Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 30

Der Bote

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Die dünne Rauchsäule verschmolz mit den wenigen Federwolken, die sich den Himmel noch mit der Morgenröte teilten. Der strenge, würzige Duft der Kräuter brannte Aigonn in der Nase, wärmte aber für einen kurzen Moment die kalte Einsamkeit, die sich wie ein Kokon um ihn zusammengezogen hatte.

Der Scheiterhaufen war beinahe heruntergebrannt. Nur noch wenige Holzscheite waren zwischen der vielen Asche zu erkennen, die sich mit dem gemischt hatte, was einst Aigonns Mutter gewesen war. Er selbst starrte leer über die Totenaue. Die leise, monotone Melodie ihrer Ahnen, mit welcher Rowilan Moribes Seele in die Andere Welt geleitete, hatte auf eine gewisse Weise etwas Tröstendes. Ihr haftete der Gedanke an, dass sich alles in diesem Leben wiederholte, von Monaten über Jahre, Jahre über Jahrzehnte, Jahrzehnte über Generationen. Schon seine Ahnen hatten auf dieselbe Weise getrauert, vor so langer Zeit schon.

Als Rowilans Lied verklungen war, starrten beide Männer einen Augenblick lang in den Sonnenaufgang. Es waren viele der Überlebenden des Dorfes gekommen, als der Scheiterhaufen entzündet worden war. Nun aber, eine lange Zeitspanne später, waren sie beide allein mit der Asche und ihren Erinnerungen.

Aigonns Gedanken waren weit von der Totenaue entfernt, als er den Schamanen fragte: „Warum verbrennen wir die Toten eigentlich? Das haben wir früher nie getan.“

„Wenn es viele Tote gibt, können wir nicht immer für jeden einzelnen ein eigenes Grab ausheben. Das ist leider der Geschmack des Krieges.“

„Mutter ist nicht im Krieg gestorben.“

„Behlenos hat mir davon erzählt, dass die Völker weiter im Süden die meisten ihrer Toten verbrennen. Nur die Würdigsten werden in einem Grabhügel bestattet, damit ihr Geist länger bei den Lebenden bleibt und diesen beisteht. Vielleicht sollten wir in Zukunft genauso verfahren.“

Aigonns Gesichtsausdruck verriet, dass ihm dieser Gedanke nicht gefiel: „Nun ja, bald ist auf der Totenaue kein Platz mehr. Aber was ist mit den Erinnerungen? Wenn wir sie mit der Asche von Holz mischen und nur in einer Urne ins Erdreich geben, werden sie schwer zu finden sein. Wenn die Urne zerstört wird, sind sie vielleicht für immer verschwunden.“

Rowilan schmunzelte herausfordernd. „Wer wird denn kommen, um die Erinnerungen zu suchen? Die Gräber gehören den Toten, Aigonn. Keiner der Lebenden hat dort etwas zu suchen – auch du nicht. Betrachte das, was du … für … Derona getan hast, als einmalige Ausnahme.“

Darauf kam keine Antwort mehr. Während die Nebelschwaden über die Wiese krochen – vom See aus, der still und friedlich dalag –, wanderte die Morgensonne weiter, wurde kräftiger, bis sie das sommerliche Blattwerk des nahen Waldes fast unwirklich strahlen ließ. Der Höhepunkt des Sonnenjahres stand kurz bevor. In vier Tagen schon würden die Nächte wieder länger werden.

Als Aigonn erneut zu Rowilan sah, war auch der Schamane in seinen Gedanken verloren. Die Falten in seiner Stirn verrieten, dass es hinter seiner Schädeldecke arbeitete. Aigonn erriet die Gedanken, als er fragte: „Wer ist die Tochter des Sängers?“

Der Schamane ließ sich Zeit für eine Antwort. Er sah Aigonn nicht an, als er aussprach: „Ich glaube es zu wissen, aber es ergibt keinen wirklichen Sinn. Nicht dafür, was ich bisher gedacht habe. Was so gut gepasst hat.“

„Was glaubst du denn zu wissen?“

„Wer an all dem hier Schuld trägt.“

Aigonn zog erstaunt die Augenbrauen in die Höhe. Er musterte Rowilan nachdenklich und unsicher darüber, inwieweit der Schamane ihn in seine Vorahnungen einweihen würde. Immerhin hatte er sich jüngst nicht unbedingt hervorgetan, die Angelegenheit gelassen und besonnen anzugehen.

