Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 23

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Es fiel Aigonn schwer zu beschreiben, was in ihm vorging. Der sonst blutrote Abendhimmel hatte unter den grauen Gewitterwolken einen satten Violett-Ton angenommen, der selbst bis jetzt, zu Beginn der Nacht, noch angehalten hatte. Ein lautloses Unwetter tobte über dem Horizont. Weiße Blitze zuckten über den Himmel. Irgendwo in der Ferne mussten Regenschwalle auf die Erde niedergehen, doch bis jetzt verriet lediglich der warme, aber kraftvolle Wind den jähen Wetterwechsel.

Nur noch wenige Menschen durchquerten zu dieser Zeit das Dorf. Hier und da wurden noch Hunde hineingelassen, letzte Pferde von den nahen Weiden geholt. Doch abgesehen von den Nachtwachen war Aigonn beinahe allein.

Innerlich erfüllte ihn Befriedigung. Nach seiner Entdeckung am frühen Morgen schien Bral den undankbaren Posten, Aigonn zu überwachen, abgegeben zu haben. Nur hatte bislang niemand die Aufgabe des jungen Kriegers übernommen. Aigonn selbst lächelte darüber. Es hätte ihm nicht gelegener kommen können – unabhängig davon, dass er an diesem Abend keinen Schlaf gefunden hatte. Bis jetzt konnte er den Gefühlen keinen rechten Namen geben, die ihn trieben. Doch je weiter er durch das Dorf lief, den Bach entlang zu den hinteren Palisaden, desto mehr fühlte er den Zorn, den er an diesem Vormittag erweckt hatte. Seit die junge Frau gegangen war, war er bestimmt davon. Seine Hände streckten sich unablässig und wurden wieder zur Faust. Es war ihm schlagartig kaum mehr möglich gewesen, vor Efoh den Gelassenen zu spielen. Dieser hatte gespürt, was in ihm vorging, doch sich scheinbar auch damit abgefunden, dass er nicht eingeweiht werden würde. Aus diesem Grund wusste Aigonn nicht, ob sein Bruder bemerkt hatte, wie er vor kurzer Zeit das Haus verlassen hatte und im Zwielicht verschwunden war.

Die Ställe und Häuser, die Aigonns Weg bisher gesäumt hatten, wurden weniger. Ein einzelnes, fast verlassen daliegendes Haus neben dem Bach war als Silhouette in der Dunkelheit zu erkennen. Und je näher er diesem kam, desto mehr beschleunigte sich sein Puls. Das Blut pochte in seinen Ohren. Ab und zu schien es, als ob zwischen diesem monotonen Klang eine feine Stimme in sein Ohr wisperte.

Warum hatte er diesen Beschluss nicht schon viel früher gefasst? Warum in dieser Nacht? Dabei war der Augenblick fast vollkommen, um zu tun, was Aigonns Geist bestimmte.

Als er Rowilans Behausung erreicht hatte, war die Stille der Nacht fast drückend geworden. Kein Laut drang aus der Siedlung. Nur der nahe Wald raunte eintönige Lieder in den Wind, beschwörend, als wollten sie Aigonn einen Ratschlag geben. Doch dieser konnte die Stimmen der Geister nicht mehr hören. Als er bis auf zehn Schritte herangetreten war, mäßigte er seinen Schritt, suchte sich fast lautlos einen Weg durch das Gras, welches das Haus umgab. Dann legte er das Ohr an die dünne Lehmwand und horchte.

Nichts war zu hören, nicht mal ein Atmen. Sollte Aehrel noch immer bei seinem Schamanen Wache halten, war er eingeschlafen oder harrte vollkommen reglos aus – wobei Aigonn letztere Möglichkeit jedoch unwahrscheinlich erschien. Er warf schnelle Blicke nach links und rechts, dann schlich er bis zur Tür und zog behutsam an dieser.

Sie öffnete sich. Aigonn hätte beinahe aufgelacht. Niemand hatte sie verriegelt. Warum auch? Für gewöhnlich drohte keinem Bärenjäger in seiner Siedlung Gefahr, schon gar nicht Rowilan, der unter den Menschen so hohe Achtung genoss.

Er lächelte scharf. Wer hätte auch ahnen können, dass er in dieser Nacht dem Schamanen einen Besuch abstatten wollte?

So leise wie möglich öffnete Aigonn die Tür noch ein Stück, zwängte sich durch den Spalt für den Fall, dass eine Wache den offenen Eingang bemerken würde, und schritt langsam über den mit Grasmatten ausgelegten Lehmboden. Im Dunkeln erfüllte Rowilans Haus jegliche Vorstellungen des Schlupfwinkels von einem greisen, alten Einsiedler, der nach den Geistern und Göttern suchte. Nur die schwache Flamme einer Talglampe erhellte den Raum, sodass Aigonn zweimal wider Willen gegen Körbe oder Regalecken stieß. Beim zweiten Mal sog er scharf die Luft ein, doch es rührte sich nichts. Aehrel war weder zu hören noch zu sehen, sodass neuer Platz geschaffen war für das Lodern, das Aigonn vorwärtstrieb.

