Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 32

Wiedergeboren

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Braungraue, zuckende Farben. Zerplatzende Wassertropfen, laut wie Hornklänge, mischten sich mit dem Knistern brennenden Holzes. Irgendwo ein Rascheln. Alle Laute verklangen mit solchem Donnerhall, dass es in den Ohren schmerzte, doch auf eine gewisse Weise schienen sie unendlich weit entfernt, wie von einer unsichtbaren Wand abgehalten.

Aigonn klammerte sich an diesen Funken Wirklichkeit. Was immer seine Augen sahen, die sich flackernd öffneten und schlossen, es war von einem weißen Schleier überzogen, der die Realität immer weiter von ihm entfernte. Gestalten blitzten durch das unwirkliche Zwielicht. Gesichter wie Erinnerungen erschienen, tauschten ihren Platz mit Wesen, die niemals menschlich waren, es niemals sein würden. Aigonns Sinne konnten ihr Äußeres kaum erfassen; er hatte keine Worte dafür, nur unterschwellige Empfindungen, die Panik in ihm aufkommen ließen. Er wollte weg von diesem Ort, wo auch immer er war. Mit aller Kraft versuchte er sich zu der Wirklichkeit durchzukämpfen, die zuckend immer wieder durch den Nebel brach. Seine Kraft aber war verschwunden.

Er war gelähmt, sein Körper, sein Geist. Angst, die seiner Panik begegnete, wurde fast unerträglich. Sie schien ihn zu zerreißen, während sein Kopf nur noch einen Gedanken kannte. Anation! Anation … Sie würden sie umbringen, opfern, das Ritual war schon begonnen worden. Was war geschehen? Er hatte ihr nicht helfen können, irgendjemand hatte ihn entdeckt, niedergeschlagen. ER HATTE ANATION NICHT RETTEN KÖNNEN!

„Aigonn …, warte nicht auf uns …, bleib, hab keine Angst …, Aigonn!“

Er konnte nicht sagen, wie viele Stimmen zu ihm sprachen. Sie verhallten in seinem Kopf. Seine Schädeldecke warf ihr Echo zurück, ließ sie wieder und wieder erschallen. Aigonn wollte, dass sie aufhörten. Sie trieben ihn in den Wahnsinn. Sein Mund öffnete sich, um zu schreien, doch was er hervorbrachte, war ein Laut, der selbst durch diese unwirkliche Welt armselig in seinen Ohren erklang.

„Aigonn!“

Sein ganzer Geist horchte auf. Mit Gewalt lenkte er alle Gedanken von den unkontrollierbaren Stimmen und Sinneseindrücken ab, die ihn umgaben. Die Wirklichkeit! Die Wirklichkeit rief nach ihm!

„Keine Sorge, Aigonn! Was du im Moment siehst, schadet dir nicht. Dir wird nichts geschehen.“

Wärme. Körperwärme. Eine Hand berührte beruhigend seinen Körper. Es dauerte einen Moment, bis Aigonn die Stelle als seine Schulter identifizieren konnte, erblickte jedoch niemanden, zu dem die Hand gehörte.

Unerwartete Wut flammte in ihm auf. Er konnte sich entsinnen, dass ihm jemand, kurz nachdem er aus seiner Ohnmacht erwacht war, einen Becher an die Lippen gesetzt hatte. Was immer sein Inhalt gewesen war, die Wirkung hatte binnen kürzester Zeit eingesetzt. Das letzte Wimmern seiner Vernunft hatte erkannt, dass dieser Trank – aus was immer er bestand – den sonderbaren Zustand hervorgerufen hatte, in dem sein Geist sich nun befand. Und in Aigonn war darüber ungekannter Zorn entbrannt. Jemand hatte ihn abgehalten, Anation zu retten! Anation war tot, sicherlich schon. Obgleich er kein Zeitgefühl mehr hatte, schätzte Aigonn, dass eine geraume Zeit vergangen sein musste. Er befand sich nicht mehr im Wald, das glaubte er zumindest. Was sollte das alles?

„Keine Sorge, Aigonn. Wenn du mir hilfst, wird es bald vorbei sein!“

Helfen! Die Wut drohte ihn zu zerreißen. Was hatte dieser jemand mit ihm getan? Sein ganzer Körper lechzte danach, aufzuspringen, um sich zu schlagen. In seinem Kopf war keinerlei Kontrolle mehr vorhanden, während er unkoordinierte Signale an einzelne Körperteile sandte.

Doch es geschah nichts. Nichts. Wut wurde zu Verzweiflung. Aigonns Körper gehorchte seinem Willen nicht mehr. Hilflos erwartete er, wie man ihm ein weiteres Mal ein Gefäß an die Lippen setzte, eine Hand seinen Mund aufdrückte und er gegen seinen Willen zu schlucken begann.


Rowilan glaubte, seine Lunge würde bersten. Er betete zu allen Göttern, die er kannte, dass sein Pferd immer noch weiter traben – wenigstens traben – konnte. Zum Galoppieren genügte seine Kraft längst nicht mehr. Mit jedem weiteren Sprung über Baumstämme und kleinere Hindernisse glaubte er, dass es unter ihm zusammenbrechen würde. Doch gegen seine Befürchtungen rannte es weiter, als wüsste es, welche Bedeutung diese Tatsache für seinen Reiter hatte.