Und seine Zweifel waren berechtigt. Rowilan schwieg. Nach einem Moment hatte es den Anschein, als bereute er, diesen einen Gedanken ausgesprochen zu haben, der ihm so plötzlich in den Sinn gekommen war. Der Schamane schien Aigonns Enttäuschung darüber zu spüren, doch sie beide ließen dieses Thema ruhen. Aigonn wusste, dass Bohren nutzlos sein würde.

Für einen tiefen Atemzug starrte er versonnen in den erwachenden Morgen. Die Zeit hielt nicht inne. Das Leben lief weiter und forderte seine Opfer, ohne dass irgendjemand sich dagegen wehren konnte. Anation. Der Gedanke an die junge Frau setzte Aigonn einen schmerzenden Knoten in die Kehle. Die Worte des Khomal hallten seit ihrem Aufbruch in seinen Ohren wider. Schon in jener Nacht im Zentrum des Eichenlagers hatte Aigonn gespürt, dass der Eichenfürst die junge Frau nicht hatte gehen lassen wollen. Und jetzt wird er es erst recht nicht tun.

Sein Blick haftete noch auf dem Scheiterhaufen seiner Mutter, als seine Zunge wie von selbst zu sprechen begann: „Ich werde in den Wald reiten. Khomal wird nun erst recht Späher nach uns aussenden, um die Lage zu beobachten. Wahrscheinlich sind es noch die Verfolger von vor zwei Tagen. Vielleicht lässt sich aus ihnen etwas herausbekommen.“

Anations Name hing unausgesprochen zwischen Aigonn und Rowilan. Der Schamane wusste genau, was ihn vorantrieb, und Aigonn war dankbar dafür, dass er ihn nicht verurteilte. Denn seine Sorge galt allein Efoh und der jungen Frau. Er selbst kam sich bei dem Gedanken schäbig vor, das Leben seiner Stammesbrüder und -schwestern an zweite Stelle zu setzen, doch etwas in ihm konnte einfach nicht anders.

Unvermittelt atmete Aigonn aus, als er Rowilan sagen hörte: „Ich werde dich begleiten. Sobald wir wissen, wie es um die Lage bei den Eichenleuten bestellt ist, können wir versuchen, auch die anderen Geiseln zu befreien.“

Damit erhob der Schamane sich. Unmerklich berührte seine Hand Aigonns Schulter, und diese kleine Berührung genügte als Aufforderung. Ein letztes Mal blickte er zum Scheiterhaufen seiner Mutter, dann erhob er sich schweren Herzens und folgte Rowilan zur Siedlung zurück.

Kurz darauf trugen zwei Pferde die Männer durch den Wald. Sie ritten nur ein Stück im Schritt auf schlecht zugänglichen Wegen, bis sie das Gebiet erreicht hatten, in welchem Rowilan erste feindliche Späher vermutete. Ihre eigenen Kundschafter sicherten das Gebiet nur in einem Abstand von gut fünf Meilen. Es waren zu wenige Bärenjäger verblieben, die im Stande waren, sich wie unsichtbar im Wald zu bewegen, als dass man sie der Gefahr aussetzen konnte, einer Gruppe feindlicher Späher in die Hände zu fallen. Diese nämlich waren sich den unsichtbaren Augen Rowilans wohl bewusst, sodass sie mit besonderer Aufmerksamkeit nach eben diesen Ausschau hielten. Fähig waren beide Stämme, nur verschuf den Eichenleuten ihre Überzahl an Männern einen spürbaren Vorteil.

Auf einer geschützt liegenden Lichtung ließen Aigonn und Rowilan ihre Pferde zurück. Eine gewaltige, umgestürzte Eiche lag wie ein schlafender Gott zwischen Sträuchern und schwer durchdringbarem Buschwerk und hatte mit ihrem Fall ein Loch in die Blätterdecke des Waldes gerissen, das die Sonne mit einer Lichtsäule füllte.

Aigonn selbst hatte keinen Blick für dieses Bild. Wie durch einen Tunnel sah er nur die Sträucher und Bäume, die seine Schultern streiften. Sein Instinkt allein schien seine Beine zu einem von Buschwerk geschützten Vorsprung zu führen, der eine ausgezeichnete Sicht über die nahe Umgebung bot, selbst aber eine Gestalt fast vollständig verschwinden lassen konnte.

