Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 21

Verloren

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Es schmeckte fast modrig, als Aigonn sich über die Lippen leckte. Das Gefühl, als hätte sich eine Schicht Erde in seinem Mund gesammelt, ließ ihn das Gesicht verziehen, während sein Geist vom Halbschlaf in die Realität zurückkehrte. Das Leinenhemd des Vortages, das er zum Schlafen anbehalten hatte, war von der plötzlichen Feuchtigkeit im Raum klamm geworden. Die stickige Luft und erkaltender Schweiß schienen es in eine tote, zweite Haut zu verwandeln, die sich um Aigonns Oberkörper krallte und ihn mit dem Hauch der Verwesung umarmte.

Angewidert riss er sich das Kleidungsstück vom Leib, bevor er es neben sich auf die Felle warf. Die verbrauchte Luft innerhalb des Raumes war unmerklich abgekühlt, feuchter. Über Nacht musste es geregnet haben, lange nachdem Aigonn heimgekehrt war. Denn er hatte noch eine nicht einschätzbare Zeitspanne lang wachgelegen und in die Dunkelheit gestarrt. Abende wie der Zurückliegende und eine Flut schwer zu ordnender Gedanken riefen zu leicht verflogene Erinnerungen zurück – ganz egal, wie sehr Aigonn sich dagegen gewehrt hatte.

Das flache Atmen von der anderen Seite der erloschenen Feuerstelle verriet die friedlich schlafende Moribe, die sich von dem plötzlichen Erwachen ihres Sohnes nicht hatte stören lassen. Efoh war nicht zu sehen. Aigonn vermutete seinen Bruder im Lager der befreundeten Handwerker – oder noch immer bei Oran im Haus, betrunken oder gerade auf dem besten Weg, sich auszunüchtern. Er gönnte es ihm, das alles, die Geselligkeit, die Kameraden, die Zeit seines Lebens mit Aigonn selbst nie sehr viel hatten anfangen können.

Je länger er neben der verloschenen Feuerstelle stand, desto stickiger schien die Luft zu werden. Als würde er im Inneren des Hauses ersticken, lief er barfuß und mit nacktem Oberkörper zur Tür hinaus. Die strähnigen Haare klebten im Schweiß an seinem Rücken.

Das Dorf draußen schien noch zu schlafen. Oran war es mit drei Fässern Bier, viel gutem Willen und ehrlicher Sympathie gelungen, den größten Teil der Bärenjäger einen ganzen Abend so zu unterhalten, dass es die meisten heute noch spüren würden. Aigonn schmunzelte darüber. Seine Laune trübte sich lediglich, als er feststellen musste, dass nur der Wachposten, der ein Auge auf ihn haben sollte, seiner Aufgabe größere Priorität gegeben hatte als Feiern und Alkohol.

Aigonn stand jedoch nicht der Sinn danach, sich weiterhin über diese Tatsache aufzuregen. Allmählich gab er sich Mühe, sich mit diesem Zustand abzufinden, an welchem er ohnehin kaum etwas ändern konnte. Aus diesem Grund scherte er sich gar nicht um die Anwesenheit des jungen, sichtlich verschlafenen Kriegers und wandte sich unverhohlen in Richtung der Palisaden.

Was hatte er schon zu verlieren? Es würden viele neue Geschichten entstehen, aber wirklich begreifen, was hier vor sich ging, würde von den Dorfbewohnern ohnehin kein einziger. Das tat ja nicht einmal Aigonn selbst.