Bäume und Dickicht zogen in Schlieren an ihm vorbei. Entgegen jeglicher Vernunft hatte der Schamane den kürzesten, aber offensichtlichsten Weg zum Roten Moor gewählt, den er kannte. Schnittpunkte mehrerer, reich befahrener Handelsrouten hatte er bereits passiert. Der Wald war an vielen Stellen licht. Mit jeder neuen Abzweigung hatte er darauf gewartet, dass ihm Abgesandte der Eichenleute begegnen würden, so nah, wie er ihrem Gebiet schon gekommen war. Doch immerhin war er nicht allein.

Es hatte Überzeugungskraft gekostet. Wiewohl er nicht von sich behaupten konnte, dass er diese Person, Anation, um wen auch immer es sich handelte, besonders mögen gelernt hatte. Dazu hatte es keinerlei Gelegenheit gegeben. Doch allein die Tatsache, mit welcher Gewalt Aigonn danach strebte, ihr Leben zu retten, war ihm selbst Grund genug gewesen, sich noch einmal an die Krieger der Siedlung zu wenden. Der plötzliche Zorn, den die Resignation und Gleichgültigkeit der Männer in ihm ausgelöst hatte, hatte Rowilan selbst überrascht. Sein Wort allein aber hatte letztendlich genügt, wenigstens sieben von ihnen zu bewegen, ihre Pferde zu satteln und ihm mit allen Waffen, die sie tragen konnten, in den Wald zu folgen.

Das Warten war ihm schließlich sinnlos erschienen. Aehrel war nicht gekommen. Es war Rowilan schleierhaft, was sein langjähriger Freund so gänzlich ohne Vorwarnung aus der Siedlung getrieben hatte, doch was immer es sein mochte, es war belanglos geworden.

Die Zeit hatte gedrängt. Den ganzen Weg über hatte der Schamane nicht mehr daran geglaubt, dass sie rechtzeitig kommen würden, um irgendetwas zu verhindern. Doch die Tatsache allein, dass es gerade dämmerte und sie sich in unmittelbarer Nähe des Roten Moores befanden, hatte seine Gedanken beflügelt. Der Gesang des Rituals war wie ein Raunen schon von weitem im Wald zu hören gewesen. Die fremdartigen, schwer verständlichen Worte, die dem Schamanen selbst beinahe vertrauter waren als seine Muttersprache, hatten Rowilans Nackenhaare aufstellen lassen. Je näher er dem Moor kam, desto mehr hatte ihn das Singen beruhigt – so grotesk es klingen mochte. Er hatte bei den Eichenleuten die geheimen Lehren seines Standes erlernt. Der Gesang verriet ihm, dass es noch nicht zu spät war, Anation lebte noch. Jedoch vermutlich nicht mehr für lange Zeit.

Als der Wald lichter zu werden begann, verringerte Rowilan das Tempo. Die Pferde schnauften Mitleid erregend, während sie in schleppendem Schritt vorwärtsgingen, sehr langsam. Es dauerte nicht lange, bis die Reiter die ersten Menschen der Prozession ausmachen konnten, die sich auf und hinter einem Bohlenweg versammelt hatten, der ins Moor hineinführte.

Der Schamane bemerkte mit Missfallen, dass immer wieder von allen Seiten neue Schaulustige dazukamen. Mit jedem Mann mehr würde es schwieriger werden, diesen Ort lebendig zu verlassen – falls man sie nicht schon vorher entdeckte. Trotz der Erschöpfung durch den langen Ritt spürte Rowilans Reittier dessen Unruhe. Obgleich es versuchte, seine Reserven an der reichen Krautschicht des Waldes zu erneuern, blickte es immer wieder verunsichert auf, spitzte die Ohren und beobachtete die Menschenansammlung, die sich um den Rand des Moores scharrte.

Rowilan musste hart schlucken, als er Anation erblickte. Es war Teil des Rituals, das Opfer zwar nur für kurze Zeit, aber heftig zu betäuben, um die Seele rein und unbeschadet in die Andere Welt zu geleiten. Diese Tatsache war sein einziger Trost, während er den höchsten Schamanen der Eichenleute dabei beobachtete, wie er der jungen Frau mit rotem Ocker die heiligen Zeichen auf Kopf und Schultern malte. Mit der Spitze eines Dolches ritzte er danach ihre Konturen hauchdünn in Anations Haut. Es waren winzige Wunden, die ohne eine Narbe verheilen würden, wenn sie das Prozedere überleben würde. Doch diese Möglichkeit war nicht vorgesehen.

Die Zeichen würden ihre Seele reinigen, würden alle bösen Kräfte abwenden und unschädlich machen, mit denen man hätte versuchen können, ihren Geist zu missbrauchen. Das Ritual sollte Erlösung bringen. Rowilan selbst hatte es nur ein einziges Mal begangen, an der Seite seines Lehrmeisters. Einen solch wahnsinnigen Mörder hätte niemand auf einer Totenaue begraben.

