Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 35

Das zweite Leben

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In dieser Nacht war nicht mehr viel passiert. Trotz dem einseitig recht glücklichen Ausgang der Ereignisse, schlug bald Erschöpfung über allen Beteiligten zusammen. Obwohl die Grotte Schutz vor Wildtieren und schlechter Witterung bot, hielt Aigonn es dort nicht aus. Mit wackeligen Beinen hatte er sich unter den freien Sternenhimmel gerettet, von Anation und Rowilan gestützt, die draußen im Schatten der Felswand ein Feuer entzündeten.

Anation verlor als erste den Kampf gegen die Müdigkeit. Obgleich es Rowilan missfiel, ihr keine weiteren Fragen stellen zu können, verstand er, dass es ohnehin nicht der richtige Zeitpunkt gewesen wäre. Stattdessen weihte er Aigonn in die Geschehnisse ein, der sich zwanghaft wach hielt, bis alle Fragen beantwortet waren. Es fiel dem Schamanen schwer zu beurteilen, wie der junge Mann die Ereignisse auffasste. Im ersten Moment glaubte er, Schrecken in seiner Regung auszumachen, dann wurde sie zu einem stillen Erkennen. Aigonn verblieb erschreckend schweigsam und begann, Rowilan die restliche Nacht über zu ignorieren, während er ins Feuer starrte und irgendwann einschlief.

Die Gefährten ruhten fast bis zum nächsten Mittag. Rowilan war der einzige, der bis zum Morgengrauen wachgelegen hatte, den Blick zu den Sternen gerichtet, die immer wieder zwischen Wolken und den Silhouetten der im Wind schwankenden Bäume auftauchten. Der Schamane schlief nur kurz und unruhig, erwachte bald wieder völlig unausgeschlafen, jedoch unfähig dazu, weitere Ruhe zu finden. Rastlos streifte er durch den nahen Wald, von den Geistern beobachtet und den Tieren akzeptiert, die ihn hier in dieser Gegend zwar nicht kannten, doch spüren konnten, wozu er in der Lage war.

Irgendwann fand er schließlich Aehrel. Der alternde Krieger saß steif im Laub, unbeweglich, sprach kein Wort dazu, als Rowilan sein erstes Erstaunen überwunden hatte und ihn bat, mit ihm zu kommen. Aehrel sagte nichts, reagierte schwerfällig, kam aber mit ihm – von einer Resignation erfüllt, die dem Schamanen beinahe Angst einjagte.

Zu viert kehrten sie demnach zur Siedlung zurück. Die Eichenleute ließen sie unbehelligt oder fanden sie nicht, warum konnte man nicht sagen. Jedenfalls wurde es eine schweigsame Heimreise, auf welcher kaum Worte fielen, bis endlich die sich im Aufbau befindenden Palisaden des Dorfes in Sicht kamen.


„Ich werde zu Khomal reisen, selbst. Wir können vorher einen Boten schicken, wenn du es für besser hältst. Aber über die eigentlichen Angelegenheiten will ich selbst verhandeln, ich, jetzt, da Behlenos tot ist.“

Langsam schritt Rowilan über die Strohmatten seines kleinen Hauses hinweg. Sein Blick wirkte nach innen gekehrt. Obwohl er die Stimme immer wieder an ihn richtete, schien er Nawos kaum zu beachten, der sich auf einem Schemel niedergelassen hatte. Im Gegensatz zu diesem wusste Aigonn sehr gut, was er davon halten sollte – sah man von der Tatsache ab, dass es ihn weniger interessierte, als er eigentlich wollte. Die Stimme des Schamanen schien von weit weg zu kommen, obwohl Aigonn keine zwei Fuß weit von ihm entfernt auf Rowilans Bettstatt saß und die Mimik des Schamanen versonnen beobachtete.

