Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 28

Überlebende

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Als die kläglichen Überreste der Siedlung zwischen den letzten Bäumen des Waldes auftauchten, musste Aigonn schlucken. Den Eichenleuten war es gelungen, einen gut sechzig Fuß langen Abschnitt der Palisaden vollkommen einzureißen, während das Holz an anderer Stelle fast zu Asche verbrannt war. Niedergetrampeltes Gras und in der Sonne getrocknete Blutlachen hielten die Erinnerung an die vergangene Schlacht lebendiger, als Aigonn es sich wünschte. Der Geruch nach Verwesung umgab selbst die Wiesen, und die Rauchschwaden, die in Richtung der Totenaue gen Himmel stiegen, ließen Sterben und Vergänglichkeit erschreckend nah werden.

Als Rowilan und Aigonn den Waldrand hinter sich gelassen hatten, hob der Schamane die Hände, und kurz darauf war hinter nahen Sträuchern das Entspannen eines Bogens zu hören.

„Ihr habt Wachen aufgestellt?“ Aigonn sah sich nach allen Seiten um, konnte aber niemanden entdecken. „Mit Jagdbögen? Damit wird ein einzelner bei einem erneuten Angriff nicht viel ausrichten können!“

„Bei einem erneuten Angriff können wir ohnehin nicht mehr tun, als die Flucht zu ergreifen! Die Wachen sind dafür da, eventuelle Späher rechtzeitig ausfindig zu machen. Dafür reichen die Jagdbögen – auch wenn es nicht üblich ist, sie im Kampf zu benutzen.“

„Es würde auch gar keinen Sinn machen! Wer soll denn so viele Pfeilspitzen schmieden?“

„Eben. Wir gedenken auch keine Schlacht zu führen, sondern nur lange genug zu überleben, bis Hilfe eintrifft.“

Mit diesen Worten gab Rowilan seinem Pferd einen leichten Klaps, während er es an den Zügeln führte, und beschleunigte seinen Schritt, um schnell die Siedlung zu erreichen.

Das Bild der Zerstörung verlor nichts von seinem Schrecken – auch nicht, als das Innere des Dorfes in Sicht kam. Der größte Teil der Behausungen war niedergebrannt. An den dünnen Rauchsäulen erkannte Aigonn, das die wenigen Überlebenden größtenteils in Tierställen untergekommen waren. Einige Kinder beschäftigten sich abwesend mit Tonkügelchen und angesengten Holzfiguren, die sie scheinbar vor den Flammen gerettet hatten. Doch an ihren Gesichtern, den blutunterlaufenen Augen, war ersichtlich, dass der Krieg auch an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen war. Wie viele Waisen mochten dort sitzen? Nach Rowilans Berichten konnte bestenfalls ein Fünftel aller Männer den Angriff überlebt haben – und der größte Teil davon befand sich aktuell in Gefangenschaft.

Um seinen letzten Hoffnungsfunken am Leben zu erhalten, griff Aigonn noch einmal das Gespräch mit dem Schamanen auf: „Du sagtest, wir warten auf Hilfe?“

„Ja.“ Rowilan blickte ihn nur kurz an, bevor er sich weiter in der Siedlung umsah. „Wir haben Boten zu einer der Siedlungen östlich von hier geschickt. Bisher haben wir weder eine Antwort noch ein Lebenszeichen erhalten, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Sie werden uns nicht im Stich lassen – allein der Ehre wegen. So feige sind Fewiros und seine Männer nicht.“

Fewiros war ein Cousin des Behlenos. Der Fürsprecher der dritten großen Siedlung der Bärenjäger hatte seinem Verwandten gegenüber nie ein freundschaftliches Verhältnis gehegt, doch Ehre und Sippenbande hatte sie beide schon einige Male zuvor zusammengeführt. Fewiros hatte Behlenos’ Fürstentitel anerkannt und ihm damit Treue geschworen. Würde er seinem Fürsten nun den Beistand verweigern, konnte ihn jedes Kind zur Rechenschaft ziehen – wenn es sich denn traute. Aigonn aber konnte nicht umhin, an diesem Treueschwur zu zweifeln. Fewiros würde keine bessere Gelegenheit bekommen, um den Titel des Fürsten für sich zu gewinnen – ganz egal, ob sich der Stamm jetzt schon um gut ein Drittel seiner Angehörigen verkleinert hatte.