„Rowilan!“ Die flüsternde Stimme seines Hintermannes holte den Schamanen aus seinen Gedanken. „Rowilan, was tun wir?“

Diese Frage hatte er gefürchtet – allein deshalb, weil er darauf keine Antwort wusste. Die Rüge, die er Aigonn auf Grund seines überstürzten Aufbruchs erteilt hatte, hallte zynisch in seinem Kopf nach. Mit so vielen Menschen hatte er nicht gerechnet. Jeder Herzschlag machte deutlicher, dass sich ihrer aller Tod, seiner und der der Männer, in greifbarer Nähe befand. Und die Krieger waren sich dessen bewusst, das spürte Rowilan.

Dabei waren sie ihrem Ziel so nahe. Nur wo war Aigonn? Versteckte er sich wie er im Dickicht? Hatte dieser impulsive junge Mann wirklich die Ruhe, um das Ritual so lange untätig mit anzusehen? Rowilan bezweifelte es. Umso merkwürdiger erschien ihm demnach der Umstand, ihn nirgendwo vorfinden zu können, und auch keine Unruhe, nicht einmal Menschen, die sich aufgeregt unterhielten, wie es üblich war, nachdem ein solcher Zwischenfall vorgekommen wäre, wenn jemand versucht hätte, einen geliebten Menschen zu retten. Sollte dies bei Aigonn der Fall sein. Rowilan selbst hatte es nicht gekonnt. Ohne sagen zu können, woher dieses Gefühl kam, schien er die Anwesenheit von Deronas Geists um sich zu spüren – unmittelbar. War sie zurückgekommen? Konnte er diese Frau retten, wenn er schon sie nicht hatte retten können? Vielleicht tilgte es einen Funken seiner Schuld, die er in diesem Leben niemals ungeschehen machen würde.

Solange er nicht wartete, bis es zu spät sein würde.

Gut fünfzehn Krieger, zehn Schamanen, dreißig Frauen und Kinder umringten das Moorauge. Fünfundzwanzig gegen acht. Manchmal war Wahnsinn nötig, um Wunder zu bewirken.

„Wir reiten!“

„Reiten?“ Der Krieger war schockiert. Rowilan hatte jedoch nichts anderes erwartet. Seine Gedanken waren für ihn vollkommen nachvollziehbar. Doch sie hatten keine andere Chance.

„Einfach reiten!“ Damit stieß er dem Pferd die Fersen in die Seite. Widerwillig sprengte es vor. In Gedanken dankte der Schamane dem Tier unzählige Male dafür, dass es mit ihm vielleicht in den sicheren Tod ritt.

„HREBILUS!“ Die Menge fuhr herum. Der oberste Schamane blickte erschrocken auf, während Rowilan aus dem Wald galoppierte. „HREBILUS, SIE GEHÖRT MIR!“

Krieger sprangen vor, rissen ihre Lanzen nach vorn. Erste Speere kamen auf Rowilan zugeflogen, während sein Pferd erschrocken auf der Stelle tänzelte. Er hatte nur einen Vorteil. Außer ihm und seinen Männern waren alle anderen zu Fuß.

Damit setzte sein Pferd zum Sprung an. Ungeachtet der Waffen, die man ihm entgegenschleuderte, sprengte es durch die Menge, trampelte nieder, wer ihm im Weg stand.

Der Schreck hatte gewirkt. Es dauerte mehrere Herzschläge, bis die schockierte Menge wieder reagierte. Immer mehr Lanzen surrten auf ihn zu. Rowilan spürte das Metall mehr als ein Mal keine Handbreit an seinem Körper vorbeifliegen, doch er zwang sich dazu, weiterzureiten. Das Pferd hatte beinahe den Bohlenweg erreicht. Er lenkte es in Haken, im Zickzack. Trotz allem dauerte es keine drei Atemzüge, bis es erschrocken aufwieherte, stolperte und getroffen zu Boden ging.

Rowilan hatte gerade noch Zeit, schützend die Hände vor sein Gesicht zu halten, bevor er aufschlug, sich abrollte. Als er taumelnd wieder auf die Beine kam, traf ihn ein Tritt in den Unterleib. Keuchend ging er in die Knie, wich aus, konnte gerade noch den Schamanen beim Arm packen, bevor dieser ihm seinen Dolch in die Seite stoßen konnte. Es knackte, der Mann schrie auf. Rowilan stieß den Schamanen von sich, wich einem anderen aus, bevor er den Bohlenweg entlangrannte. Im Augenwinkel sah er, wie seine Männer schreiend in die Menge ritten und versuchten, die Krieger abzulenken, während Rowilan sich vorankämpfte. Er dankte ihnen in Gedanken. Ihr Opfer war groß. Sie waren sich dessen bewusst gewesen. Ihr Geschenk konnte nicht vergolten werden.

Hrebilus, der höchste Schamane der Eichenleute, hatte Anation an sich gerissen. Seine verbliebenen Gehilfen hatten sich schützend vor ihn gestellt. Ihre gezückten Schwerter und Dolche hätten für sie von großem Nutzen sein können. Rowilan wusste jedoch, dass junge Männer wie sie, noch keine siebzehn Jahre alt, sie nur ungenügend einzusetzen wussten. Lediglich Khomal hielt sein Schwert zum Schlag bereit. Der Körper des Fürsten schien zum Schutzschild zwischen den Eingeweihten und dem Eindringling geworden, ihre Rücken von den Geistern geschützt, deren Ritual soeben unterbrochen worden war.