Seite an Seite drückten die beiden Männer sich dort in das Laub – und warteten. Aigonn konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging. Mit jedem Herzschlag wuchs eine so nicht gekannte Unruhe in seinem Innersten. Als schließlich seine Hände nervös zu zucken begannen, spürte er auf einmal die Hand des Schamanen auf seinem Unterarm.

„Aigonn!“, flüsterte er. „Noch ist nichts zu spät! Du darfst nicht die Nerven verlieren, sonst bringst du alles in Gefahr!“

Aigonn antwortete nicht. Reglos starrte er zwischen den Ästen des Dornenstrauches hindurch. Er spürte kaum, wie die Nässe des Bodens langsam in seine Kleidung kroch. Anation. Heute musste er Erfolg haben. Wenn er es wagte, den Weg zur Siedlung der Eichenleute zu suchen, konnte Anation an einem anderen Ort schon gestorben sein. Er musste den genauen Standort erfahren. Eine andere Möglichkeit hatte er nicht. Wenn es nicht schon zu spät war.

Die Sonne hatte ihren Zenit fast erreicht, als Rowilan endlich aufblickte und kurz darauf zur Reglosigkeit versteinerte. Aufgeregt blickte Aigonn zu seinem Gefährten. Auf den ersten Blick war für ihn nicht auszumachen, woran der Schamane einen möglichen Späher erkannt haben mochte. Doch als er genauer hinsah, erblickte er auf einmal, wie sich einer der Sträucher direkt unter dem Vorsprung gleichmäßig bewegte, langsam, vorsichtig, nach einem Moment aber blitzte für einen Atemzug der rote Schopf eines jungen Mannes zwischen den sommergrünen Blättern auf.

Aigonns Puls schien sich zu überschlagen. Rowilans Griff an seinem Arm verfestigte sich und wurde zu einem störenden Hindernis, das er am liebsten augenblicklich abgeschüttelt hätte. Doch ihm war bewusst, dass er nicht unüberlegt handeln durfte. Einen kleinen Augenblick später tauchte eine zweite Gestalt im Dickicht auf. Der Schamane tippte Aigonn kaum merklich in die Seite, bevor er durch ein Nicken zu verstehen gab, dass er den ersten Mann übernehmen wollte. Dann, unendlich langsam, krochen sie beide den Vorsprung zurück. Die Gestalten der Späher waren außer Sicht geraten, doch Aigonn vertraute darauf, dass der Schamane sie abfangen konnte.

Ein Moment, ein Augenblick, wenige Herzschläge. Sie würden Gewissheit bringen. Die Tatsache allein wollte Aigonn zerreißen. Seine rechte Hand umklammerte krampfhaft den Griff seines Messers, während er sich neben Rowilan an den Felsvorsprung drückte.

Dann kamen sie. Es geschah so schnell, dass Aigonns Geist es erst fassen konnte, als es vorbei war. Ein junger Mann, einundzwanzig vielleicht, erschien für einen Atemzug zwischen den Ästen eines Baumes, Rowilan schoss vor, packte ihn bei den Armen. Im selben Moment erblickte Aigonn, wie sein Gefährte auf dem Absatz kehrtmachte und in den Wald hineinrannte.

Aigonn brauchte keinen Gedanken mehr zu fassen. Ohne zu zögern nahm er die Verfolgung auf. Äste krachten unter den Schritten des Verfolgten. Das Geräusch entfernte sich, verlor aber an Geschwindigkeit. Aigonn kannte das tückische Dickicht in diesem Teil des Waldes mit seinen vielen Dornensträuchern. Der Flüchtende war demnach besonders ungeschickt oder definitiv nicht ortskundig.

Im Gegensatz zu ihm rannte Aigonn einen Bogen, tauchte unter einem riesigen Holunder hinweg und fand sich mitten im Buschwerk wieder. Das Rascheln und Knacken kam immer näher, wurde lauter. Ein erstickter Fluch hallte durch den Wald, während jemand ohne Rücksicht auf Verluste um sein Leben zu rennen versuchte.

Allmählich erkannte Aigonn einen Kopf irgendwo im Dickicht, der sich immer schneller vorwärts bewegte. Er beschleunigte sein Tempo. In Gedanken schickte er unzählige Dankesbekundungen an Rowilan und seine Fertigkeit, Schmerzen auf Dauer zu lindern.