Aus diesem Grund nahm er keine Notiz von dem Wachposten, als er sich auf den Wehrgang der Palisaden schwang. Der Krieger hatte den Mund bereits geöffnet, um ihn zurechtzuweisen, doch Aigonn entgegnete ihm schon: „Keine Sorge! Ich kann euch gar nicht schnell genug entkommen, ohne dass ihr mich niederstreckt!“

Einen Herzschlag brauchte der Wachposten, dann stieß er mit finsterer Miene aus: „Für welche Verbrecher hältst du uns, dass du glaubst, wir würden unsere eigenen Leute mit Lanzen erstechen?“

„Ich sprach nicht von töten. Das dürft ihr nicht, sicherlich. Aber mit den dünnen Speeren nach den Beinen zu werfen, würde doch schon genügen. Dir würde so etwas sicherlich gelingen, nicht wahr?“

Für einen Moment glaubte Aigonn, der Krieger würde ihm die Faust ins Gesicht schlagen. Er war schon bereit, sich zu ducken, seine Nerven gespannt, doch der Krieger besann sich schließlich eines Besseren. Zwei Schritte weit nahm er demonstrativen Abstand. Aigonn konnte die Botschaft seiner Augen nicht recht deuten, nicht ausschließlich ablehnend, vielleicht ein Hauch Enttäuschung darin enthalten. Doch seine Stimme war kalt, als er Aigonn entgegenwarf: „Renn doch in deinen Tod, wenn du dich für so nutzlos hältst. Niemand wird dich daran hindern!“

Damit ging er. Aigonn stand einen Moment still und überlegte, da ihm die Bedeutung dieses Satzes nicht recht klar wurde. Doch dann beließ er es dabei. Die Stirn in tiefe Falten gelegt trat er an die Palisaden heran und ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen.

Es war noch früh am Tag, doch später, als er beim Erwachen zunächst geglaubt hatte. Gräuliche Gewitterwolken über den Höhenzügen am Horizont bestätigten Aigonns Vermutung ebenso wie das vom Regen noch nass glänzende Gras. Zu seiner Enttäuschung hatten sich die Nebelschwaden größtenteils wieder verzogen. Im Grunde hatte er die Hoffnung längst aufgegeben, dass die Nebelfrau innerhalb der nächsten Dutzend Tage wieder mit ihm sprechen würde, doch der Drang nach Antworten hatte ihn wieder hier auf die Palisaden hinausgetrieben. Zwar hatte es nachgelassen, das Drängen um Fragen und Antwort, sodass es fast die Gewohnheit war, die ihn dazu veranlasst hatte. Doch sie war noch mächtig genug, um ihn zu beherrschen. Aigonn befand es seltsam. Sich und sein Handeln.

Schließlich versank er so weit in seinen Gedanken, dass er den zweiten Wachposten nicht wahrnahm, der hinter ihm auf die Palisaden stieg – jener, der ihn überwachen sollte. Dieser begann zögerlich die Hand zu erheben, so als ob er Aigonn ansprechen wollte. Der beobachtete dies nur aus dem Augenwinkel, nahm keine Notiz davon, sondern blickte über die Sträucher am Waldrand hinweg, dorthin, wo er als kleiner Junge zum ersten Mal der Nebelfrau begegnet war.

Der Wachposten hatte den Mund schon geöffnet, als Aigonns Reaktion ihn innehalten ließ. Denn dieser stutzte. Aigonn erhob sich und spähte konzentrierter auf die Wiese hinaus. Es fiel ihm schwer, genau auszumachen, was er dort – unweit des Waldrandes – entdeckt hatte. Doch das, was er erkannte, war ein zerschlissenes Leinenhemd.

„Sieh mal!“ Als hätte der Wachposten schon immer an dieser Stelle gestanden, fasste Aigonn ihn an der Schulter und fragte: „Siehst du das?“

Der Krieger trat an seine Seite.

„Ist das ein Körper?“

„Bei allen Göttern, ja.“

Einen Augenblick sahen die beiden Männer sich fragend in die Augen, dann sprang der Wachposten auf einmal vom Wehrgang und rief Aigonn im Laufen zu: „Komm mit!“

Der Wache am Siedlungstor blieb kaum genug Zeit, um nachzuhaken, was der Krieger und Aigonn gesehen hatten. Ersterer verschuf sich eigenmächtig Ausgang, beschleunigte seinen Schritt, als er auf die Wiese hinaustrat, und steuerte – Aigonn hinter sich – auf den Waldrand zu.

Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, schien es Aigonn plötzlich, als ob die Luft ihn mit einer unwirklichen Kühle umfassen würde. Die Feuchtigkeit und Frische des Morgens intensivierte sich in unrealistische Ausmaße. Jegliche Haare an seinen Armen und Beinen richteten sich auf, während er mit Falten in der Stirn auf die Umrisse der Gestalt, dieses Etwas starrte, dem er sich immer weiter näherte.

Als er endlich nah genug herangetreten war, musste er feststellen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Ein toter Körper lag mit dem Gesicht nach unten im Gras. Strähnige Haare, noch immer schweißnass, hatten sich wie die Äste eines Strauches um seinen Kopf verteilt. Unendlich langsam, als würde der Tote binnen den nächsten Augenblicken wieder zum Leben erwachen, ging Aigonn neben dem Körper auf die Knie. Was ist, wenn er gar nicht tot ist?, schoss es ihm durch den Kopf.

Zögerlich streckte er die Hand aus. Als er die Schulter berühren wollte, zuckte er noch einmal zurück, als wäre der Körper brennend heiß. Doch dann wagte er es und stieß ihn fest genug an, sodass sich der Körper halb auf den Rücken drehte.

Es bestand kein Zweifel, der Mensch war tot. Ein Mann. Aigonn erschrak so sehr, dass er zwei Schritte nach hinten stolperte, auf den Po kippte und sich sogleich wieder aufrichtete. Blankes Entsetzen hatte sich scheinbar für die Ewigkeit in den Zügen des Mannes vertieft. Das makabere Gegenstück zu der Ruhe, die allen Toten innegewohnt hatte, deren Bestattungen Aigonn je beigewohnt hatte. Allen, bis auf einer.

Wenn er sich genug Mühe gab und Beherrschung bewahrte, konnte er einen jungen Mann zwischen all der Verzweiflung erkennen, zwanzig, jünger. Ein unsauberer, eine Kinderelle langer Schnitt prangte auf seiner Brust, von Blutkrusten halb verdeckt, doch noch nicht überall geronnen. Die Lache, die sich unter der Leiche gebildet hatte, war nur spärlich vom Regen verwaschen. Das Wasser hatte das viele Blut weder von der Leiche noch vom Boden wegspülen können. Nicht einmal die Natur hatte den Toten reinwaschen wollen.

Zwei Herzschläge lang schloss Aigonn die Augen, dann richtete er sich auf und tauschte einen wortlosen Blick mit dem Wachposten, der neben ihm stand.

Unweit der Leiche lag ein Jagdmesser auf dem Boden. Das Blut, das den gesamten Oberkörper des jungen Mannes zu bedecken schien, klebte an der unsauber geschmiedeten Bronzeschneide. Fingerabdrücke einer blutbeschmierten Hand bedeckten den Griff, noch immer deutlich genug, um einen Vergleich zu ziehen.

Aigonn wollte den Gedanken ebenso schnell wieder verdrängen, wie er gekommen war. Ein Selbstmörder. Er hatte es nicht probiert, doch er war sich sicher, dass die Hand des Toten genau auf die Abdrücke am Messergriff passen würde. Bilder flackerten vor seinen Augen auf. Die Vergangenheit jagte wie eine Welle auf ihn zu, wollte ihn mitreißen. Aigonn kämpfte mit seinem Gleichgewicht, während die Wache besorgt immer wieder von ihm zu der Leiche blickte.

Es brauchte einen Moment, bis Aigonn sich wieder gefangen hatte. Er begegnete dem Blick des Wachpostens, der kaum älter war als er selbst. Sein Name war Bral. Ein Mensch, den Aigonn niemals wirklich gekannt hatte – wie so viele andere nicht. Er spürte, dass Bral etwas sagen, fragen wollte. Doch der Krieger brachte es nicht über die Lippen.