Hrebilus hielt Anation seinen Dolch an die Kehle gepresst. Der rote Ocker klebte an seinen Händen, war auf seinem Arm verschmiert. Rowilan spürte seine Nervosität, als er schrie: „Bleib stehen oder ihre Seele wird verloren sein!“

Anation hing wie leblos in seinem Griff. Rowilan konnte sehen, wie ihre Lider flackerten, die Mundwinkel zuckten, doch ihr Geist hatte nicht genügend Gewalt über ihren Körper, um sich selbst zur Wehr zu setzen.

Keuchend fiel Rowilan in den Schritt. Ein sarkastisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er erwiderte: „Glaubst du wirklich, sie wird verloren sein, nur weil du sie tötest und verfluchst? Nicht du! Es gibt mächtigere, viel mächtigere Menschen als dich, sie wird gerettet werden und Rache an dir nehmen. Viel schrecklichere Rache, als deine Drohungen wahrmachen können!“

Ohne Khomal und die Schamanen zu beachten, trat Rowilan vor. Der Fürst gab den jungen Eingeweihten ein Zeichen, beiseite zu schreiten. Rowilan hörte, wie andere Krieger ihm von hinten den Weg abschnitten. Ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Vor ihm waren der Fürst der Eichenleute und das Moor. Selbst wenn er Anation befreien konnte, wohin sollte er fliehen? Das Moorauge würde ihn und die junge Frau in die Tiefe reißen, in die Andere Welt. Wenigstens würden ihre Seelen nicht ziellos zwischen dem Jenseits und der Heimat der Menschen umherirren, weil niemand ihnen den Weg weisen konnte, niemand ihre Leichen gefunden hatte. Es war ein schwacher Trost dafür, dass der Schamane aus einem Grund, der ihm nicht vollkommen klar war, ziemlich sicher sein Leben opfern würde. Er selbst war ebenso Krieger wie die anderen Bärenjäger, doch vor allen Dingen war er ein eingeweihter Mann, ein Kundiger der Geister und Kräfte dieser Welt. Khomal war ein Fürst, hatte bereits als Kind das Kämpfen gelernt. Was hatte Rowilan schon für eine Chance?

Als die übrigen Krieger ihm den Fluchtweg abgeschnitten hatten, blieb Khomal mit etwa sieben Fuß Abstand vor Rowilan stehen. Der Schamane selbst gewahrte Hrebilus nur kurz, Anation unverändert in seinem Griff. Eine Gestalt kauerte unbeachtet neben ihm auf dem Boden, doch Rowilan hatte nicht den Sinn, sich darauf zu konzentrieren. Der Bohlenweg war nur gut viereinhalb Fuß breit – wenig Platz für einen ausgeglichenen Kampf. Ein geübter Krieger gegen einen Meister. Die Götter allein würden Rowilan retten müssen!

Plötzlich riss der Eichenfürst sein Schwert in die Höhe und stieß vor. Überrascht sprang Rowilan beiseite, näherte sich gefährlich der Kante der Bohlen. Khomal wirbelte herum, setzte zu einem Schlag an. Rowilan blockte mit seinem eigenen Schwert, fing den Schlag ab, geriet jedoch ins Straucheln. Mit einem Schrei gelang es ihm, die Klinge von sich zu drücken und einen Schritt auf die Bohlen hinaus zu machen – Hrebilus und die übrigen Schamanen nun im Rücken.

Kreischend schabte Eisen über Eisen. Khomal riss das Schwert zurück, machte einen Schritt seitwärts. Rowilan sprang zurück, holte selbst zum Schlag aus.

Der Schmerz brannte in Rowilan auf wie eine Flamme. Für Herzschläge wurde es dem Schamanen schwarz vor Augen. Mit aller Gewalt kämpfte er gegen den Schwindel, konnte gerade noch zurückweichen, bevor das Schwert des Fürsten durch sein Fleisch bis in die Lunge schlagen konnte.

Heißes Blut rann aus seiner Seite über die Rippen. Er hatte kaum genug Zeit, neue Besinnung zu fassen, als ein zweiter Schlag auf ihn zuraste. Taumelnd versuchte er auszuweichen, stieß schützend sein Schwert vor, traf. Die Wucht des Schlages jedoch riss Rowilan von den Füßen.

Mit bebendem Atem gewahrte er noch seine eigene Situation, als er bereits Khomals Klinge an der Kehle spürte. Der Eichenfürst stand tief atmend über ihm, einen abschätzigen Ausdruck in den Augen, als er sagte: „Mutig bist du, Schamane. Aber das allein nützt dir nichts.“

Rowilan spürte Blut, als sich die Spitze fein in sein Fleisch bohrte. Von fern her konnte er Schreie hören, die aufgeregten Rufe der Eichenkrieger, die seine Männer in die Knie gezwungen hatten. Er brauchte es nicht zu sehen, sein Gefühl allein sagte genug. Es erschien ihm fast tröstend, dass Deronas Geist noch immer an seiner Seite war, harrte und wartete, bis er ihr in die Andere Welt folgen würde. Sehr bald schon.