Aigonn vertrieb diesen Gedanken vorerst. Er würde noch Gelegenheit für das Schmieden eines Planes haben, wie er Anation und Efoh retten könnte – wenn nötig, auch im Alleingang. Im Moment aber beanspruchten die Pfeilwunde und der Rippenbruch Aigonns Aufmerksamkeit immer penetranter. Weder der Alkohol noch die Weidenrinde, die Rowilan ihm noch einmal zum Morgengrauen hin verabreicht hatte, zeigten mehr größere Wirkung. Der Schlafmangel gab sein Nötigstes dazu.

Rowilans Haus war zu Aigonns Erstaunen größtenteils unversehrt geblieben. Außer einigen Brandspuren am Strohdach hatte der Krieg keinerlei Spuren hinterlassen und Aigonn war froh, sich dort auf Rowilans Lager niederlassen zu können. Der bekannte Duft, der diesem Haus anhaftete, ließ merkwürdige Gefühle in Aigonn aufsteigen. Die Erinnerung daran, wie er versucht hatte, von Rowilan die Wahrheit über Deronas Tod zu erzwingen, flackerte vor seinen Augen – als der Schamane dort gelegen hatte, wo Aigonn in diesem Moment lag. Unwillkürlich jagte ihm ein Schauer über den Rücken. Er entsann sich dessen, was die Nebelfrau ihm berichtet hatte; das, was untrennbar mit dieser Erinnerung verbunden war. Aigonn wollte gar nicht darüber nachdenken, nicht jetzt. Die Müdigkeit lastete so schwer auf ihm, dass er am liebsten augenblicklich eingeschlafen wäre. Doch dafür war noch nicht die Zeit.

Rowilan hatte bereits einen kleinen Bronzekessel voll Wasser über das Feuer gehängt, als er sich neben seinem eigenen Schlaflager niederließ und behutsam begann, den notdürftigen Verband von Aigonns Wunde zu lösen. Dieser gab sich Mühe, standhaft zu bleiben – egal, wie empfindlich der Stoff am trocknenden Wundwasser und geronnenen Blut klebte. Als er diese Tortur endlich überstanden hatte, wusch der Schamane die Wunde aus, bevor er sie eingängig musterte.

„Du hast Glück gehabt“, resümierte er. „Die Pfeilspitze ist sauber und gerade in dein Fleisch eingedrungen. Bis jetzt hat die Wunde sich nicht entzündet. Mit ein bisschen Nachhilfe wird es wohl auch nicht mehr geschehen.“

Damit griff er nach einer Schale, wo er bereits mit Wasser versetzte, getrocknete Kräuter vorbereitet hatte, die er nun zusammen mit einigen frischen Blättern – Aigonn konnte nicht sagen, um welche Pflanze es sich handelte – zerstampfte. Als der Schamane die fertige Paste gerade auf die Wunde auftragen wollte, wurde die Tür des Hauses geöffnet und Aigonn hörte einige schwere Schritte, die über die Grasmatten näher kamen.

„Rowilan?“ Es war Aehrel.

„Aehrel? Ja, ich bin hier.“ Rowilan wandte sich um und wartete, bis der Krieger an dem großen Regal vorbeigelaufen war, das das Nachtlager des Schamanen vor unerwarteten Blicken oder Gästen verborgen hielt. Aigonn zog beeindruckt die Augenbrauen in die Höhe, als die Gestalt seines Onkels neben dem Schlaflager erschien. Eine Brandwunde, die nur mit einer Salbe bestrichen war, bedeckte die Hälfte seines Halses, einen Teil des Gesichts und schien noch bis weit unter sein Leinenhemd zu reichen. Er hinkte, zog das rechte Bein nach und trug zu allem Überfluss an der Stelle seines Kopfes, wo sich eigentlich das rechte Ohr befinden sollte, lediglich einen schmutzigen Verband, der scheinbar eine stark nässende Wunde verdeckte.