Behlenos war tot. Diese Nachricht hatte sich innerhalb der Siedlung schneller verbreitet als die von Anations Rettung und Aehrels Verbrechen. Binnen kürzester Zeit hatte man eine Versammlung einberufen und Rowilan die Macht erteilt, bis zur Wahl eines neuen Fürsten die Verantwortung für das Dorf zu übernehmen. Aehrels Schicksal im Gegenzug war schon beschlossen gewesen, längst bevor man darüber hätte abstimmen können. Er hatte junge Menschen getötet, mit Derona sieben an der Zahl. Dass es im Grunde nicht seine Absicht gewesen war, spielte vor diesem Hintergrund keine Rolle. Er hatte ihren Tod billigend in Kauf genommen, und Aigonn beschäftigte sich noch immer damit, wie er diese Tatsache auffassen sollte.

Vielleicht aus diesem Grund war er Rowilan gefolgt, als dieser Nawos, einen greisen und erfahrenen Berater des Behlenos, der seit jeher großen Einfluss genoss, zu sich gerufen hatte, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

Nawos zeigte sich Rowilans resoluter Vorgehensweise gegenüber verhalten, schwieg jedoch zunächst. Der Schamane nutzte die Gelegenheit, um seine Gedanken weiter auszuführen: „Nach dem, was Aigonn berichtet hat, will Khomal allein den Mörder der sechs jungen Eichenleute. Jetzt, da Behlenos tot ist, hätte er mit Aehrels Auslieferung das, was er wollte. Auch wenn ich befürchte, dass er seine Macht weiter ausspielen wird. Khomal ist kein Mann, der schnell aufgibt, erst recht nicht, wenn er etwas in der Hand hat. Deshalb sträubt sich auch ein Teil von mir dagegen, ihm allein Aehrel zu überlassen, obgleich wir selbst mit ihm abrechnen sollten. Wenn wir als Gegenleistung allerdings damit die Freiheit unserer Leute erkaufen können, soll es mir recht sein.“

„Und du glaubst, er wird noch mit uns verhandeln?“, warf Nawos ein. Der alte Mann hatte sich vorgebeugt, einen Arm auf sein linkes Bein gestützt, während er den Schamanen kritisch beäugte. „Du und diese sieben mutigen Krieger, die Götter mögen sie in Ehren aufgenommen haben, habt ihn bei einem bedeutenden Ritual angegriffen und diese Frau befreit, die er fürchtet wie niemanden sonst. Sie … Lhenia …, ich bezweifle, dass er sich auf einen Handel einlassen wird, solange sie unter uns weilt.“ Mit diesen Worten huschte sein Blick kurz zu Aigonn, der aufgesehen hatte und ihn nun scharf beobachtete.

Das Gefühl, ein blindes Auge zu haben, war für ihn noch ungewohnt. Er blinzelte rechts oft heftiger als links, als könnte dies etwas an der Gewissheit ändern, die er längst angenommen hatte. Ihm war bisher kaum Zeit verblieben, sich darum zu kümmern, was er aus der Anderen Welt mit sich gebracht hatte.

Die Nachwirkung des Trankes, den Aehrel ihm eingeflößt hatte, beschwerten jede seiner Bewegungen, wollten ihn in erholsamen Schlaf geleiten, doch sein Geist war zu aufgewühlt, um seinem Ruf zu folgen. Schlafmohn hatte Rowilan die Pflanze genannt, die seinen Geist willenlos gemacht hatte. Er war eine der heiligen Pflanzen, deren Verwendung ausschließlich den Schamanen vorbehalten war. Weder Rowilan noch er konnten sich erklären, woher Aehrel den Schlafmohn genommen hatte. Doch ganz egal auf welche Weise, allein die Tatsache seiner Dreistigkeit hätte genügt, ihn grausam zu bestrafen.

Diesen Dingen aber widmeten die Dorfbewohner sich nicht. Stattdessen bemerkte Aigonn häufig, dass man ihm auf Grund des blinden Auges noch reservierter begegnete als bisher.