„Wie es scheint, wirst du dem Mädchen und deinem Fürst ins Moor folgen können. Schätze dich glücklich!“

Seinem Fürst? Überrascht weiteten sich Rowilans Augen. Er glaubte bereits, sich verhört zu haben, doch schneller, als er darüber nachdenken konnte, hörte er plötzlich einen Schrei.

Ein dumpfer Aufschlag, ein Sturz, ein Moment der Unachtsamkeit. Ohne zu denken stieß Rowilan die Klinge beiseite, drehte sich herum und sprang auf die Beine. Er hatte kaum Zeit genug, um darüber zu erstaunen, wie Behlenos vor ihm auf dem Boden kauerte. Seine Bewegungen schienen unkontrolliert. Er versuchte mehrfach erfolglos, sich auf die Beine zu ziehen. Doch wie auch immer es um seine Verfassung stand, seine Kraft hatte genügt, um vorzustoßen, nachdem ihn niemand mehr beachtet hatte, und Hrebilus ins Taumeln zu bringen. Der Schamane war von den Bohlen gestürzt. Brüllend klammerte er sich an das Holz, während der Schlick gierig nach seinem Körper leckte. Augenblicklich eilten ihm seine Gehilfen und Schüler zur Hilfe. Rowilan jedoch hatte keinen Blick dafür.

Anation war nicht mehr zu sehen. Erschrocken sprang er vor, verlor beinahe das Gleichgewicht, bis er ihren Körper erblickte. Im brackigen, schwarzen Wasser des Moorauges tauchte er unter und dann kurz wieder auf, nur um sofort wieder zu versinken. Rowilan konnte gerade noch reagieren, um den herannahenden Khomal mit einem Schlag ins Straucheln zu bringen. Dann stürzte er auf die Knie, reckte seine Arme nach unten und konnte Anation an der Schulter zu fassen bekommen. Der gierige Schlamm wollte sie seinem Griff entziehen. Ein Schrei entkam seinen Lippen, als er die junge Frau besser am Arm ergriff und ihren Körper auf die Bohlen hievte. Schlamm und Brackwasser überzogen sie wie eine zweite Haut. Rowilan beobachtete mit Erleichterung, wie sie zu husten begann, ihre Augen flackerten, die Lider sich für kurze Zeit hoben.

Behlenos war in der Zwischenzeit auf die Beine gekommen. Taumelnd stürzte er sich auf die umstehenden Schamanen. Nur an den Händen gefesselt, bemühte er seinen Körper, altbekannte Wendigkeit zu erreichen, und zog die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich. Rowilan hatte seinen Dolch aus dem Gürtel gerissen. Mit aller Kraft stach er auf die Schamanen ein, strengte sich an, sie beiseite zu stoßen, um seinen Fürsten zu erreichen. Doch es war zu spät.

Khomal hatte den Schreck überwunden. Als wäre Behlenos nur ein Kind, schlug ihm der Eichenfürst gegen den Oberleib, dass Rowilan Knochen knacken hörte. Der Fürst der Bärenjäger ging zu Boden. Panisch versuchte der Schamane sich vorzukämpfen. Ein junger Mann stürzte durch seinen Schlag ins Moor, während Hrebilus sich noch immer an die Bohlen klammerte. Khomal holte aus. Sein Gesicht verriet keine Regung, als die Klinge niedersauste. Rowilan schrie auf. Es knackte. Blut spritzte. Die Wucht schleuderte einen Kopf fußweit ins Moor hinaus, bevor er die Wasseroberfläche durchdrang.

Rowilan fehlte die Luft, um zu atmen. Der enthauptete Körper seines Fürsten zuckte noch einmal, bevor er leblos auf die Bohlen sank. Der Schamane war erstarrt. Das Entsetzen lähmte seinen Körper, seinen Geist. Er war nicht im Stande zu begreifen, was geschehen war. Behlenos war tot. Khomal hatte ihn getötet. Getötet.

Triumphierend wandte der Eichenfürst sich um. Fassungslosigkeit verwandelte sich in Rowilans Kopf in blinden Zorn. Seine Finger zuckten, als wollten sie Khomal allein niederstrecken und den Mann retten, der ihrem Besitzer so lange bereits ein treuer Freund gewesen war.

Obwohl sein Geist sich schreiend zu wehren versuchte, schüttelte Rowilan den Schock ab. Behlenos war tot. Niemand würde ihn mehr retten. Er und Anation jedoch waren am Leben – zumindest jetzt noch. Sie mussten hier weg!

Langsam wich der Schamane einen Schritt zurück. Khomal zwängte sich an den Männern vorbei, die Hrebilus aus dem Schlick zogen. So schnell es ging, fasste Rowilan Anation unter den Achseln, zog sie auf die Beine, in der Hoffnung, sie würde stehen bleiben. Doch als ihre Füße kraftlos wegrutschten, hievte er sie sich kurzerhand auf die Arme. Wohin sollte er gehen? Hinter ihm war das Moor, der Rand des Moorauges, von Heide und Torfmoos bewachsen. Niemand konnte sagen, wo sich fester Boden und tückischer Schlamm befand. Es war aussichtslos. Ganz egal, wohin er ging. Ihn erwartete der sichere Tod!