Trotz der Verletzungen war Aehrels Miene unerschütterlich. Er schien sie hinzunehmen, als ob dies der Sold wäre, den jeder Krieger an sein Leben und sein Volk zu entrichten hatte, und nahm sein Schicksal mit Würde. In diesem Moment beneidete Aigonn seinen Onkel – allein darum, dass er seine Schmerzen, die er zweifellos haben musste, so gut zu ignorieren wusste.

„Oh, Rowilan! Ich dachte mir schon, dass du es warst, der gerade eben angekommen ist. Es tut gut zu sehen, dass du erfolgreich warst!“ Damit nickte er seinem Neffen kurz zu, bevor er fragte: „Wie sieht die Lage aus?“

„Sie halten unsere Leute an mehreren Stellen rund um das Lager verteilt gefangen. Es ist fast unmöglich, sie alle gleichzeitig zu befreien, ohne bemerkt zu werden. Ich hatte es fast befürchtet.“

Aehrel brummte missfällig. „Es war zu erwarten. Khomal ist nicht dumm. Konntest du ausmachen, in wie viele Gruppen sie aufgeteilt wurden?“

„Nein. Ich habe mich nicht im ganzen Lager umsehen können. Soweit ich gezählt habe, waren es vier. Es könnten aber auch mehr sein.“ Rowilan warf einen hilfesuchenden Blick zu Aigonn, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.

„Das heißt, wir müssen das Lager noch einmal ausspionieren, bevor wir die anderen befreien können.“

„Ja, vielleicht. Ich glaube aber, Aehrel, wir sollten die Schlachtpläne nachher mit den anderen besprechen. Dann brauche ich mich nicht zu wiederholen.“

„Gut.“ Aehrel blickte von Rowilan zu Aigonn und begutachtete die momentane Lage prüfend. Ihm schien nicht entgangen, dass die beiden einen ungewöhnlich friedlichen Umgang miteinander pflegten. Es verging ein kurzer Moment, bis er seinen Worten hinzufügte: „Aigonn, du solltest nachher zu mir kommen, das heißt … in mein Haus. Es geht um deine Mutter.“

Aigonn schreckte so jäh in die Höhe, dass Rowilan einen Teil der Paste verkleckerte, die er gerade auf seine Finger gehoben hatte.

„Mutter? Was ist mit ihr? Ist sie am Leben?“

„Am Leben ist sie, ja …, nur …, schau es dir einfach an, es ist schwer zu beschreiben.“ Damit wandte Aehrel sich um und lief zurück in Richtung Ausgang. Aigonn wollte bereits aufspringen und ihn einholen, als Rowilan seine Schulter packte und ihn zurück in die Felle drückte. „Nicht so schnell, mein Lieber. Erst werden deine Wunden versorgt!“ Aigonn wollte protestieren, doch ein stoßartiger Schmerz, der von seiner Rippe ausging, nahm ihm zum Sprechen die Luft. Demnach hatte er keine Wahl, als abzuwarten und es über sich ergehen zu lassen, wie Rowilan zuerst die Pfeilwunde verband und danach gleichsam seinen verletzten Arm und die gebrochene Rippe untersuchte, wo noch immer ein gewaltiger, blauer Bluterguss unter der Haut zu sehen war.


Aehrels Haus war im Kampf deutlich stärker in Mitleidenschaft gezogen worden. Die vordere Hälfte des Gebäudes war praktisch nicht mehr zu gebrauchen, so instabil waren die Wände von den Brandangriffen geworden. Es schien ihm ein Wunder, dass man das Haus noch rechtzeitig hatte löschen können, bevor es gänzlich in sich zusammengefallen wäre.