Auf einmal knackte es vor Aigonn empfindlich, dann folgte ein dumpfer Aufschlag, ein erstickter Schmerzenslaut – und seine Chance. Mit einem Sprung wetzte er aus dem Dickicht heraus, erkannte sein Opfer, das über eine Wurzel gefallen war und sich nicht schnell genug aufrappeln konnte.

Der junge Krieger keuchte noch einmal auf, als Aigonn sich auf ihn stürzte und mit beiden Händen seinen Körper zurück auf den Boden drückte. Ohne auf das schmerzerfüllte Stöhnen zu achten, verlagerte er sein Gewicht ein Stück zur Seite, packte die Hände des Mannes mit beiden Händen und drehte ihn auf den Rücken, dass er sein Gesicht erkennen konnte.

Todesangst starrte Aigonn aus zwei großen Augen entgegen. Den jungen Mann aber hatte er niemals zuvor gesehen. Ein stilisiertes Eichenblatt an seinem Hemdkragen, das unter einem abgenutzten Wollumhang nur halb zu sehen war, verriet schnell den Grund für seine Flucht und erfüllte Aigonn plötzlich mit brennender Erregung.

„Sieh an! Wie hast du dich denn hierher verlaufen?“

Er fasste die Hände des Jungen noch fester, als dieser ersten Widerstand leistete, und drückte sie so fest auf die Erde, dass der Eichenkrieger aufkeuchte. Sein Blick verriet die Standhaftigkeit, die er jahrelang trainiert haben musste und nun mit aller Gewalt aufrechtzuerhalten versuchte. Doch sein Kampf gegen die Panik schien immer aussichtsloser zu werden.

„Was willst du, elender Hund?“ Der Späher hatte angesetzt, Aigonn ins Gesicht zu spucken, doch ein schallender Schlag auf seine Wange gab ihm keine Gelegenheit dazu. Aigonn glaubte, sich nicht mehr halten zu können. Alle Wut, die sich binnen der vergangenen Tage angesammelt hatte, wollte aus ihm herausbrechen. Sein ganzer Körper bebte, als er dem Eichenkrieger ins Gesicht schrie: „WAS ICH WILL? Ich will die Wahrheit, du von den Göttern verfluchter Bastard! Euer Fürst hält eine Frau gefangen, deren Leben mir mehr wert ist, als ihr euch vorstellen könnt! Was ist mit Lhenia passiert, mit der Wiederauferstandenen, der, die ihr alle fürchtet? Was habt ihr mit ihr gemacht?“

Der Eichenkrieger spie Blut zu Boden. Erst jetzt bemerkte Aigonn, dass er dem jungen Mann einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte, der schräg und fast ohne Halt zwischen zwei weiteren, schief stehenden Zähnen hing.

Dann, auf einmal, begann dieser zu lachen. Aigonn glaubte, die Wut würde ihn zerreißen, als der Späher todesgewiss allen Mut sammelte und ihm mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen offenbarte: „Spar dir die Mühe! Die von allen Göttern verdammte Hexe wird keine Gelegenheit mehr haben, uns mit ihrem dunklen Zauber zu blenden! Noch heute Abend übergibt mein Herr Khomal sie den Geistern des Moores und du kannst nichts dagegen t…“

Weiter kam er nicht. Aigonn spürte das Nasenbein brechen, als seine Faust wie von selbst in das Gesicht des Spähers schoss. Ein gellender Schmerzensschrei verhallte, dann brachte die Messerklinge, die Aigonn ihm in die Brust rammte, ihnen beiden Frieden. Aigonn jedoch nur für kurze Zeit.

Die ganze Welt schien sich zu drehen. Er glaubte, dem Wahnsinn zu verfallen. Wut und Angst begehrten gleichzeitig in seiner Seele auf. Sie zehrten an ihm wie glühendes Pech, wollten ihn verbrennen, verschlingen, während gleichzeitig mit jedem Lidschlag sinnlosen Innehaltens neuer Zunder in die Flammen geworfen wurde.