Auf einmal gewahrte Rowilan weit hinter Khomal im Moor einen dunstigen Schimmer. Erste Abendnebel krochen über das Wollgras. Wie der Atem der Geister kamen sie heran, umarmten bald den Rand des Moorauges. Unwillkürlich jagte dem Schamanen ein Schauer über den Rücken, als er eine Gestalt erkannte, die aus den Nebeln erstieg. Eine Frau.

Das war sie, die Nebelfrau, das Wesen, das Aigonn seit Jahren zur Seite stand. Rowilan hatte es immer nur geahnt, hatte sie selbst nie gesehen. Doch in diesem Moment wusste er es, als hätte er an Aigonns Stelle gestanden.

Plötzlich überschwemmte Vertrauen jede andere Regung, die sein Handeln gebremst hätte. Er hatte gar keine andere Wahl. Vertrauen – den Geistern gegenüber, die er immer erahnt, manchmal gesehen, aber deren Stimmen er viel zu selten vernommen hatte.

Es war schwer zu sagen, worauf das sonderbare Gefühl sich gründete. Doch auf einmal wusste er, was zu tun war. Die Nebel hatten bereits das andere Ende des Moorauges erreicht. Wie Wolken überzogen sie die tückische Landschaft, öffneten ihre Decke nur an vereinzelten Stellen und schufen damit einen kaum erkennbaren Pfad durch das Moor hindurch.

Auf einmal war Rowilans Geist leer. Er reagierte so schnell, dass Khomal kaum nachsetzen konnte. Ohne zu denken fuhr er herum, stürzte sich von den Bohlen ins Moor hinaus, setzte seine Füße nur auf jene Stellen, die die Nebel ihm wiesen. Und der Boden trug ihn.

Ein Schrei hallte ihm nach. Aus dem Augenwinkel sah Rowilan, wie Khomal zögerte, ihm zu folgen. Die Nebelgeister verwischten seine Spur, wiesen ihnen den Weg. Das Brüllen und Rufen vom Rand des Moores vermischte sich in seinen Ohren zu einem monotonen, nichtssagenden Rauschen. Seine Männer mussten tot sein, hatten sich geopfert. Behlenos war tot. Alle waren tot. Nur Anation, Anation lebte.

Rowilan rannte. Eine dünne, torfmoosbewachsene Schlammschicht leckte an seinen Füßen, schmatzte, als er darüber hinweghastete. Erst als er glaubte, sich vor Erschöpfung kaum mehr auf den Beinen zu halten, hielt er einen kurzen Moment an und blickte sich um. Die Nebel hatten um ihn einen schützenden Schleier gebildet. Seine Sichtweite war auf nur wenige Fuß beschränkt, doch als er in das Ungewisse hinauslauschte, hörte er keinen verdächtigen Laut, keine Schritte, nicht einmal Stimmen von weitem, so großen Abstand musste er bereits gewonnen haben.

Doch ruhig war es wirklich. Es erinnerte Rowilan daran, wie er sich als Kind immer gefürchtet hatte, wenn seine Eltern ihn alleine hatten schlafen lassen, während sie noch vor der Morgendämmerung mit seinen älteren Geschwistern zur Jagd aufgebrochen waren. Jedes Geräusch, jedes Knacken schien verräterisch und bedeutete sicheres Verderben, wenn man es nur so hören wollte.

Mit einem Kopfschütteln tat der Schamane seine Ängste aus Kindertagen ab. Er hatte mit den Jahren gelernt, Geistern zu begegnen und ihre Stimmen zu vernehmen. Die Dunkelheit und Stille konnten ihn nicht mehr das Fürchten lehren. Zumindest nicht allein.

Behutsam bettete der Schamane Anation auf weiches Heidekraut. Ihre Augen hatten sich in der Zwischenzeit mehrmals geöffnet. Unverständliche Laute, die ihren Lippen entkamen, machten Rowilan Hoffnung, sie würde sich vielleicht ganz allein der Wirkung ihrer Betäubung entziehen. Doch in dieser Hinsicht enttäuschte sie ihn.

„Anation! Anation, hörst du mich?“ Behutsam klopfte Rowilan ihr gegen die Wange. Ihre Augen öffneten sich in Folge, als er jedoch in ihre geweiteten Pupillen starrte, sah er darin keinerlei Erkennen. Hrebilus verteilte nur starke Drogen, er hätte es wissen können. Doch selbst wenn er gegen die exakte Mischung, die der Schamane verwendet hatte, ein Mittel besessen hätte, fürchtete er, würde es keine große Wirkung zeigen. Ihr Körper war schwach. Die Hitze unter ihren Achseln – einer der wenigen Orte, die trotz ihrer dünnen Kleidung nicht ausgekühlt waren – verriet Fieber. Was auch immer die Eichenleute mit ihr gemacht hatten, ihr Körper hatte diesen Kampf verloren und würde bald auch ihre Seele nicht mehr halten können, wenn sie nicht aus dem Delirium erwachte.