Aehrel erwartete Aigonn bereits, auch wenn sein Stiefonkel – wie er sich erneut ins Gedächtnis rief – damit beschäftigt war, Äste und dünne Baumstämme als Stützbalken für die zunehmend instabile Decke anzubringen.

„Komm rein, Aigonn!“ Aehrel blickte sich nicht um, als Aigonn eintrat. Sein Onkel hatte ihm den Rücken zugedreht, während er an dem Holz hantierte, und wies nur flüchtig auf die andere Seite des Raumes, die durch verrückte Regale und einen Holztisch nicht einsehbar war. „Dort ist deine Mutter. Ich will dich warnen: Sie hat zwar keinerlei Verletzungen in der Schlacht von sich getragen, doch ich würde sagen, ihr geht es schlimmer als zuvor. Viel schlimmer. Du solltest dich darauf gefasst machen.“

Aigonn nickte nur stumm. Rowilan hatte ihm einen starken Trank verabreicht, der nicht nur seine Schmerzen stillte, sondern gleichzeitig seinen Geist wie durch eine Schale von der Außenwelt abzuschirmen schien. Denken fiel ihm schwer. Er war nicht im Stande dazu, sich größere Szenarien auszumalen, sondern fühlte nur einen dumpfen Druck, tief in seinem Magen, der mehr verriet als jede Sorge. Als Aigonn näher an die Regale herangetreten war, hörte er auf einmal leise, erstickende Menschenlaute. Es waren keinerlei Worte auszumachen, als hätte man dieser Person die Stimme zum Sprechen genommen.

Aigonns Knie zitterten, als er an den Regalen vorbeisah und erblickte, was er im Grunde lieber nicht hatte sehen wollen. Seine Mutter lag auf einem notdürftigen Schlaflager aus Fellen und Grasmatten. Äußerlich waren ihr keinerlei Verletzungen anzumerken, doch ihre weit aufgerissenen Augen schimmerten im Fieberglanz. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, hatten längst ihre schmutzige Bluse durchnässt und ihre Haare strähnig werden lassen. Ihr ganzer Körper bebte und zitterte, als würde sie augenblicklich von Krämpfen geschüttelt. Doch je genauer Aigonn hinsah, desto mehr schien es, als befände sie sich vielmehr auf einer Flucht vor Verfolgern, die nur sie allein sehen konnte. Sie träumte, halluzinierte, was auch immer es war. Aigonn hatte keinen Namen dafür.

Er war neben dem Regal zu einer Säule versteinert und starrte erschrocken auf die Gestalt seiner Mutter, deren Augen zur niedrigen Decke gerichtet waren. Das war es also. So würde es enden. Im Geheimen hatte Aigonn immer geglaubt, gehofft, dass seine Mutter eines Tages zu ihnen zurückkehren würde, aus ihrer eigenen Welt hinaus in die Gegenwart. Doch was immer er sich gewünscht hatte, in diesem Moment war er überzeugt davon, dass es nicht mehr in Erfüllung gehen würde.

Aigonn zuckte unmerklich, als Aehrel die Hand auf seine Schulter legte und ihm traurig ins Ohr raunte: „Vielleicht ist es besser, wenn das Ende schnell kommt!“

„Glaubst du, sie wird sterben?“ Dieser Gedanke weckte Aigonn aus seiner Apathie. Furcht glomm in seinen Augen auf, als er Aehrel ansah und dieser nur betroffen den Blick abwandte. „Sie hat hohes Fieber, ohne dass ich sagen kann, woher es kommt. Nach dem Angriff habe ich sie so hinter den Trümmern eures Hauses gefunden. Wie es scheint, hat sie versucht wegzurennen, als sie den Brand gerochen hat. Instinkte sind manchmal doch stärker als der Verstand. Aber weit gekommen ist sie dabei nicht.“ Er sog hörbar die Luft ein. „Ich weiß nicht, ob sie gestürzt ist. Vielleicht liegt es an dem Rauch, dass es ihr so schlecht geht … Als ich sie gefunden habe, lag der Angriff schon mehr als einen Tag zurück. Die Eichenleute haben noch bis zum nächsten Morgen bei der Siedlung gelagert und auf Flüchtige gewartet. Wahrscheinlich haben sie geglaubt, Moribe würde ohnehin sterben.“

Aigonn gab keine Antwort. Er wusste nicht, was es dazu zu sagen gab. Was er fühlte, hatte keinen Namen. Seine Beine hatten so heftig zu zittern begonnen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor, als er neben seiner Mutter auf die Knie ging. Unendlich langsam hob er die Hand, strich behutsam über ihre Stirn, doch als er die Kälte ihres Schweißes spürte, zuckte er wider Willen zurück.

