie ihren eigenen Herzschlag. Es flackerte wie ein dünner Lichtstrahl durch die Materie, den Fels, einer Fackel gleich, der sie folgen konnte. Hätten ihre Sinne wieder volle Stärke erreicht, würde sie augenblicklich ihre eigene Seele vom Körper lösen, Aigonn folgen, Fels und Gestein zurücklassen und diesen Unbekannten außer Gefecht setzen. Im Stande dazu war sie, das wusste sie. Es war eine der wenigen Gewissheiten, die ihr aus dem letzten Leben geblieben waren, doch die Betäubung der Drogen lähmte ihren Geist zu schwer, machten sie unfähig, die nötige Zielstrebigkeit zu erreichen, um sich nicht selbst zu verlieren.

Vor diesem Hintergrund blieb ihr keine andere Wahl. Vorsichtig tastete sie sich die Steinwand entlang. Mit jedem Moment, da sie Aigonns pulsierenden Herzschlag durch seinen Lebensfaden spüren konnte, den Rhythmus, der sich immer weiter verlangsamte, an Kraft verlor, loderte Panik in ihr auf. Ihre Konzentration ließ nach. Sie hätte am liebsten den gesamten Felsen in Stücke gehauen, bis sie auf einmal in der Dunkelheit einen winzigen Lichtfunken ausmachen konnte.

Licht. Irgendwo brannte ein Feuer. Anation ging in die Knie, verlor dabei beinahe das Gleichgewicht, doch dieser Umstand wurde zur Nebensache, als sie durch einen dünnen Felsspalt den Schein eines Lagerfeuers schimmern sah.

„Rowilan!“, zischte sie. Ihre Finger tasteten sich vor. Feuchte, aufgeriebene Erde offenbarte Schleifspuren, die nur von einem größeren Körper herrühren konnten. Sie machte sich nicht die Mühe, nach möglichen Tierhaaren zu suchen, die auf Jagdbeute hingedeutet hätten. Anation wusste mit Sicherheit, was dort unten geschah, und es brannte in ihr, sich endlich hinabzustürzen und dem ein Ende zu bereiten! Doch eine solche Reaktion konnte alles gefährden. Die junge Frau wartete also, bis der Schamane an ihre Seite gehetzt war, beugte sich ein wenig tiefer, um den Durchgang hinter dem Spalt ausmachen zu können, der schmal und kegelförmig in den Boden hinein verlief. Der Stein und die dazugehörige Höhle mussten tief unter der Erde entstanden sein. Ein heiliger Ort seit Generationen. Anation konnte es spüren. Der Geruch nach feuchtem Basalt versprach rutschigen Untergrund. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, um Halt zu suchen.

Plötzlich wurde Anation schwarz vor Augen. Erinnerungen schlugen mit einer solchen Wucht auf sie ein, dass Schwindel sie zu Boden streckte. Rowilans erschrockenes Zischen verlor sich in einem Bilderrausch, der kaum zu ertragen, geschweige denn zu erfassen war. Szenen, Schamanen, Kinder, ein alternder Mann an der Seite dreier junger Männer. Für Anation war es unmöglich, ihre Bedeutung zu ermitteln. Doch als ihr Geist sich in die Wirklichkeit rettete, blieb ein Gefühl zurück, das kalten Schrecken in ihr beschwor. Kein Schrecken vor einer Situation oder vor der Gefahr. Es war die Angst einer Gewissheit, die ihr in diesem Moment begreiflich wurde – untergründig. Auf einmal hing ein Name in der Luft. Mein Name.

„Ist alles in Ordnung?“ Rowilan starrte schockiert zu seiner Gefährtin hinab, die Hände auf ihre Schultern gelegt, als könnte der Boden sich mit jedem Moment auftun und sie ihm entreißen. Anation jedoch sah ihn kaum an, antwortete nicht. Ohne ein Wort ließ sie sich durch den Felsspalt gleiten, während ihre Augen sich an das Zwielicht der Flammen gewöhnten.

Wahrlich, es war eine Höhle. Bräunliches Gestein schimmerte feucht von allen Seiten. Menschenhände hatten vor Generationen, Jahrhunderten, mit einfachsten Werkzeugen schemenhafte Bilder in die Wände getrieben, die junge Frau aber hatte keinen Blick dafür.