Der Greis wandte seinen Blick schnell ab. Aigonn hatte sich sein neues Abbild erst einmal in der Spiegelfläche eines Teiches ansehen können. Doch selbst ihm war dabei aufgefallen, dass seine Erscheinung auf einen Fremden beängstigend wirken konnte. Die weiße Haut seines blinden Auges war so makellos gewachsen, als wäre er damit geboren worden. Sah man es jedoch genau an, schien es noch so, als hätte die Iris darunter nie an Schärfe und Sehkraft verloren; es schien nun vielmehr und viel eindringlicher die Welt um sich zu beobachten – nein, nicht mehr nur zu beobachten, gerade fremde Menschen viel eher zu durchbohren. Von den schwarzen Schatten großer Anstrengung untermalt, schien Aigonn somit um Jahre gealtert. Und je länger er Zeit fand, um zur Ruhe zu kommen und das kürzlich Erlebte zu überdenken, desto mehr schien es ihm, als wäre die Belastung dafür nicht der einzige Grund.

Rowilan für seinen Teil entgegnete Nawos auf seinen Einwand nur einen vielsagenden Blick, der Aigonns Vermutung bestätigte, dass seine Gedanken nicht wirklich bei der Sache waren.

„Wir können nicht mehr tun, als ihm dieses Angebot zu unterbreiten. Da Fewiros noch immer keinen einzigen Boten geschickt hat, können wir nicht davon ausgehen, dass in nächster Zeit Hilfe für eine kriegerische Durchsetzung unserer Forderungen kommen wird. Wir haben keine Wahl! Wer weiß, was mit unseren Leuten geschieht, wenn wir noch länger warten. Khomal wird, wie du bereits sagtest, über den Zwischenfall nicht erfreut gewesen sein.“

„Allerdings!“ Diesmal sagte allein der Ton in Nawos’ Stimme mehr als jedes Wort. Warum musstet ihr ausgerechnet diese sonderbare Frau retten, die Lhenia ist, aber auf eine gewisse Weise doch nicht? Was führt ihr drei im Schilde, dass keiner von euch uns einweiht und wir unser Leben vertun, ohne zu wissen wofür?

Der Blick, der den Greis daraufhin von Aigonns Seite her traf, ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Auf eine gewisse Weise konnte er ja verstehen, was die Menschen des Dorfes bewegte. Nawos selbst hatte den großen Angriff nur unter Verlust eines Armes überstehen können, dessen Stummel er mit aller Würde wie eine Trophäe trug. Die Tatsache, dass er an dem Blutverlust fast gestorben wäre, war unwichtig für ihn.

Rowilan, Aigonn und Anation hatten gemeinsam beschlossen, besser nie jemandem davon zu erzählen, dass es nicht mehr Lhenias Seele war, die ihren Körper bewohnte, und schon gar nicht, wer an ihre Stelle getreten war. Ebenso schwiegen sie über Aehrels wahre Beweggründe und waren dankbar dafür, dass er ihnen dabei nicht in den Rücken fiel. Im Grunde tat er nichts, um sich zu verraten. Den Mantel des stillen Hinnehmens, der ihn seit der Heimreise umhüllte, hatte er nicht mehr abgelegt. Man hatte den Krieger in einem der halb zerstörten Häuser gefesselt und angebunden – auch wenn Aigonn selbst es für unnötig befand. Aehrel leistete keinerlei Gegenwehr und sprach ebenso wenig. Wann immer Aigonn einen Blick in diesen Raum gewagt hatte, hatte sein Onkel stumm ins Leere gestarrt, verschlossen und undurchdringlich, als hätte man ihn eines Teils seiner Seele beraubt. Und vielleicht war dies wirklich auf eine gewisse Weise geschehen.