Ein unverständliches Wort entkam Moribes Lippen. Für einen Moment kämpfte Aigonn mit den Tränen, die aus seinen Augen hervorkriechen wollten und verbiss sich stattdessen in seiner Lippe, bis der Geschmack von Blut seinen Mund füllte. Vorsichtig beugte er sich hinunter, hielt sein Ohr so nah wie möglich über die Lippen seiner Mutter und lauschte.

Die meisten ihrer Laute ergaben keinen Sinn. Für kurze Zeit glaubte Aigonn, Bruchstücke von Worten zu verstehen, doch dann, immer wieder, ein Name. Derona …

Ein Schauer trieb Aigonns Nackenhaare in die Höhe. Plötzlich spürte er sie wieder, die eisige Kälte, die sich um seinen Nacken schloss, die die Luft zum Atmen schwinden ließ. Ruckartig wirbelte er herum. Doch was immer er zu sehen geglaubt hatte, er erkannte nur Aehrel hinter sich, der ihn fragend musterte, und mit einem Herzschlag war jegliche Kälte verschwunden.

Die Worte der Nebelfrau dröhnten wie Todesschreie in Aigonns Ohren. Schlagartig hörte er sein eigenes Blut pochen, sein Atem wollte zu keuchen beginnen.

„Alles in Ordnung, Aigonn?“

Die Wirklichkeit rief nach ihm. Er nickte rasch, doch Aehrel gab sich damit nicht zufrieden. Der skeptische Blick seines Onkels haftete auf ihm, als Aigonn sich von Aehrel auf die Beine ziehen ließ und danach geistesabwesend Staub von seiner Hose klopfte. Als er immer noch nicht auf die Frage einging, schürzte Aehrel mürrisch die Lippen und bot ihm stattdessen an: „Wenn du möchtest, kannst du die Nächte hier in meinem Haus verbringen … oder zumindest, was davon übrig ist. Wenn du bei deiner Mutter sein möchtest. Vielleicht kann deine Anwesenheit ihr helfen, wenigstens im Angesicht des Todes zu uns zurückzukommen. So zynisch es klingen mag: Noch ist nichts verloren.“

Aigonn nickte nur. Der Moment machte deutlicher als viele andere, wie sehr Aehrel an Moribe hing. Auch wenn er den Eindruck gewann, sein Onkel wollte dem Schmerz davonrennen, erkannte er die Wahrheit in seinen Augen. Aigonn wusste nicht, ob es ihm Trost spendete, dass er mit seinen Gefühlen nicht alleine war. Darüber nachzudenken aber würde nicht helfen. Es war zwecklos.

So klopfte er seinem Onkel flüchtig auf die Schulter, bevor er ihn stehen ließ und sich ohne ein weiteres Wort nach draußen flüchtete.


Nicht einmal dreißig Menschen waren gekommen. Die Versammlung war ein klägliches Abbild dessen, was Aigonn von früheren Tagen her kannte. Und wenn die schmerzstillenden Tränke nicht gewesen wären, hätte er diese Tatsache wohl voller Wut und Trauer gegen die Eichenleute beobachtet. Nun aber war sein Kopf von Gleichgültigkeit erfüllt – nicht ausschließlich, doch größtenteils gegenüber derartig geringfügigen Faktoren, die er nur wie aus einem dritten Auge beobachtete.