Die Gewissheit hing über ihr wie ein Richtschwert. Erinnerungen sammelten sich unter der Decke, bildeten einen Lufthauch, der wie der Atem vergangener Tage den schmalen Gang entlangglitt. Ihre Erinnerungen. Anation begann zu rennen. Ohne Rowilan zu beachten, hetzte sie mit letzter Kraft um eine Biegung, geriet auf dem feuchten Boden ins Straucheln, bis sie in einer größeren Öffnung zum Stehen kam.

Eine niedrige Grotte hatte sich im Laufe der Jahre in den Fels gefressen. Das Feuer, das sie erhellte, war auf dicken Holzscheiten als Dämmung gegen die Nässe entfacht. Fußabdrücke zeichneten sich in den Dreck des Bodens. Rußflecken an der Decke verrieten, dass dieser Ort regelmäßig aufgesucht wurde. Man hatte an den Wänden Felle und Proviant gelagert, Schalen, Töpfchen. Anation aber nahm dies alles nicht wahr. Wie versteinert starrte sie auf die beiden Personen in der Mitte der Grotte: Aigonn, entrückt und kraftlos auf einer Lederdecke an einen Felsen gelehnt. Sein Anblick hätte sie schockieren müssen, mit Zorn erfüllen. Doch die Gestalt, die vor ihm auf dem Boden kniete, die Hände um sein Gesicht gelegt, machte alles vergessen, das sie hierher geführt hatte.

„Bei den Göttern!“ Rowilan erschien neben Anation im Durchgang. Er wechselte keinen Blick mit ihr, bevor seine Miene erstarrte, sich Sorge in Fassungslosigkeit verwandelte. Unvermittelt packte seine Hand den Fels, um Stütze zu suchen. Seine Knie wurden weich, als er in die Grotte hinaussah, neben Aigonn einen Mann erblickte, den er immer zu kennen geglaubt hatte – sogar noch viel mehr als das. Er glaubte es nicht, es konnte nicht wahr sein, durfte nicht … Hatte er sich so täuschen lassen können?

Der Schamane wirbelte herum und suchte Halt an der gegenüberliegenden Wand.

„Das kann nicht sein.“ Der Stein ließ sein Flüstern widerhallen. „ES DARF EINFACH NICHT WAHR SEIN!“

In diesem Moment erwachte Aehrel aus seiner Trance. Als wäre er neu geboren worden, schlug er die Augen auf, streckte sich, verhielt sich, als wäre er noch immer mit Aigonn allein, obwohl Rowilan spüren konnte, dass er ihre Anwesenheit längst wahrgenommen hatte.

„Schön, dass ihr gekommen seid!“ Aehrels Stimme verriet keinerlei Erstaunen. Entspannt wandte er sich dem Schamanen zu. Als Rowilan in seine fast belustigt glänzenden Augen blickte, brach der Panzer aus Schrecken, der ihn bislang zurückgehalten hatte. Sein Zorn brandete auf, entflammte, explodierte. Sich selbst nicht erkennend, überschlug sich seine Stimme, als er brüllte: „DU WAHNSINNIGER! WAS GLAUBST DU, WER DU BIST?“ Drohend schritt er in die Grotte hinaus. Aehrel erhob sich nur langsam und erwartete ihn gelassen. In dem Moment aber, als der Schamane sich auf ihn stürzen wollte, schoss blitzschnell eine Dolchklinge an Aigonns Kehle.

„Sei vorsichtig in dem, was du tust, alter Freund! Sein Leben hängt an weniger als unserem Willen!“

„GÖTTER! IHR GÖTTER, HELFT MIR!“ Rowilans Stimme bebte. „Was glaubst du eigentlich, was hier geschieht? Du wirst ihn umbringen! Ihn, … DERONA! DU HAST SIE IN DEN TOD GETRIEBEN!“ Er konnte sich kaum fassen, hatte die Kontrolle über seine Stimme verloren. „Die Götter werden furchtbare Rache an denen üben, die es wagen, ihre heiligen Gesetze zu verletzen! HOL IHN ZURÜCK!“

Aehrel lächelte kühl. „Nein. Er schuldet mir diesen Dienst, er noch mehr als alle anderen. Aigonn hat Moribe sterben lassen, einfach sterben lassen! ES WAR NOCH NICHT AN DER ZEIT!“

Rowilan glaubte, der angestaute Zorn würde seine Adern zum Bersten bringen. Mit aller Kraft erzwang er die Ruhe, die ihn noch stehen ließ, anstatt sich auf Aehrel zu stürzen. Er würde ihn töten, ohne Zweifel. Im Grunde war es egal, was er auszuhandeln versuchte. Aehrel würde Aigonn umbringen, sterben lassen. Wie konnte dieser Mann überhaupt einschätzen, was er tat?