„ROWILAN!“ Aigonn hatte keine Zeit, sich seiner Tat bewusst zu werden. Als wäre der tote Eichenmann eine Wurzel, riss er ihm das blutbesudelte Messer aus der Brust, sprang auf und rannte brüllend in Richtung des Felsvorsprungs, von dem sie gekommen waren. „ROWILAN!“

Es dauerte einen Moment, bis der Schamane sich keuchend den Weg durch das Dickicht freigekämpft hatte. Eine Platzwunde prangte dreckverschmiert an seiner Stirn und verlief beinahe in die Abschürfungen auf Wange und Nase, die stumme Zeugen eines Zweikampfes waren. Tief atmend erklärte er: „Der … Kerl ist mir entwischt. Konntest du …“

„ROWILAN, VERDAMMT!“

Der Schamane erbleichte. Erst jetzt wurde er sich der Panik gewahr, die Aigonns Züge wie ein Krampf gefangen hielt.

„Bei allen Göttern, was ist denn passiert?“

„Sie werden Anation umbringen! Heute Abend noch! Wir müssen los! Er hat gesagt, sie soll den Moorgeistern übergeben werden. Uns bleibt keine Zeit mehr!“

Rowilan brauchte einen Herzschlag, um zu begreifen und zu reagieren, was Aigonn fast den Verstand zu kosten schien. Wie konnte er noch zögern? Jeder Augenblick des Wartens war für immer verloren, ein wertvoller Funke Zeit, der ihm hinterher fehlen konnte. Sie werden Anation umbringen. Er würde sie für immer verlieren!

Da Rowilan noch immer die Fassung nicht recht wiedergefunden hatte, packte Aigonn den Schamanen kurz entschlossen am Arm und zog ihn im Laufschritt hinter sich her, den Pferden entgegen. Ungeachtet aller Späher, die noch im Wald auf sie lauern konnten, trat Aigonn jeden Strauch nieder, der ihm im Weg stand und für den seine Kräfte genügten. Unterdessen fragte er den noch immer perplexen Rowilan: „An welchem Moor führen die Eichenleute ihre Rituale aus?“

„Das Rote Moor. Es ist das Moor, in dem wir gelagert haben. Wenn du dich an den Weg erinnerst, könntest du bis zum Nachmittag dort sein.“

„Gut.“ Mehr wollte Aigonn nicht hören. Sobald die Pferde in Sicht kamen, riss Aigonn mit einem Griff den Strick los und setzte bereits an, sich auf den Rücken seines Reittieres zu schwingen, als Rowilan letztendlich seine Fassung zurückgewann.

„Aigonn, warte!“

Wider Willen wurde Aigonn zurück zu Boden gezogen. Seine Wut schien zu explodieren. Mit mehr Gewalt, als es gut tat, schüttelte er die Hand des Schamanen ab, bevor er abermals versuchte, aufzusitzen. Rowilan jedoch vereitelte auch diesen Versuch, diesmal deutlich hartnäckiger. „AIGONN, BEI DEN GÖTTERN, BESINNE DICH!“

„LASS MICH GEHEN, VERDAMMT!“ Er versuchte, sich dem Griff des Schamanen zu entziehen, dieser aber hielt nun seinen Oberkörper fest, sodass Aigonn beinahe stolperte, hätte Rowilan ihn nicht aufgefangen. „ZUERST WIRST DU ZUHÖREN! Verdammter Hitzkopf! Was willst du tun? Mit den Pferden zum Roten Moor reiten, in die Reihen der Feinde preschen und die Jungfrau retten, wie es nur alte Sagenhelden tun? Ist das dein Plan?“

Aigonn wusste nicht, was er antworten sollte. Am liebsten hätte er Rowilan von sich gestoßen. Er musste fort, weg von hier! Es blieb keine Zeit. Allmählich jedoch begann die leise Stimme seiner Vernunft wieder die Oberhand zu gewinnen. Widerwillig hielt er inne, um sich anzuhören, was Rowilan zu sagen hatte:

„Bitte warte ab! Ich weiß, dass … Anation dir etwas bedeutet und verstehe deine Panik. Aber du hilfst weder ihr noch dir selbst, wenn du allein in den sicheren Tod reitest! Oder glaubst du, Khomal rechnet nicht mit einem Angriff? Er hat erfahren, dass du entkommen bist! Ich glaube vielmehr, er wird auf dich warten. Vielleicht ist es eine Falle; dieser Mann ist gerissener, als wir beide glauben, fürchte ich!“