Aigonn selbst überforderte es, seine Gefühle in die richtigen Bahnen zu lenken. Das Entsetzen über die Ungeheuerlichkeit von Aehrels Taten, des Mannes, der Aigonn und Efoh ein halbes Leben lang groß zu ziehen versucht hatte, schien das Fassungsvermögen seines Schädels zu sprengen. Er sehnte sich danach, wieder seinen Körper zu verlassen, die Grenzen des Menschlichen zu überschreiten, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und gleichzeitig den Schmerzen zu entgehen, die ihn fast schlimmer plagten als zuvor. Die Rippe, der Arm; die großen körperlichen Belastungen hatten sie kaum heilen lassen.

Rowilans Stimme klang in Aigonns Ohren fast störend, als der Schamane weitersprach: „Wir müssen es versuchen; es bleibt uns keine andere Wahl! Mit Krieg allein können wir sie nicht befreien. Ein solches Unterfangen wäre sinnlos! Wenn wir noch länger warten, wird er sie womöglich in die Leibeigenschaft zwingen, vielleicht sogar bei einem ganz anderen Stamm. Uns rennt die Zeit davon!“

„Nun gut.“ Nawos’ verkniffene Lippen verrieten das Missfallen über Rowilans so spontan entwickelten Plan. Doch da er scheinbar keine bessere Lösung zu bieten hatte, meinte er: „Schick einen Boten zu Khomal. Vereinbare mit ihm einen Treffpunkt, um Aehrel gegen unsere Leute einzutauschen!“

Damit erhob er sich von dem Schemel, nickte den beiden Männern zum Abschied zu und verschwand in den wolkenverhangenen Sommertag. Noch drei Tage bis zur Sonnenwende. Der Gedanke allein, mit Efoh dieses Fest begehen zu können, war Aigonn ein Trost, um den es sich zu kämpfen lohnte. Der Schamane schien seine Idee erraten zu haben, als er sagte: „Ich werde beten, dass Khomal sich auf unseren Handel einlässt. Solange wir Aehrel haben, ist nichts verloren.“

Aehrel. Es schauerte Aigonn bei jedem Mal, wenn er die Kälte hören konnte, mit welcher Rowilan den Namen ausspuckte. Die Jahre hatten eine tödliche Wut unter seinem Schädel wachsen lassen, die jeden Moment zu explodieren drohte. Es war das erste Mal, dass Aigonn glaubte, beurteilen zu können, wie sehr Rowilan Derona geliebt hatte. Und es berührte ihn genauso, wie es ihn noch immer beschämte. Er hatte dem Schamanen furchtbares Unrecht getan, als er geglaubt hatte, Rowilan selbst hätte seine Schwester in den Tod treiben können.

Doch auf eine gewisse Weise hatte die Klarheit etwas Erlösendes. Sie war der erste Schritt, mit einem Kapitel seines Lebens abzuschließen, das ihn lange belastet hatte. Nur noch ein einziger Schritt … Aigonns Gedanken schweiften ab. Er hatte seit ihrer Rückkehr nicht mehr mit Anation gesprochen. Sie hatte sich unmittelbar nach der Ankunft am späten Nachmittag zurückgezogen und war Aigonn seitdem nicht mehr unter die Augen gekommen. Nun, da der Abend dämmerte, konnte er sich nicht mehr allein mit dem Gedanken befriedigen, sie bräuchte Ruhe nach der großen Anstrengung. Das allein war es nicht. Anation war nicht mehr nur Anation. Sie war wieder Haelinon, ein ganzes Leben, das unvorstellbare vierundsechzig Jahre überdauert hatte. Etwas Derartiges konnte nicht binnen eines Tages aufgeholt und gleichzeitig verarbeitet werden. Aigonn war sich bewusst, dass ihn diese Dinge im Grunde nichts angingen. Doch je länger er wartete, desto schwerer fiel es ihm, sich zurückzuhalten.