Das Kneten seiner Fäuste war ein Versprechen. Sie hatten längst erfasst, was sein Kopf noch nicht glauben wollte. Warum Aehrel? Aehrel, der ihm immer zur Seite gestanden hatte! In seiner Stimme lagen diese Zweifel verborgen, als er kopfschüttelnd fragte: „Warum? Was soll das? Hol ihn zurück, er wird den Weg in unsere Welt nie mehr wiederfinden!“

„Er wird, wenn er stark genug ist. Das ist die Prüfung, in der sich jeder mit solchen Talenten eines Tages zu bewähren hat. Ich bin nicht schuld daran, dass ich es nicht an seiner statt tun kann.“

„Aber warum? Es hat doch keinen Sinn! Hol ihn zurück! AEHREL! HOL IHN ZURÜCK!“

Vernunft wurde gleichgültig. Rowilan stürzte nach vorn, bekam Aehrels Arm mit dem Dolch zu fassen. Dieser aber wandte sich blitzschnell zur Seite. Seine Hand entzog sich dem Griff des Schamanen, fuhr herum. Noch bevor Rowilan sich wegducken konnte, traf ihn ein Schlag in den Magen. Er geriet ins Taumeln. Ein weiterer Tritt ließ die Bilder flimmern, bevor seine Knie wegsackten. Sofort war Aehrel über ihm. Seine Hände drückten die Arme des Schamanen zu Boden; die Klinge des Dolches ruhte gefährlich nahe an seinem Hals. Er konnte kaum Luft holen, als er seinem einstmaligen Freund in die Augen sah; blaue Augen, die vor Zorn und Verbitterung zu verbrennen schienen.

Aehrels Gelassenheit war verpufft. Ein Speichelregen ging über Rowilan nieder, als der Krieger ihm ins Gesicht spuckte: „Warum, fragst du? Ausgerechnet du? Ich habe mich damit abgefunden, dass ihr und euer Dorf es als verträglich erachtet, von der eigenen Mutter verstoßen zu werden! Ihr habt eure Aufgabe erfüllt, mich aufgenommen, noch bevor du geboren wurdest! Doch ich werde mich nicht damit abfinden, dass diese Frau, diese verbissene, selbstverliebte Schamanin, in der Anderen Welt auf ihre Wiedergeburt wartet, noch bevor sie mir Rede und Antwort gestanden hat! DIESE ANTWORTEN IST SIE MIR SCHULDIG! Ihr wolltet mir ja nicht helfen, sie zu suchen, mit ihr zu sprechen! Glaubst du, ich lasse mich davon abhalten?“

„Du bist doch wahnsinnig!“ Rowilan flüsterte nur. Er starrte mit schreckensweiten Augen zu Aehrel hinauf. Ihre beiden Gesichter waren sich nahe genug, um den Atem des anderen zu spüren, der bei Aehrel nun stoßweise ging. Im Kopf des Schamanen schrie es auf. Er wollte nicht begreifen, was er soeben gehört hatte.

„Aigonn wird Haelinon für mich finden. Er wird ihren Geist suchen und sie zu mir bringen. Ich weiß, dass er es kann! Er ist mächtiger als alle anderen, die es bisher versucht haben!“

Anation beobachtete die Szene, als ob sie nicht Teil davon wäre. Vor ihren Augen drehte sich alles. Die Erinnerungsflut hatte zugenommen, war dabei, außer Kontrolle zu geraten. Darunter immer wieder ein Name, ihr Name … Aehrels Anblick hielt sie gefangen. Anation starrte auf den alternden Krieger, als könnte allein ihr Blick ihn beschwören. Gefühle strömten wie Lichtstrahlen auf sie ein. Sie konnte nicht sagen, was es bedeuten sollte. Uralte Erinnerungen drängten sich immer wieder vor ihre Augen, ein Säugling, mit blauen Augen. Ein Säugling, den sie nur einmal gesehen hatte …

Plötzlich gaben ihre Beine nach. Anation musste sich stützen, als die Erkenntnis alle Szenen vor ihrem Inneren Auge vereinte. Aus zusammenhangslosen Bildern wurde auf einmal eine Vergangenheit, die so klar war, dass es ihr in den Schläfen schmerzte. Es war eine Gewissheit, die sie geahnt, gespürt hatte, schon viel länger, als sie es wahrhaben wollte. Die Lösung war so unglaublich, unwahrscheinlich und ergab trotz allem einen Sinn, der sich ihr während Aehrels letzten Worten erschlossen hatte. Es war kaum zu begreifen, doch sie täuschte sich nicht. Das wusste sie von einem Moment auf den anderen mit solcher Sicherheit, dass es ihr Angst bereitete.