Dann hörte Aigonn Schritte. Als er sich herumdrehte, sah er gut und gern zehn Bewohner der Siedlung, zwei Wachen, einen Schmied und zahlreiche Bauern auf sich und die Leiche zueilen – allen voran Behlenos selbst.

Als der Fürst angelangt war, streifte er Aigonn mit einem Blick, der so viel Drohung enthielt, wie er es noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Wieder er. Schon wieder ein unschönes Ereignis, und er war der erste, der es gesehen hatte. Fast konnte er Behlenos verstehen.

„Wisst ihr, wer das ist?“ Die Frage war an alle gerichtet. Der Fürst presste angewidert die Lippen aufeinander, sodass seine langen Schnurrbartenden um seine Mundwinkel spielten. Niemand antwortete. Stattdessen drängte eine junge Frau die Umstehenden beiseite, nicht hektisch, aber bestimmt, bis sie die Leiche sehen konnte.

Erstaunt sah Aigonn auf. Die junge Frau stand wie zu Stein erstarrt. Unzählige Gefühlsregungen durchliefen ihr Gesicht binnen Herzschlägen, bis sie eine Mischung aus Entsetzen und schockiertem Erkennen bildeten, das alle Umstehenden überraschte.

„Lhenia?“ Es dauerte einen Moment, bis die junge Frau auf Behlenos reagierte. „Lhenia, kennst du diesen Mann?“

„Nein …, nein eigentlich …“

„Eigentlich was?“

„Ich weiß es selbst nicht.“ Ihr Ausdruck mäßigte sich, doch die Leiche schien ihren Blick gefangen zu halten. Aigonn versuchte, aus ihren Zügen zu lesen, doch es war zwecklos. Er konnte die Herzschläge nicht zählen, bis sie auf einmal, schlagartig, ihren Blick abwandte, sich umdrehte und an den Männern vorbeilief, als wären diese gar nicht existent.


„Ich danke euch, dass ihr so schnell gekommen seid!“ Behlenos’ Stimme verriet seit langem so nicht gespürte Anspannung. Der Hauptaufenthaltsraum seines geräumigen Hauses war rund um das Herdfeuer mit allen Bewohnern des Dorfes bevölkert, die dort noch Platz gefunden hatten. Aigonn selbst hatte man

mehr oder minder freiwillig bis in Sichtweite des Fürsten vordringen lassen – ganz gleich, ob dieser lieber einen anderen Platz eingenommen hätte.

Behlenos warf immer wieder hilfesuchende Blicke in die Menge, bevor er – erfolglos – ohne Unterstützung zu sprechen begann: „Es wird sich herumgesprochen haben, was … Aigonn und Bral am Waldrand gefunden haben. Hat einer …“ Seine Stimme ging beinahe im Getuschel und Gemurmel der Anwesenden unter. „RUHE BITTE!“ Augenblicklich wurde es still. Der Fürst strich sich den Schweiß von der Stirn, als seine Stimme an Ruhe gewann: „Hat einer von euch den Toten Zeit seines Lebens gekannt?“

Aigonn jagte ein weiterer ungezählter Schauer über den Rücken. Behlenos hatte den Toten auf dem Marktplatz aufbahren lassen – eine ehrfürchtige Geste für den Verstorbenen, jedoch in diesem Fall eher zweckmäßiger Art.

Keiner der Bärenjäger konnte den jungen Mann beim Namen nennen. Nach einem Moment jedoch löste sich Bral zögerlich aus der Menge, fischte ein Stück Stoff aus einem Lederbeutel und hielt es Behlenos mit spitzen Fingern entgegen.

„Was ist das?“ Der Fürst beugte sich ein Stück vor, beäugte nachdenklich das blutverschmierte Leinen, auf dem sich undeutlich eine feine Stickerei abzeichnete.