Aigonn hatte das Gefühl, sein Kopf würde zerplatzen. Eine Stimme in seinem Inneren murmelte, dass Rowilans Warnung vernünftig war, er besser warten sollte. Doch alles andere wehrte sich dagegen. Anation. Sie bedeutete ihm etwas? Er musste sich eingestehen, dass Rowilan nicht Unrecht hatte. Vielleicht traf seine Aussage die Wirklichkeit besser, als Aigonn es wahrhaben wollte. Doch in diesem Moment stand ihm nicht der Sinn danach, sich mit dieser Frage auseinander zu setzen. Erzwungen ruhig hakte er deshalb nach: „Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“

„Du kannst nicht alleine reiten, das ist Irrsinn! Wir werden in der Siedlung nach verbliebenen Kriegern suchen, die uns begleiten können. Lass uns wenigsten warten, bis Aehrel zurück ist, wo auch immer er bleibt!“

„Gut.“ Vermutlich hatte er keine Wahl. Die Gewissheit, dass Anation in so unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, trieb Aigonn immer noch beinahe in den Wahnsinn. Er nahm sich jedoch so weit zusammen, dass er an Rowilans Seite zur Siedlung zurückkehrte und dort die Nachricht unter den Überlebenden verbreitete. Zu Aigonns Verdruss zeichneten sich die Männer durch Zurückhaltung aus. Es waren so wenige verblieben, dass niemand für eine waghalsige Befreiung sein Leben und die Sicherheit der spärlich geschützten Siedlung opfern wollte – erst recht nicht, wenn es sich nur um eine einzige Person handelte, die sie alle seit Tagen mit Furcht und Unbehagen beobachtet hatten. Rowilan hatte Mühe, Aigonn zu besänftigen. Seine Geduld wurde auf die Zerreißprobe gestellt. Als der Morgen schließlich zum Vormittag wurde und sich nicht einmal Aehrel blicken ließ, erschöpfte sie sich schließlich. Aigonn sprang von dem Hocker im Haus seines Onkels, wo sie auf diesen gewartet hatten, packte sein Schwert und die Scheide und verkündete: „Es reicht! Komm mit mir oder bleib hier, Rowilan. Mir soll es gleich sein. Ich weiß nur, dass ich nicht noch länger warten werde!“

„Aigonn …“ Der Schamane fühlte, dass nun jegliche Widerworte zwecklos wären. Entschlossen trat Aigonn in den sonnigen Vormittag hinaus, suchte das Pferd, das ihn schon auf der Flucht vor den Eichenkriegern hierher getragen hatte, und legte ihm Zaumzeug an. Als das Tier fertig zur Abreise war, fragte er noch einmal Rowilan, der sein Treiben schweigend beobachtet hatte: „Kommst du mit?“

„Ich lasse dich nicht im Stich, das verspreche ich dir! Aber ich werde noch warten. Vertrau mir, auch du kommst nicht zu spät, wenn du uns ein wenig länger Zeit gibst!“

„Nein. Jetzt nicht mehr. Ich kann nicht mehr warten, es bringt nichts.“ Mit diesen Worten saß Aigonn auf. Das kleine, stämmige Pferd war gerade groß genug, dass seine Beine einen knappen Fuß breit über dem Boden endeten, sodass Rowilan ihm noch eine Hand auf die Schulter legen konnte. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder!“

Der Nachhall dieses Moments beängstigte Aigonn. Es hatte plötzlich alles etwas Endgültiges an sich, der Tod seiner Mutter, Anations Hinrichtung. Fast schien es, als strebe das Rad seines Lebens den letzten Höhepunkt an, bevor es seinen Lauf vollendete, er, Aigonn, selbst den Weg in die Andere Welt finden würde, um irgendwann wiederzukehren. Eine so nicht gekannte Wehmut erfüllte ihn mit einem Mal. Für einen Augenblick wurde ihm seine eigene Starrsinnigkeit so schmerzlich bewusst, dass er sich von Rowilan abwandte und das Pferd antrieb.

Wie oft hatte er diesen Mann und sein Tun verteufelt? Aigonn hatte niemals hinsehen wollen, in diesen Situationen, die ihm die Wahrheit hätten vorhalten können. Nun war es zu spät, vielleicht. Die vielen Chancen, die er in seinem Leben ungenutzt hatte verstreichen lassen, bildeten einen Kloß in seinem Hals, den er nur mit Mühe herunterschlucken konnte. Als sein Pferd an den Wachen vorbei aus der Siedlung hinaustrabte, sah Aigonn nicht mehr zurück. Es hatte keinen Sinn mehr für ihn.

Vielleicht, Rowilan, werden wir in einem anderen Leben Freunde.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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