„Rowilan, verstehst du? Aigonn wird sie hierher holen, meine Mutter. Er wird sie finden; dazu ist er stark genug. Keiner vor ihm hat das Tor zur Anderen Welt durchqueren können. Er findet den Weg zurück!“ Aehrels Stimme klang beinahe flehend. Es war dem Schamanen unbegreiflich, als er dem Krieger in die Augen starrte und darin lesen konnte, dass er an jedes einzelne Wort glaubte, mit ganzer Seele.

„Sie hat mich betrogen, Haelinon. Sie schuldet mir diese Antworten, mehr als alle anderen. Diese Schuld muss getilgt werden und darum KOMMT SIE HIERHER!“

„Ich bin doch hier.“

Die Stimme ließ beide Männer erstarren. Binnen eines Herzschlages durchliefen unzählige Emotionen Aehrels Miene, verfinsterten sie schließlich, während er von Rowilan abließ und sich langsam aufsetzte.

„Was sagst du?“ Seine Worte waren eine Drohung. Voll Missgunst und Misstrauen blickte er zu Anation, die auf einmal sehr gefasst im Durchgang zur Grotte stand. Aehrel starrte sie an, als hätte er ihre Anwesenheit erst jetzt bemerkt. Rowilan nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurappeln. Unmittelbar schoss Aehrels Hand mit dem Dolch auf seinen Kopf zu, brachte ihn abrupt zum Stillstand, doch weiter kümmerte er sich nicht um den Schamanen.

Langsam stand Aehrel auf. Aus all seinen Bewegungen, seinen feindlich blitzenden Augen strahlte Gefahr, die Anation fast mit Händen fassen konnte. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, einfach hinter dem nächsten Felsvorsprung zu verschwinden, einen Stein zu fassen und diesen Wahnsinnigen niederzuschlagen. Doch für einen solchen Entschluss war es einen Herzschlag zu spät. Sie wusste es, sie wusste alles. Die Vergangenheit strömte auf sie ein, dass es sie zu übermannen drohte. Gleichzeitig aber entsann sie sich ihrer Gedanken, alten Erinnerungen, die manchmal nur noch schattenhaft, fast fremdartig in ihrem Kopf widerhallten. Was davon war noch sie? Sie, Anation, Haelinon …

Sie konnte nicht davonlaufen. Ihr Geist wurde sich ihrer ungeheuren Verantwortung bewusst; es war ihre Schuld, dass all dies hier geschah, ihre allein. Sie hatte dieses Kind vor so vielen Jahren in die Obhut einer Fremden gegeben. Er ist mein Sohn …

„Wer bist du?“

Wider Willen erschrak Anation, als ihr bewusst wurde, wie nah sie Aehrel hatte kommen lassen. Keine zwei Fuß weit stand er von ihr entfernt; ein Abstand, der mit einem Schlag seiner Faust überbrückt werden konnte. Ein angriffslustiges, doch gleichsam furchtsames Glänzen in seinen Augen wollte ihre Knie weich werden lassen. Doch berührte er sie nicht, wurde nicht handgreiflich. Anation konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie seine geballten Fäuste zuckten – er jedoch war unfähig dazu, diesen letzten Schritt zu tun, der offenkundige Zweifel an ihren Worten bedeutet hätte.

„Ich bin Haelinon.“ Die junge Frau bemühte sich um Ruhe. „Du hast mich gerufen und die Götter haben mir die Möglichkeit gegeben, dich zu erhören.“

„Wage es nicht, elende Lügnerin!“ Aehrels Stimme ließ Anation unwillkürlich ein Stück zurückweichen. „Ich kenne euch Schamanen, Geisterbeschwörer, Zauberer. Versuch nicht, mich zu täuschen!“

Auf einmal reagierte die junge Frau, ohne nachzudenken. Schneller, als Aehrel ausweichen konnte, fasste ihre Hand die seine. Wie ein Lichtstrom begannen Erinnerungen aus ihr herauszuströmen. Es waren Bilder, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie sie kannte, die lange verborgen gewesen waren, irgendwo tief in ihrem Kopf.