Rowilan schauerte es bei diesem Gedanken. Einmal hatte er erlebt, wie ein Mann aus einer Betäubung nicht mehr erwacht war. Tot gewesen war er nicht. Doch seine Seele hatte sich weit genug von seinem Körper gelöst – ohne gänzlich verloren zu gehen – dass sie für ihn beinahe unerreichbar wurde. In ewiger Nacht gefangen war der Mann verdammt gewesen, vom Leben abgeschnitten dahinzusiechen, bis der Tod ihm endlich Erlösung gebracht hatte. Unvermittelt stieg bei diesem Gedanken in dem Schamanen Panik auf. Sie würde verloren sein, wenn nichts geschah. Er durfte sie nicht gehen lassen! Aigonn würde ihn mit seinen eigenen Händen zu den Göttern schicken – und wenn es ihm nicht gelingen würde, dann das Übermaß seiner Schuld, das mit einer solchen Tat unermesslich werden würde.

Ich habe Derona nicht retten können! Sie darf ich nicht auch noch verlieren!

„Anation!“ Seine Hände schlugen gegen ihre Wangen. „Anation, hör mich! Komm zurück zu mir! Wach auf! Anation!“

Ein unverständlicher Laut. Ihre Lider hoben sich zur Hälfte, verharrten. Hoffnung keimte in Rowilan auf. „Anation! Ich bin es, Rowilan! Der Schamane! Komm zu mir zurück, dir kann nichts mehr geschehen!“

Sie blinzelte. Ihre Lider öffneten sich weiter, Rowilan blickte in ihre von Krankheit und Drogen gezeichneten Augen, bevor diese hauchfein zu glänzen begannen. Dort war sie. Die Erleichterung, die er empfand, hatte keinen Namen. Ganz gleich, ob die Erschöpfung sie wieder in dämmernde Schwärze ziehen wollte. Sie war zurück – und sie erkannte ihn.

Wo nur, bei allen Göttern, steckte Aigonn?


Tautropfen. Aigonn klammerte sich an das Geräusch. Mit aller Gewalt versuchte er, seinen Geist auf die Außenwelt zu konzentrieren, dieses eine, winzige Detail. Es war besser als alle anderen Alternativen. Er durfte nur nicht aufhören, nicht aufhören, durchhalten. Ansonsten würde sein Geist wie zäher Honig dahinfließen, weg von der Wirklichkeit. Er würde verloren sein, das wusste er mit solcher Sicherheit zu sagen, dass es ihn selbst verwunderte. Gab es doch in all dem, das er sehen konnte, keinen einzigen, festen Ankerpunkt.

Irgendwo, in weiter Ferne, gewahrte Aigonn einen dumpfen Schmerz. Sein Geist war zu träge, um weiter zu denken. Was auch immer der Fremde ihm eingeflößt hatte, sein Wille war – so sehr er tobte – nicht im Stande, die Kontrolle über seinen Körper zu gewinnen. So musste sich das Gegenteil von Schweben anfühlen. Aigonn war nicht in der Lage zu sagen, ob er stand, lag, saß. Während rasende Panik in ihm hochkochen wollte, klammerte er sich mit aller Kraft an das kaum hörbare Geräusch. Tropfen.

Die Stimmen waren überall, sie schrien, flehten, versuchten, ihn zu reizen, ohne dass er wusste, wie viel von ihren Worten wirklich ihm selbst galten. Aigonn traute sich nicht, die Augen zu öffnen. Schon einmal hatte das Farbenmeer ihn erschlagen, trotz der blassen Pastelltöne, die ihn überall umgaben, von einem flirrenden Weiß durchtränkt, das nichts Wirkliches mehr an sich hatte.

Aigonn wollte schlafen. Wie gern hätte er sich einfach zurückfallen und seinen Geist in Traumwelten flüchten lassen, doch so sehr er sich bemühte, Ruhe fand er keine. Es war unmöglich. Die Stimmen hallten in seinem Kopf, dass es schmerzte – nicht körperlich, sondern auf eine viel quälendere Art, tief in seinem Geist, der winselnd um Hilfe zu schreien schien. Doch Aigonn war machtlos. Er selbst nahm es kaum wahr, als in der realen Welt eine Gestalt vor ihm in die Hocke ging und ihm so lange gegen die Wange schlug, bis er die Augen öffnete.

Die Farben waren unerträglich. Aigonn wollte augenblicklich die Lider wieder schließen, doch eine Stimme befahl barsch: „Du bleibst wach! Sieh mich an!“

Die Stimme duldete keinen Einspruch, selbst wenn Aigonn ihn hätte geben können. Und als gehörte sie einem Gott, folgte sein Geist ihr willenlos, zwang sich, die Augen offen zu halten, bis er verschwommen zwischen den Geistern und Bildern eine Silhouette ausmachen konnte, die Teil der Menschenwelt war.