„Das ist ein Stück seines Hemdes. So zerfetzt wie es war …, habe ich mir erlaubt, den Stoff abzureißen.“

„Und? Was soll ich sehen?“

„Das …, die Stickerei da. Das ist ein Eichenblatt.“

Behlenos stutzte. Er nahm Bral das Stoffstück aus der Hand und starrte beschwörend auf die Stickerei, als ob er sie damit verzaubern könnte. Auf der Suche nach einer letzten Hoffnung warf der Fürst ein: „Die Eiche ist ein heiliger Baum. Viele Stämme schmücken sich damit.“

„Aber nicht so. Schaut Euch die Stickerei an, Behlenos. So schmücken sich nur die Eichenleute.“

Herzschläge schienen sich in Tage zu verwandeln. Lautlos beschwor Behlenos das Stück Stoff, als ob diese Geste irgendeinen Sinn und Zweck erfüllen würde. Jeder wusste, was er dachte – das, was sie alle dachten. Eine unheilvolle Wahrheit. Unheilvoller als vieles, das ihnen hätte widerfahren können.

„Das kann nicht sein. DAS DARF NICHT WAHR SEIN!“ Behlenos’ Schlag ließ die Tischplatte erzittern. Aigonn sah Tonbecher schaukeln, die von den Beratern des Fürsten, die diesem am nächsten saßen, aufgefangen

wurden.

Es war nicht auszumachen, ob Behlenos vor Wut schäumte oder es mit der Angst zu tun bekam. Als wäre er ganz alleine im Raum, spie er aus: „Ein toter Eichenmann in unserem Dorf! Wir können froh sein, dass die Eichenleute sich dieser Tage mehr mit ihren eigenen Leuten beschäftigen. Wenn sie davon erfahren, werden sie uns in Stücke reißen! Sie werden … BEI ALLEN MÄCHTEN DES BÖSEN, WO IST ROWILAN?“


Die Grenze zwischen den Welten verschwamm, sobald der Schamane die Augen aufschlug. Für kurze Zeit erkannte er das Strohdach seines Hauses mit den getrockneten Kräutern, bevor es sich zurück in eine Flut aus fließenden Farben verwandelte. Rowilan war allein in seinem Haus. Zumindest glaubte er das. Manchmal schien es, als würde eine Gestalt zwischen seiner einfachen, aber zum größten Teil überfüllten Einrichtung umherlaufen, Dinge hin und her tragen und versuchen, ihm zuweilen einen Becher an die Lippen zu setzen. Doch wahrscheinlicher war es, dass er sich täuschte.

Die Geister der Anderen Welt hatten nicht aufgehört, ihn zu verfolgen. Der Schamane war nicht wach genug, um in Erfahrung zu bringen, welcher Fehler ihm unterlaufen war. So oft suchte er nachts die Zwiesprache mit den Göttern, brachte Opfer und fand Antworten, die sonst niemandem zuteil wurden. Doch dieses Mal war es anders gewesen.

Die Kräuter mussten es gewesen sein. Wenn er die heiligen Pflanzen der Götter überdosierte, konnte er so tief in die Welt der Geister eindringen, dass er daraus nicht mehr vollkommen zurückkehrte. Eine stumme Angst flammte in ihm auf. Das menschliche Bewusstsein schrie in seinem Kopf um Hilfe, während sich eine zweite Seele – ganz gleich, ob es sie gab – von seinem Körper zu lösen schien und den Menschen Rowilan in seinem schwachen Leib zurückließ.

Behlenos nahm sich kaum Zeit, um ordnungsgemäß an der Tür des Schamanen zu klopfen. Nach einem kurzen Pochen stieß der Fürst gegen das Holz, gefolgt von seinen Beratern und einer ganzen Reihe Schaulustiger. Aigonn hatte sich dazwischen gemischt. Es hatte ihn vor allen Dingen die Neugierde so nah hinter Behlenos her getrieben – in der Hoffnung, er würde verstehen können, was der Fürst mit Rowilan zu sprechen hatte. Doch zu allseitiger Enttäuschung empfing sie lediglich Aehrel, dessen überraschte Miene bald ärgerlicher wurde.