Anation sah sich selbst vor Schmerzen gekrümmt auf einem Strohlager liegen. Sie war alt, älter als Aehrel heute. Kalter Schweiß rann ihre Stirn hinab, während sie mit letzter Kraft die Wehen aus sich herausschrie, die ihr erstes Kind zur Welt bringen sollten. Ihr erstes Kind, mit über vierzig Jahren.

Nur ein kurzer Moment, das Aufbäumen, die letzte Wehe. Dann ein kleiner, schleimbeschmierter Kopf, ein Körper, der von einer Amme aus ihrem Unterleib gezogen wurde. Die Gefühle drohten, Anation zu übermannen. Sie hatte die Hand ausgestreckt, den winzigen Leib berührt. Es hatte wie ein Griff ins Feuer gebrannt, nur ohne Schmerz. Für einen schreckerfüllten Moment gab es nur die Angst, das schweigende Kind mit den geschlossenen Augen würde sterben, ein kleiner Junge, er wollte nicht atmen, wollte nicht schreien.

Doch dann fühlte sie sie, die Flamme seines Lebens, die in dem Moment der Berührung neu aufflackerte. Ein Schrei durchdrang den Raum, ihren Kopf, ihrer beider Geist, eine Erinnerung, die nun ihnen beiden gehörte.

Aehrel taumelte, als er sich losriss. Seine Augen waren geweitet vor Schreck, Erkennen, Betäubung, es war nicht zu sagen, während er rückwärts stolperte, bis er die stützende Wand zu fassen bekam. Er spürte den Nachklang von Anations Gedanken nicht mehr: Der Moment, in dem sie diesen winzigen Körper leben gespürt hatte, hatte sie einen Herzschlag lang mit schmerzhafter Freude erfüllt. Die Erleichterung, dass er am Leben war, gesund, obwohl sie längst nicht mehr fruchtbar gewesen sein sollte, war so unbeschreiblich, dass es wie ein Frevel schien, als ein Gedanke sie trübte. Es war die Frage, die Entscheidung, vor der sich Haelinon neun Monate lang gefürchtet hatte. Warum kam dieses Kind so spät, so spät in ihrem Leben?

Zu spät.

Aehrel wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Lippen formten unausgesprochene Worte, die seine Zunge nicht fassen konnte. Der Blick seiner Augen schien Anation direkt in die alte Seele zu sehen, als wollte er sich noch einmal dem versichern, was er längst wusste. Haelinon. Anation konnte nicht beschreiben, was sie fühlte, fühlen musste. Dieser Mann, der älter war als ihr Körper, war ihr eigener Sohn, den sie vor fast vierzig Jahren einer Familie anvertraut hatte, die sie kurz davor kaum gekannt hatte. Aehrel brachte kein Wort heraus. Der Moment hatte ihn in seiner Gewalt, überrumpelt und überrannt, obwohl er sie schon so lange gesucht hatte.

Die Zeit schien stehen geblieben, bis endlich ein Laut seinem Mund entkam und er mit dieser Frage zu dem jungen Erwachsenen wurde, dem man die Wahrheit seiner Herkunft offenbart hatte.

„Warum hast du es getan?“

Warum wolltest du mich nicht, warum hast du die Schwangerschaft verheimlicht und mich fortgegeben, obwohl du alt genug wurdest, um mich aufwachsen zu sehen? Warum konntest du mir nicht die Liebe geben, wegen der dich die Menschen gerühmt haben? Du seist eine verantwortungs- und liebevolle Person gewesen, haben alle erzählt. Warum nicht mir gegenüber? War meine Existenz allein der Fehler, den es wettzumachen galt?

Jedes einzelne Wort brannte Anation – Haelinon – im Mund. Sie spürte plötzlich die Schuld, die sie Zeit ihres früheren Lebens mit den Ausflüchten verdrängt hatte, ihr einziges Kind kurz nach der Geburt an eine fürsorgliche, liebende junge Mutter gegeben zu haben, die schon einen Sohn geboren hatte und sich in Zukunft noch eine Tochter wünschte. Immer hatte sie gewusst, dass sie nicht ewig davor weglaufen konnte. Nun war der Zeitpunkt gekommen, in dem sie sich zu bewähren hatte.