„Du wirst ihr helfen, Aigonn, wenn du sie erst einmal mit ihren Gedanken allein lässt. Anation hat ein ganzes Leben zu verarbeiten, an dem du nicht einmal ansatzweise Teil hattest. Diese Prüfung muss sie ganz allein bestehen!“

Langsam drehte Aigonn den Kopf zur Seite. Rowilan stand zwei Schritte entfernt vor der Bettstatt, die Arme vor der Brust verschränkt, jedoch einen Ausdruck in den Augen, der keinerlei Strenge zeigte.

Aigonn schmunzelte matt, als er dem Schamanen entgegnete: „Haben die Götter dir beigebracht, die Gedanken anderer Menschen zu lesen?“

„Die Gedanken vielleicht nicht, aber ihre Gefühle. Du wirst es auch erlernen können, wenn ich endlich mit deiner Ausbildung beginnen darf!“

Diese Worte ließen Aigonn stutzen. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich ihrer wahren Bedeutung bewusst zu werden, bis er nachhakte: „Ist das … ein Angebot?“

„Ein Angebot, dass ich seit sieben Jahren nicht zurückgenommen habe. Im Grunde bist du viel zu alt, um eine Unterweisung auch nur ansatzweise stattfinden zu lassen. Aber ich glaube, die Größe deiner Fähigkeiten erfordert es, ganz egal, welcher Meinung die alten Meister waren.“

Diese Zusicherung trieb Aigonn ein Lächeln auf die Lippen. Auf eine gewisse Weise hatte er nicht mehr daran geglaubt, nach allem, was geschehen war, dass Rowilan ihn dennoch als Schüler bei sich aufnehmen würde. Und er war froh darüber, nein, mehr als froh, dass der Schamane seine Meinung nicht geändert hatte. Doch obwohl er bereits die Lippen geöffnet hatte, um zuzusagen, überschattete seine Freude plötzlich ein einzelner Gedanke.

Rowilan bemerkte sein Zögern. Stirnrunzelnd legte er den Kopf schief, eine Frage auf der Zunge, die er jedoch nicht aussprach. Dann, einen Herzschlag später, sagte Aigonn: „Ich würde gerne von dir lernen, meine Fähigkeiten vernünftig zu gebrauchen, nur …“

„Nur was?“ Rowilans Lächeln war verschwunden. Der Nachgeschmack alter Enttäuschung hing zwischen ihnen – etwas, von dem beide geglaubt hatten, endlich damit abschließen zu können. Aigonn aber konnte nicht anders, als auszusprechen, was er dachte: „Ich weiß nicht, ob ich eine Ausbildung, wie du sie erhalten hast, auch an deiner Seite abschließen werde. Es ist nur ein Gefühl, ich weiß nicht woher es kommt, aber …“

„Schon gut.“ Der Schamane nickte. Nicht erfreut, aber verstehend. Aigonn selbst hatte noch keine geeignete Gelegenheit gefunden, Rowilan darüber aufzuklären, was in der Anderen Welt geschehen war – und dies war wohl der Grund für seine Reaktion. Schweigend lief Rowilan auf die Tür zu. In jenem Augenblick aber, da Aigonn glaubte, er würde wortlos hinausgehen und im Abend verschwinden, wandte er sich noch einmal um und sagte: „Verzeih mir, Aigonn!“

Die Überraschung, die dieser empfand, kam unvermutet.

„Verzeih mir, dass ich dich so bedränge. Ich kann spüren, dass du dir selbst die Schuld an dem gibst, was seit so vielen Jahren zwischen uns vorgefallen ist. Doch glaube mir, schuld allein bist du nicht. Ganz bestimmt nicht.“


Das Abendlicht verwandelte die blassen Farben des Tages in leuchtende, unwirkliche Töne, wenn es dann und wann zwischen der Wolkendecke hervorblitzte. Fast schien es, als wollten die Götter Haelinon ein Zeichen auf die Stirn malen, so warm fühlte sie das weichende Sonnenlicht. Und sie wäre dankbar dafür gewesen. Ein Zeichen war ein Zeichen; immerhin etwas. Ein Wegweiser in dieser Welt, die ihr auf einmal unendlich groß und undurchdringlich erschien. Sie war der blinde Wanderer. Sehend, aber für die Wirklichkeit blind.