„Wo ist Rowilan?“ Behlenos nahm von dem alternden Mann kaum Notiz. Sein Blick durchstreifte die Behausung, die auf einen Fremden unordentlich wirkte, in den Augen des Schamanen jedoch sicherlich System hatte. Als der Fürst versuchte, zwischen Körben, Schemeln und Regalen in die andere Seite des großen Hauptraumes zu gelangen, schnitt ihm Aehrel kurz entschlossen den Weg ab.

„Mein Herr, nicht so schnell!“ Bestimmt baute der Krieger sich vor dem Fürsten auf. Man erkannte bereits den Zornesfunken in Behlenos’ Augen, der bedrohlich genug war, um jeden zurückweichen zu lassen. Doch Aehrel fügte seinen Worten nur hinzu: „Rowilan geht es sehr schlecht. Er hat gestern die Grenze zwischen den Welten berührt und ist bis jetzt nicht vollständig in seinen Körper zurückgekehrt. Ich weiß nicht, welcher Fehler ihm unterlaufen ist, ich war nicht die ganze Zeit über bei ihm. Aber er ist derzeit kaum in der Lage, Euch Rede und Antwort zu stehen!“

„Ach wirklich?“ Damit stieß Behlenos den Krieger kurzerhand beiseite. Aigonn beobachtete, wie Aehrel die Hand erhob, um seinen Fürsten zurückzureißen. Doch dieser hatte die Bettstatt des Schamanen längst erreicht. Mit finsteren Augen sah er zu Rowilan herab. Furcht und Zurückhaltung waren gleichermaßen in seinem Blick enthalten, als er auf die Gestalt blickte: Der sonst so unantastbare Rowilan lag mit offenen Augen und entrücktem Blick auf seinen Fellen im Stroh. Die Lippen zuckten immer wieder, als ob er stumme Beschwörungen sprechen würde, doch seine Worte erreichten keinen Sterblichen. Angreifbar wie ein Kind war er geworden. Aigonn konnte sehen, dass dieser Umstand Behlenos fast Angst bereitete.

„Rowilan!“ Seine Worte erreichten den Schamanen nicht. „Rowilan, hörst du mich?“ Wieder keine Antwort. Frustriert wandte sich Behlenos von Rowilan ab und sagte stattdessen zu Aehrel: „Wir haben einen toten Eichenmann in unserer Siedlung! Bral und … und Aigonn haben ihn heute Morgen unweit des Waldrandes gefunden.“

„Was sagt Ihr?“ Aehrel hielt inne und vergaß, was er seinem Fürsten an den Kopf hatte werfen wollen.

„Er scheint ein Selbstmörder zu sein. Die Götter allein wissen, welches Grauen ihn getrieben hat. Doch der Ort seines Todes liegt nicht allzu weit von dem Hain entfernt, wo Rowilan gestern Nacht seine Rituale abhalten wollte. Wart ihr dort?“

„Ja.“

„Ihr habt nichts bemerkt?“

„Nein, wirklich nicht. Ich habe Rowilan nur bei seinen Vorbereitungen geholfen und mich dann zurückgezogen. Ihr wisst ja, da ich kein Eingeweihter, kein ausgebildeter Schamane bin, darf ich nicht …“

„Ja, ja!“, unterbrach Behlenos Aehrel. „Ihr habt wirklich nichts gesehen?“

„Nein, so glaubt mir doch!“

„Schon gut.“ Aigonn spürte, dass sein Fürst sich geschlagen gab. Behlenos ließ Aehrel stehen und lief durch die Gasse, welche die umstehenden Schaulustigen ihm freimachten. Er schien gar nicht mehr hinzuhören, als Aehrel die vielen Leute aus dem Haus des Schamanen warf, sondern tauschte stattdessen stumme Blicke mit einem seiner Berater. Dieser fragte schließlich: „Was sollen wir mit dem Toten machen?“

„Verbrennen. So schnell wie möglich. Sollte irgendein Händler hier auftauchen – ganz egal, wie unwahrscheinlich das ist – dann erzählt ihm, dass einer der Flüchtlinge aus dem Osten an seinen Verletzungen gestorben ist. Ich will diesen Fluch nicht länger als nötig hier bei uns behalten!“