Rowilan und Aehrel hatten alle Überlebenden des Angriffes zusammengerufen – nicht in Behlenos’ Haus, da dieses durch den großen Brand fast vollkommen zerstört worden war, sondern im Wohnhaus eines Bauern, dessen Familie bis auf Schwager und Cousins vollständig in die Andere Welt übergegangen war. Der Schamane hatte es sich nicht nehmen lassen, vor der Versammlung den Toten ein Opfer zu bringen – allein deshalb, weil bisher kaum Zeit für größere Zeremonien geblieben war.

Aigonn saß neben Rowilan, einen Arm auf dem Boden aufgestützt und den anderen locker in seinem Schoß liegend, während er zur niedrigen Decke hinaufsah. Es baumelten von dort noch immer getrocknete Kräuter und Kornähren hinab. Wer würde sie abhängen? Für wenige Herzschläge glaubte er, die Gestalt der früheren Hausherrin zwischen den Frauen und Kindern zu erkennen. Doch als er abermals blinzelte, war sie verschwunden.

„Meine Brüder und Schwestern, ihr, die ihr als Letzte verblieben und nicht in Gefangenschaft geraten seid!“

Rowilans Worte brachten die murmelnde Menge zum Schweigen. Das Feuer, das man im Zentrum der Gruppe entfacht hatte, rußte stark und schwängerte die Luft mit Rauch, sodass Aigonn manche Gesichter nicht einmal mehr schemenhaft erkennen konnte.

„Ich bin von meiner Reise zurückgekehrt und kann euch sagen: Was ich mir vorgenommen habe, ist mir gelungen.“ Der Schamane verwies mit einer Geste auf Aigonn, während seinen Worten undeutliche Fragen folgten.

„Mir ist es gelungen, in das Lager der Eichenkrieger einzudringen und mit Aigonn wenigstens einen unserer Brüder befreien zu können, nachdem ich die Lage ausgespäht habe.“

„Warum nur ihn?“ Die Frage kam von einer Frau, die auf den ersten Blick in der Gruppe Menschen nicht auszumachen war. Als Aigonn genau hinsah, erkannte er in ihr Brals Mutter, eine bis vor kurzem noch angesehene und wohlhabende Frau, die gute Beziehungen zu weit reisenden Händlern besessen hatte. Der Unterton ihrer Stimme verriet ihm die zweite Frage, die sie nicht auszusprechen wagte: Warum hast du nur diese sonderbare Person befreit, die von den Göttern verflucht ist und uns sicherlich alle noch mehr in Gefahr bringen wird?

Rowilan schien Aigonns Gedanken zu teilen. Denn sein Ton duldete keinen Widerspruch, als er antwortete: „Zum einen war es ein Glücksfall, den Göttern möge es gedankt sein, dass ich überhaupt im Stande war, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Und zum zweiten ist Aigonn in der Lage, auch wenn viele von euch es nicht glauben wollen, uns mehr bei der Befreiung unserer übrigen Stammesbrüder und -schwestern zu helfen als jeder, den ich sonst hätte wählen können.“

„Warum?“ Brals Mutter schien dem Schamanen kein Wort zu glauben. Die alte Frau, fast fünfzig Jahre alt, funkelte Aigonn feindselig an, der in diesem Moment darüber keine Wut empfinden konnte. Rowilan aber legte allen Nachdruck in seine Stimme, der weitere Nachfragen unnötig machte. „Ich weiß, dass ihr Aigonn seit einiger Zeit mit Misstrauen beäugt. Aber lasst euch von mir sagen, dass dafür kein Grund besteht. Aigonn ist mit einer mächtigen Sehergabe beschenkt worden, die auch schon seine Schwester vor ihm in sich getragen hat …“

Als Deronas Name im Raum hing, stockte Rowilan unmerklich. Niemand hatte seit Jahren gewagt, öffentlich über sie zu sprechen, über ihre Fähigkeiten. Denn immer verfolgte sie der Nachhall ihres schrecklichen Todes.