Es war schwer zu sagen, wie sie sich fühlte. Die Erinnerungen ihres früheren Lebens hatten nicht an Intensität und Gewalt verloren. Der Bilderstrom wütete ungebremst in ihrem Kopf, hämmerte gegen ihre Schläfen und gönnte ihr keinen Moment des Innehaltens, in welchem sie all dies ordnen könnte.

Wer war sie? Haelinon. Sie war die Tochter des Moorsängers, jenes legendären Sehers, der vor beinahe einem Jahrhundert zu den Eichenleuten gekommen war, aus einem Land, dessen Namen irgendwo in ihrem Kopf umherwirbelte. Sie hatte so viel gewusst, so viel gelernt. Es erschreckte sie, wie viel davon trotz des Todes erhalten geblieben war. Der Umstand, dass sie wiedergeboren war, wurde nur daran kenntlich, dass die Verbindungen fehlten, die sinnvollen Zusammenhänge. Nicht alles hatte sie mitnehmen können. Und gerade deshalb wünschte sie sich mehr als je zuvor, dass der Moment des Erkennens niemals gekommen wäre.

Aehrel. Sie hatte ihrem einzigen Sohn den Kosenamen ihres Vaters gegeben. Allein einer ihrer Brüder und sie hatten den wahren Namen je erfahren, als der Moorsänger versonnen ins Erzählen gekommen war. Im Grunde hatte er wenig von seiner Vergangenheit berichtet, ganz so, als ob auch er sie gern abgeschlossen gewusst hätte. Damals hatte sie ihrem Kind einen Funken seiner Herkunft hinterlassen wollen, für die Tage, in welchen sie gestorben sein würde. So bald schon hatte sie damals damit gerechnet. Ihr Leben war abgeschlossen gewesen, vollendet, ihre Seele vorbereitet darauf, so viel wie möglich an ihrem Wissen mit ins nächste Leben zu nehmen.

Wer hätte ahnen können, dass es so weit kommen würde? Woher hätte sie die Bedeutung von Ungewissheit schätzen lernen sollen? Ungewiss waren die Leben derjenigen, die die Vergangenheit ihrer Seele bestenfalls erahnen konnten. Doch sie hatten die Chance, einmal neu zu beginnen, ihren Kopf von Vergangenem zu klären, Fehler im Gefühl ungeschehen zu machen. Vielleicht war diese Wahrheit die Strafe dafür, dass sie ihren einzigen Sohn im Stich gelassen hatte. Damals, heute, in diesem Moment. Der Gedanke allein brannte wie Glut in ihrer Kehle.

Aehrel. Er war heute beinahe vierzig Jahre alt – fast so alt wie sie damals, als sie ihn geboren hatte. Sie, Haelinon, Anation, wer auch immer sie war. Sein halbes Leben lang war er von dem Gedanken getrieben gewesen, seine Mutter aus dem Jenseits zurückzurufen, nur um die Antworten zu erhalten, die sie ihm immer schuldig geblieben war, bis vor kurzem.

Er würde dafür nun zahlen müssen. Haelinon war nicht entgangen, wie dieser Schamane, Rowilan, davon gesprochen hatte, ihn als Pfand gegen die gefangenen Leute ihres eigenen Stammes zu tauschen. Nein – nicht einmal mehr als Pfand. Er war zu einer Ware geworden. Ein Leben gegen Dutzende. Ein vernünftiger Tausch, ein fairer Tausch für jeden Bärenjäger. Hätte sie an Rowilans Stelle gestanden, sie hätte nicht anders gehandelt. Dieser Gedanke allein erschreckte sie.