„Behlenos, aber … sollten wir dem Toten nicht vielleicht ein richtiges Begräbnis ausrichten? Auch wenn er nicht unserem Stamm angehört. Ich glaube kaum, dass in der nächsten Zeit ein Reisender oder Händler hier vorbeikommt, der uns bei den Eichenleuten verraten könnte. Und in diesen Zeiten ist es kaum klug, eine verlorene, umherziehende Seele zu haben, die in unserem Dorf gefangen ist und uns nicht schlafen lässt. Ihr wisst, was ich meine!“

„WIE LANGE SOLL ICH DENN DIESEN KERL HIER AUFGEBAHRT LASSEN? Er ist ein Fremder! Wir sind nicht verantwortlich für ihn!“

„Behlenos!“ Der Berater wurde nachdrücklicher. „Behlenos vertraut mir, es ist besser, wenn wir ihn angemessen beerdigen!“

Der Fürst antwortete nichts mehr. Sein scharfer Blick, der sich in die Augen seines Beraters bohrte, verriet allen Umstehenden, dass er sich geschlagen gab – auch wenn er dies nicht öffentlich zugestand. Ohne noch ein Wort zu sagen, schritt er durch die Menschen hindurch und suchte Zuflucht in seinem eigenen Haus – ohne Berater und ohne Diener. Die warf er hinaus.


Die junge Frau hatte sich Zeit gelassen, mit der Menge nach draußen zu strömen. Sie konnte schwerlich beschreiben, welche Gedanken in ihrem Kopf vorgingen. Immer wieder blickte sie zu dem entrückten Schamanen zurück, als ob sein Anblick ihr irgendein Geheimnis verraten würde. Doch würde es Erinnerungen geben, sie kehrten nicht zu ihr zurück.

Unwirsch schüttelte sie den Kopf, als ein junger Krieger sie beim Hinausgehen an der Schulter anrempelte. Sie war so weit zurückgefallen, dass sie fast als Letzte das Haus verlassen würde.

„Jetzt beeilt euch schon! Das ist hier nicht der Marktplatz!“

Plötzlich berührte sie eine Hand an der Schulter. Die junge Frau zuckte zusammen, als hätte sie ein glühendes Metallstück getroffen. Die Stelle der winzigen Berührung brannte – nicht schmerzhaft, sondern mit einer Flut von Emotionen behaftet, dass ihr kurzzeitig schwindelig vor Augen wurde. Sie wirbelte herum. Es fühlte sich so vertraut an, viel vertrauter als eine bloße Bekanntschaft, eine Liebschaft, sie konnte das Gefühl nicht beschreiben, es war so viel stärker. Fast so, als wäre diese Person ein Teil von ihr.

Aehrel starrte die junge Frau aus großen Augen an. Überrascht von ihrer Reaktion zog er eine Augenbraue in die Höhe und fragte: „Alles in Ordnung, Lhenia?“

Die junge Frau nickte – nicht, weil sie ihm zustimmte, doch weil sie in diesem Moment nichts anderes antworten durfte. Für einen Atemzug sah sie Aehrel an. Die Erinnerung pochte in ihrem Kopf wie ein Schmerz, doch der Moment verflog. Die Erkenntnis, nach der sie gesucht hatte, stellte sich nicht ein. Und sie spürte, dass sie in diesem Augenblick nicht mehr tun konnte.

Noch einmal schüttelte die junge Frau wortlos den Kopf, bevor sie sich umwandte und der Menge nach draußen folgte. Sie fühlte Aehrels Blick in ihrem Rücken; in seinen Augen hatte zuletzt ein Ausdruck gelegen, den sie nicht recht hatte deuten können. Aber sie beschloss, die unzähligen Fragen, die diesem Moment anhafteten, beiseite zu schieben und sich zuerst darauf zu konzentrieren, was viel wichtiger war.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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