„… und eben diese Gabe versetzt ihn in die Lage, uns dienlicher bei der Befreiung zu sein als jeder andere sonst.“

Aigonn zog die Augenbrauen in die Höhe, blickte Rowilan an und nahm den anderen im Raum die Frage vorweg: „Das musst du mir etwas genauer erklären!“

„Ich gedenke in den nächsten Tagen – ansonsten könnte es zu spät sein – mit so vielen kampffähigen Männern und Frauen wie möglich gegen das Lager der Eichenleute vorzurücken. Du wirst mir helfen, mögliche Wachposten ausfindig zu machen – wir müssen sehen, zu wie viel du ohne eine Ausbildung in der Lage bist. Im Schutz der Dunkelheit werden wir die einzige Gelegenheit haben, gleichzeitig die Gefängnisse unserer Stammesbrüder zu umringen und die Wächter unschädlich zu machen. Sonst bleibt praktisch keine Zeit. Wer zu langsam ist, riskiert, alles aufs Spiel zu setzen.“

Aigonn lächelte ironisch. „Das klingt wie ein Selbstmordkommando!“

„Ich muss gestehen, es ist auch kein echter Schlachtplan.“ Nun klang Rowilan ehrlich niedergeschlagen, auch wenn er dies zu verbergen suchte. „Es ist die einzige Möglichkeit, die ich gesehen habe, ohne das Lager offen anzugreifen.“

„Wozu die Heimlichkeit?“, mischte sich nun Aehrel ein. „Fewiros wird allmählich von unserer misslichen Lage erfahren haben. Er lässt uns nicht im Stich! Das kann er gar nicht!“

„Bist du dir da wirklich so sicher?“ Dieser eine Satz verriet Rowilans wahre Position gegenüber Behlenos’ Cousin. „Ich behaupte, es würde Fewiros gelegen kommen, so lange zu zögern, bis er Behlenos tot weiß und ein neuer Fürst erwählt werden soll. Eine bessere Chance wird sich ihm niemals mehr bieten.“

„Um die Macht zu erlangen, meinst du?“ Aehrel lächelte abfällig, aber geheimnisvoll. „Ich fürchte, wir müssen abwarten.“

„Eben.“ Der Schamane atmete tief durch. „Wir müssen abwarten. Aber nicht mehr lange. Khomal wird längst erfahren haben, dass Aigonn und mir die Flucht geglückt ist. Es wird für die Eichenleute eine Leichtigkeit sein, uns alle hier in der Siedlung gefangen zu nehmen und zu töten.“

Eine bedrückende Stille hing im Raum. Jeder war sich seiner Lage bewusst, doch das Gefühl, es nun ausgesprochen zu wissen, war noch einmal etwas völlig anderes. Keiner von ihnen war Unfreiheit und Tod so nahe gewesen wie in diesem Moment – vielleicht nicht einmal während der Schlacht. Denn viele der hier Anwesenden waren früh und schnell mit ihren Kindern geflohen und erst später zurückgekehrt. Man hörte Widerstreben in ihrer Stimme, als nun wieder Brals Mutter einwarf: „Heißt das, wir sollten die Siedlung verlassen?“

„Vielleicht ist es sinnvoll“, antwortete Rowilan. „Nicht heute, aber bald. Bevor wir gegen die Eichenleute vorrücken, werden wir unser gesamtes Hab und Gut sicher irgendwo in der Nähe verbergen – in den Wäldern, weiter südlich am Ufer der Rur …“

Aigonn erwartete Einspruch, doch es folgte keiner. Er selbst zwang sich lange dazu – entgegen jeglicher schmerzstillender Kräuter, die seinen Geist umarmten – zu diesem Thema Stellung zu beziehen. Aber erfolglos. Fragend blickte er zu dem Schamanen, als ob dieser alle Fragen der Welt beantworten könnte. Rowilan aber sagte abschließend fast zu sich selbst: „Ich sollte nicht der sein, der hier Schlachtpläne schmiedet. So etwas habe ich nicht gelernt. Es wird Zeit, das der alte Rat unter Behlenos wieder zusammenkommt!“