„Ich habe mir immer gewünscht, eines Tages Mutter zu sein. Mein ganzes Leben lang. Die Götter allein wissen, warum es nie dazu gekommen ist, obwohl ich darauf gewartet hatte. Doch als es schließlich geschah, bereitete ich mich bereits auf den Weg in die Andere Welt vor.“

Aehrel lauschte mit aufgerissenen Augen. Die Emotionen funkelten in seinem Blick wie das Wetterleuchten. Haelinon fürchtete sich vor ihm, seiner Reaktion, dem Urteil über sie, dem sie sich immer zu entziehen versucht hatte und das nun doch gefällt werden würde.

„Ich war alt, Aehrel. Älter als du heute. Als ich damals spürte, dass ich ein Kind empfangen würde, war ich verzweifelt, allein weil es unklar war, ob ich dich lebend zur Welt würde bringen können. Ich hatte mich geistig auf den Gedanken eingestellt, bald die Lebenden zu verlassen, doch ich wollte kein Kind mit mir nehmen. Es war zu spät, viel zu spät für mich. Um meine Gesundheit stand es nicht gut. Kein Jahr nach deiner Geburt blieben meine Blutungen aus und kamen nie wieder. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass ich alt genug werden würde, um Nachricht von deiner Kriegerweihe zu erhalten?“

Aehrel sagte nichts. Seine Lippen waren verschlossen, alle Gedanken, Fragen und Anschuldigungen verschwunden, die in diesem Moment aus ihm hätten herausbrechen sollen. Haelinon sah das Glitzern in seinen Augen. Er war das Kind, das man verraten hatte, das glücklich in dem Glauben gewesen war, seine Familie zu haben, bis man ihm die Wahrheit gesagt hatte – als er weder Kind noch Erwachsener gewesen war.

Haelinon zitterte am ganzen Leib, als sie den Arm ausstreckte, die Hand geöffnet, um seine zu fassen, Aehrel das zu bieten, nach dem er seit zwanzig Jahren suchte. Flimmernde Hoffnung keimte in seinen Augen auf. Er löste sich von der Wand, kam näher, drei Schritte. Doch in dem Moment, da Haelinon glaubte, er würde ihre Hand ergreifen, stieß er sie mit beiden Händen von sich, sodass sie ins Stolpern geriet, blickte einen Atemzug lang auf sie hinab, bevor er hinter dem Durchgang zur Grotte verschwand und flüchtete.

Der Augenblick hatte die Zeit angehalten. Haelinon stand wie erstarrt, auf einen Felsvorsprung gestützt, um nicht zu Boden zu sinken. Die Kraft, den Schritt zu tun, vor dem sie sich fast ein halbes Leben lang gefürchtet hatte, sackte in sich zusammen. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie glaubte bereits, ohnmächtig zu werden, als sie am Rand ihres Sichtfeldes eine Bewegung wahrnahm.

Die Wendung der Ereignisse hatte Rowilan nicht weniger erschreckt als alle anderen Beteiligten. Fassungslos hatte er Haelinons Worten lauschen müssen, bis er sich wieder entsonnen hatte, dass es eine Seele zu retten gab: Aigonn, der entrückt neben ihm halb an der Wand lehnte, halb auf dem Boden lag. Der Schamane hatte seine eisigen Hände gefasst, versucht, das Band seiner Seele zu fassen, bis er diese gefunden hatte. Doch es war zwecklos gewesen. Als er sich endlich Haelinons Aufmerksamkeit bewusst war, gewann er seine Sprache wieder, um zu sagen: „Ich kann ihn nicht erreichen! Die Tore zur Anderen Welt sind für mich verschlossen, ich kann sie nicht durchdringen. Wenn noch mehr Zeit vergeht, wird er verloren sein!“

Für einen kurzen Augenblick hingen unzählige unausgesprochene Fragen zwischen den beiden Gefährten. Doch die Dringlichkeit des Moments vertagte sie.

Zitternd löste die junge Frau sich von der Wand. Die Geschehnisse hatten sie übermannt, wollten sie niederreißen, doch auf einmal blitzte in dem Bildersturm der Vergangenheit eine viel jüngere Erinnerung auf. Sie schien einer fremden Person zu gehören, jemandem, den Haelinon nicht kannte. Je länger sie das Geräusch jedoch nachhallen ließ, den Aufschrei von Aigonns Seele, die man zwang, sich der Grenze zwischen den Welten zu nähern, desto mehr verschwand die Tochter des Moorsängers und ließ die junge Frau zu der werden, die Aigonn aus ihr gemacht hatte. Anation.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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