Doch worin lag Aehrels Schuld? War es nicht sie gewesen, die all dies erzwungen hatte – aus Feigheit, in einer solchen Aufgabe zu versagen? Die Unermesslichkeit schnürte Haelinon die Kehle zu. Wie konnte sie hier so still sitzen, im warmen Gras, an eine Hauswand gelehnt, während ihr eigener Sohn seine Hinrichtung erwartete? Und dies in vollem Einvernehmen. Er hatte sich nicht gewehrt, kein einziges Mal. Sein ganzes Leben hatte an diesem Gedanken gehangen, ihren Geist zu sich zu rufen. Als wäre er schon in jenem Moment aus Wahrheit und Erkenntnis zu den Göttern getreten, saß er in seinem Gefängnis. Haelinon konnte diese Gefühle spüren, deutlich, durch die Wand. Wenn sie still saß und ihre Gedanken ganz nach innen richtete, vermochte sie zu hören, wie Aehrels Rücken an der Wand entlang schleifte, ganz kurz nur, wenn er seine Sitzposition um ein winziges Stück veränderte.

Die ungeheure Nähe zu ihrem Sohn ließ Haelinon erschauern. Fast schien es ihr, als fühlte sie das uralte Band, den dünnen Faden zwischen Mutter und Kind, der den Platz der Nabelschnur einnimmt, wenn der Säugling den Weg in die Welt gefunden hat. Das Band war zurückgekehrt, nach so vielen Jahren. Wider Willen zitterte die junge Frau, allein bei dem Gedanken, was sie getan hatte – aus Feigheit. Reiner Feigheit. Eine Mutter hatte kein Recht, die Verantwortung für ihr Kind an eine fremde Familie abzutreten – nicht aus diesem Grund allein. Sie hätte wenigstens versuchen können, ihn aufzuziehen, wenn auch bei Zieheltern und mit unregelmäßigen Besuchen. Aber dies allein hätte vielleicht gereicht, um ihm das Gefühl zu geben, von seiner Mutter nicht vollkommen verlassen worden zu sein. Denn genau dies hatte sie getan, ihn verlassen. Allein gelassen. Die Schuld war kaum zu ertragen.

Irgendwann hielt Haelinon diese Nähe nicht mehr aus. Sie erhob sich, streckte ihren steifen Rücken und lief am Rande der Siedlung entlang. Das Feuer der abgebrannten Häuser hatte die Palisaden von innen mit schwarzem Ruß bedeckt. Trotz den Bemühungen der Bärenjäger waren die Spuren des Krieges näher denn je. Jede Lehmmauer atmete Verfall und Vergänglichkeit. Es war schwer auszuhalten – erst recht nun, da Haelinon Herrin ihrer alten Fähigkeiten war, nur ohne die nötige Distanz, die sie zu früheren Lebzeiten gehabt hatte.

Sinnlos. Zwecklos. Was tat sie hier? Sollte sie nicht wenigstens versuchen, die Schuld zu begleichen, die sie bei ihrem eigenen Sohn hinterlassen hatte? Die Gedanken zermarterten sie; Haelinon konnte versuchen, was sie wollte.

Erst eine Gestalt zwischen den Häuserruinen ließ sie innehalten.

Oran stand an eine halb eingestürzte Wand gelehnt. Ein warmes Lächeln erfüllte das Gesicht des alten Bauern, als wäre er sich des Beins nicht bewusst, das er seit der Schlacht nachziehen musste. Als wäre die Welt noch heil, unberührt. Haelinon wurde sich bewusst, dass sie, die im Grunde für alle anderen noch seine Tochter war, nicht ein einziges Mal an Lhenias Vater gedacht, geschweige denn nach ihm gesehen hatte. Obwohl er sie so bedingungslos liebte. Als seine Tochter.