Die wenigsten hatten zu dieser Versammlung noch etwas beizutragen. Als sich die Gruppe Menschen beinahe aufgelöst hatte, setzte Aigonn sich neben Rowilan auf, streckte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und stellte an den Schamanen eine unausgesprochene Frage. Dieser erahnte seine Gedanken, erwiderte aber: „Ich merke, dass … Anation …“ Lhenias Name schien ihm auf der Zunge zu liegen, doch er zwang sich dazu, Aigonns Neuinterpretation zu verwenden. „… dir sehr viel bedeutet. Aber ich kann ihr vor den anderen keinen Vorrang geben.“

Anation bedeutete ihm viel? Aigonn hatte sich diese Frage, in solcher Direktheit, nie gestellt. Statt sich damit aber auseinander zu setzen, schob er den Gedanken beiseite und hakte noch einmal nach: „Du bist also der Heerführer?“

„Wenn Aehrel diese Aufgabe nicht kurzfristig für sich beansprucht, werde ich es wohl sein, ja. Obwohl es mir lieber wäre, er würde es tun. Mir ist eine Verantwortung unangenehm, wenn ich von der Materie im Grunde keine Ahnung habe!“

„Es kann dir nicht schlechter ergehen als Behlenos. Und selbst er ist damit zum Fürst geworden – die Götter allein wissen warum.“

„Oh, du solltest ihn nicht unterschätzen!“ Rowilan lächelte schelmisch. „Behlenos hat Qualitäten, die dir auf den ersten Blick gar nicht auffallen mögen!“

„Auf den zweihundertsten bisher aber auch nicht, muss ich gestehen. Zumindest, was die Kriegsführung betrifft.“

Mit diesen Worten erhob Aigonn sich und verließ kurz darauf zusammen mit Rowilan das Haus. Die Sonne näherte sich bereits orange glühend dem Horizont, sodass das Licht eine Kraft in sich trug, als wollte es die ganze Welt verbrennen. Für Augenblicke starrte der Schamane versonnen nach Westen, bevor er zu Aigonn sagte: „Ich bin froh, dass du mir vertraust! Es ist gut zu wissen, an Tagen wie diesen nicht allein zu sein!“

Sah Rowilan ihn bereits als seinen Gefährten? Aigonn wollte dem Frieden, der diesem Gedanken innelag, nicht so recht trauen. Alte Skepsis stieg in ihm hoch, während er den Schamanen vor sich beäugte. Doch als ihre Blicke sich trafen, fühlte er, dass es an der Zeit war, endlich abzuschließen – mit Verblendung, der Vergangenheit, so vielen namenlosen Dingen, über die Aigonn nicht nachdenken wollte. Ganz gleich, ob Rowilan seine Gedanken erahnt hatte. Der Schamane lächelte warm, als er Aigonn die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Ruh dich morgen noch einmal aus. Vielleicht begegnen wir übermorgen bereits den Göttern!“

„Glaubst du, wir werden scheitern?“

„Du könntest Gewissheit bringen – wenigstens mir. Immerhin erzählen die Legenden der Alten, dass ihre Seher nicht nur die Geister der Anderen Welt sahen, sondern auch von den Göttern selbst ihr eigenes Schicksal erfuhren. Vielleicht willst du es versuchen?“ Diese Frage hatte Aigonn nicht erwartet und damit Rowilans Vermutung bestätigt. Überrascht zog er die Augenbrauen in die Höhe, bevor er fragte: „Glaubst du, dass ich dazu in der Lage bin?“

Der Schamane sah ihn einen Moment lang an, erst offen, dann nachdenklich. Als seine Gedanken gänzlich in seinem Geist und der Vergangenheit verloren schienen, trat ein Schatten auf sein Gesicht, der Aigonn eine dumpfe Vorahnung brachte. Ein bekannter Name schwebte zwischen ihnen beiden. Das Lächeln war verschwunden, als Rowilan antwortete: „In der Lage vielleicht. Aber solange du es nicht spüren kannst, bist du auch nicht bereit dafür.“

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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