„So ist es gut. Kannst du mich gut verstehen?“

„Ja …“

Er hatte die Lippen kaum öffnen können. Seine Stimme schockierte ihn, wie sie kraftlos und lallend in seinem Kopf widerhallte. Der Schreck mischte sich in die Anstrengung, die es Aigonn kostete, seine Aufmerksamkeit auf die fremde Gestalt zu konzentrieren.

„Gut. Dann wirst du nun tun, was du mir schuldest, Aigonn.“ Die Gestalt setzte sich hin. Zwei Hände fassten Aigonns Gesicht, schoben ihm unangenehm die Wangen zusammen, während ungeahnter Schwindel in ihm aufstieg. Übelkeit machte sich in ihm breit. Doch in dem Moment, als er zu würgen begann, verkrallte sich eine Hand vor seinem Mund, drückte seinen Kopf nach hinten, sodass er zu husten begann. Galle verirrte sich in seinen Hals, wollte in den Lungentrakt eindringen. Panisch röchelte Aigonn nach Luft, gab einen jämmerlichen Laut von sich, während die Farben über ihm zusammenschlugen.

Als er endlich wieder Luft holen konnte, spürte er unvermittelt einen Schlag, dann brennenden Schmerz. Hatte man ihn soeben geohrfeigt? Aigonn war einer Ohnmacht nahe. Ein weiteres Klatschen jedoch zwang seinen Geist in den Zustand zurück, der sich sein Bewusstsein nannte. Wimmernd öffnete er die Augen, als abermals sein Gesicht gepackt wurde und nun eine Stimme, weit fort, doch gleichzeitig widerlich nahe, gegen seinen Mund flüsterte: „So leicht entkommst du mir nicht! DU BLEIBST BEI MIR und wirst mir helfen zu tun, was du mir schuldest!“

Speichel benetzte Aigonns Haut. Er vermittelte das Gefühl von zähem Regen, schien sich in eine Sturzflut zu verwandeln, bevor die Stimme weitersprach: „Folge meinen Worten, hörst du mich?“

„Folgen …“

„Folge mir, meinem Geist, sieh für mich das, was meine Sinne niemals erfassen können. Niemand kann es wie du. Mir selbst ist schleierhaft, warum ich es all die Jahre über niemals bemerkt habe. Nun höre …“

Die Worte verwandelten sich in einen rauen Gesang. Aigonn wurde schwindelig, er schien sich zu drehen, zu überschlagen, immer schneller, im Rhythmus, Übelkeit kehrte zurück. Das Lied wollte sich in schallendes Rauschen verwandeln, als er plötzlich hörte: „Befreie dich! Folge mir!“

„FOLGE MIR!“

Aigonn wurde schwerelos. Eine unsichtbare Kraft schleuderte seinen Geist aus dem Körper, trieb ihn nach draußen, in die Dämmerung des Abends hinein. Der Wald lag auf einmal unter ihm, über ihm, es war kaum auszumachen. Die Farben schimmerten wie im Fiebertraum. Aigonn wehrte sich mit aller Kraft, doch als wäre er nur eine Puppe, trieb ihn der Gesang voran, auf das Moor zu.

Weiße Lichtblitze zuckten über den Mooraugen. Aigonn schwankte zwischen Verzweiflung und Faszination, die Welt mit solchen Augen zu sehen. Flüchtig gewahrend, wie zwei nicht erkennbare Gestalten auf dem Heidekraut knieten, schwebte er darüber hinweg, näherte sich einem Strudel aus Licht, der sich lautlos aus einem Moorauge erhob.

Erschrocken versuchte er innezuhalten. Die Andere Welt, man trieb seinen Geist mitten hinein, durch ein Tor, ohne dass ein schützender Geist an seiner Seite war, um ihn zurückzuholen, wenn er den Weg nicht mehr fand. Aigonn versuchte zu schreien, verschloss die Augen, doch die Gewalt des Bildes drang selbst durch seine Lider. Er befand sich nicht mehr in seinem Körper, war nicht mehr Teil dieser Welt. Die so nicht gekannte Hilflosigkeit ließ die Verzweiflung zu zuckenden Flammen werden, während der Gesang ihn immer weiter vorantrieb, auf den Eingang zu, das Tor. Eine Stimme drang durch das ohrenbetäubende Rauschen der Geister und Seelen. „Nun geh und finde sie, finde Moribe! Und finde Haelinon!“

Plötzlich packte Aigonn ein Sog. Alle Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Es war ein Schmerz, für den kein Mensch einen Namen hatte. Aigonn wollte schreien, doch stattdessen verwandelte sich der Laut in Galle, die golden leuchtend von seinem Kinn zu tropfen begann. Seine Hände packten nach allem, das sie hätten fassen können. Doch die Realität war nicht mehr existent, war verschwunden. Panik wurde zu stiller Resignation. Er hätte weinen können, seine Gefühle aber flossen als Lichtströme aus seinem Körper hinaus. Er hatte keine Wahl. Seine Chance war vertan.

Aigonns Hand erschlaffte. Der Schmerz war kaum zu ertragen, als die Lichtblitze seine Beine erfassten, ihn wie einen Strudel nach unten zogen. Sein Widerstand aber zerfloss zu einem letzten, weißen Funken, der in der Wirklichkeit verglühte.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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