Fast schmerzte seine unerschütterliche Aufrichtigkeit, als er – ohne einen Vorwurf oder eine Anklage in der Stimme – sagte: „Es tut gut zu sehen, dass du wohl auf bist!“

Langsam hinkte er näher. Haelinon versuchte vergeblich den Knoten in ihrem Hals herunterzuschlucken. Er wurde übermächtig, als der alte Bauer ihr die Hände auf die Schultern legte, eine sanfte, liebevolle Geste, obwohl sie glaubte, dass er sie am liebsten in die Arme geschlossen hätte. Doch er tat es nicht. Er konnte es nicht, das spürte sie. Die Kluft, die die Erkenntnis über ihre wahre Vergangenheit geöffnet hatte, war auch für Oran nicht zu überwinden. Es war sinnlos, dagegen anzukämpfen.

„Oran, …“ Haelinon hielt es nicht mehr aus. Diese bedingungslose Ehrlichkeit verglühte sie. Einen, wenigstens einen Fehler wollte sie gut machen. Oran war niemand, der sie verraten würde. Nur ihm wollte sie die Wahrheit sagen. Und damit vielleicht ihrem wütenden Gewissen ein wenig Befriedigung bieten.

„Oran, Ihr solltet es wissen …“

„Schhhh!“ Der Laut allein genügte, um sie zum Schweigen zu bringen.

Fragend blickte sie auf, sah dem Bauer in die warmen Augen, die auf einmal ein Erkennen widerspiegelten, das Haelinon nicht erwartet hatte.

„Ich weiß, was du sagen willst. Du bist nicht Lhenia. Die Menschen des Dorfes sind nicht blind; ich am allerwenigsten. Die meisten sind der Ansicht, die Wiederkehr aus der Anderen Welt hätte dich lediglich verändert. Doch ich weiß, dass noch viel mehr geschehen ist.“

„Bitte, glaubt mir! Sie musste nicht meinetwegen sterben. Ich habe Lhenia nicht ausgesucht. Die Götter allein haben mir den Weg zurückgewiesen, damit ich tun kann, was ich schon einmal schmerzlich versäumt hatte.“

„Wie heißt du, Kind?“

„Ich …“

Auf einmal blieb Haelinon die Antwort im Halse stecken. Wie war ihr Name? War sie immer noch Haelinon, die Frau, als die sie vor über zwanzig Jahren ums Leben gekommen war, die Tochter des Moorsängers? Mit einem Mal war sie sich in diesem Bezug nicht mehr sicher. Nachdem sie lange innegehalten hatte, entschloss sie sich schließlich zu einer Lösung und sprach damit unbewusst mehr von der Wahrheit aus, als sie es vorher beabsichtigt hatte.

„Früher nannten die Menschen mich Haelinon. Bevor ich diese Erinnerung wiedergefunden hatte, war ich Anation. Wer ich jetzt bin, kann ich nicht sagen.“

Oran musterte Haelinon nachdenklich. Sein Blick streichelte sie, so zärtlich, wie es nur ein Vater gekonnt hätte. Schließlich umfasste er ihre Wange mit einer Hand und strich mit dem Daumen über ihre Haut. Wider ihre Erwartungen war er nicht erstaunt, ließ nicht verlauten, ob ihm der Name Haelinon etwas sagte, ihn wenigstens an etwas erinnerte. Er stand einfach nur da, als gäbe es in dieser Welt kein Unglück oder Versagen. Und eben dieser Gedanke lag in jedem seiner Worte, als er aussprach: „Ich weiß nicht, warum die Götter dich zu uns geschickt haben. Doch ich glaube, dass es gut war. Denn die Herren der Welt irren sich niemals. Die Zeit meiner Tochter war gekommen. Sie hat ihr Schicksal selbst gewählt und in Ehren angenommen. Eben deshalb ehrt es sie und mich noch mehr, dass sie dir damit behilflich sein konnte.“

Haelinon fehlten die Worte. Herzschläge lang stand sie da und überlegte, was sie entgegnen sollte. Sie musste einfach etwas sagen. Doch noch bevor sie dazu kam, lenkte das Preschen von Hufen ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich. Der Bote war aufgebrochen, um mit Khomal zu verhandeln. Wohl schon morgen konnte alles vorbei sein.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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