Er fühlte die Wut, den Hass. Sie hatten sich in eine beständige Flamme verwandelt, die nach neuem Zunder dürstete. Vorsichtig schritt er durch den Raum, bis er die Bettstatt erkennen konnte, auf der Rowilan lag. Aehrel hatte an diesem Nachmittag berichtet, dass es dem Schamanen nicht besser ging. Welches Ritual auch immer ihn in diesen prekären Zustand gebracht hatte, Aigonn war es in diesem Moment ganz egal. Stattdessen dankte er Rowilan in Gedanken für diesen Fehler, der ihm endlich erlaubte zu tun, was seinem Vater nicht gelungen war.

Langsam trat er an die Bettstatt des Schamanen. Je näher er kam, desto mehr hörte er eine innere Stimme in sich aufschreien, die ihn zurückhalten wollte. Doch sie erstickte, würde übertönt von einem Wispern in seinen Ohren, einem Wispern, das ihn daran erinnerte, weshalb er hier war, welche guten Gründe es gab, diesen Hass zu empfinden und ihn auszuleben, ihm Gestalt zu verleihen.

Dort lag er, Rowilan, wehrlos, halb schlafend, halb in der Anderen Welt gefangen. Es schauderte Aigonn, als er die Präsenz der Geister wahrnahm, die den Schamanen noch immer gefangen hielten. Er war ein Seher. Jemand der die verlorenen Erinnerungen eines Toten wiederfinden konnte. Warum sollte er nicht versuchen, auch die eines Lebenden zu sehen, einen Menschen dazu zu zwingen, ihn daran Teil haben zu lassen? Dies war seine einzige Chance – die Chance, von Rowilan das zu erfahren, was ihm immer in der Seele gebrannt hatte. Und vielleicht dann endlich Gerechtigkeit walten lassen zu können; Gerechtigkeit, die seiner Familie so lange schon verwehrt geblieben war.

Aigonn ging in die Knie. Er sah Rowilans Lippen kaum hörbare Worte murmeln. Die Augen des Schamanen zuckten unter ihren Lidern, als führten sie ihren eigenen Kampf gegen die Bewusstlosigkeit. Aigonn konzentrierte sich. Niemals hatte er bewusst versucht, diese Fähigkeiten, die ihm gegeben waren, kontrolliert zu benutzen. Nun tat er es. Er wollte sehen, Rowilan dort erreichen, wo er in diesem Moment gefangen war.

Plötzlich spürte er die Geister der Anderen Welt mit so nicht gekannter Heftigkeit. Beinahe wäre er drei Schritte nach hinten gestolpert, doch Aigonn mahnte sich zur Ruhe. Wenn mich heute Nacht jemand hier in diesem Haus entdeckt, werden sie mich umbringen. Und von diesem Gedanken war er überzeugt.

Deshalb versuchte er, sich zu beherrschen. Gestaltlose Lichtwesen waren auf einmal rund um die Bettstatt zu erkennen, die Aigonn jedoch nicht weiter identifizieren konnte. Für einen kurzen Moment überkam ihn der Gedanke, sie um Hilfe bei seinem Vorhaben zu bitten. Doch er kam schnell zur Vernunft. Rowilan konnte ihnen nicht entkommen. Was würde ihm wohl blühen, wenn dieses Experiment außer Kontrolle geriet?

Somit blendete er die fremden Geister bestmöglich aus und konzentrierte sich ganz auf den schlafenden Schamanen. Aigonn wusste zwar nicht, was er sehen sollte. Doch er spürte, dass er Rowilan aus anderen Augen ansah. Das Gefühl elektrisierte ihn. Sein Geist schien nicht mehr vollständig mit dem Körper verbunden. Er schien mit einem Mal ungeheure Macht zu besitzen, und dieser Gedanke verwandelte Zorn in Euphorie.

Selbstsicher näherte Aigonn sich nun Rowilans Ohr. Als sein Atem die Haare des Schamanen in Bewegung brachte, hauchte er aus: „Derona. Derona …“

Dann wartete er. Rowilan zuckte unmerklich bei seinen Worten, presste die Augen fester aufeinander. Schließlich wiederholten seine Lippen fast unhörbar Deronas Namen.

Aigonn hätte am liebsten aufgejubelt. Es geschah, was geschehen sollte. Als er sich Rowilans Ohr ein zweites Mal näherte, schienen selbst die fremden Geister innezuhalten und zu lauschen, was dieser kleine Sterbliche dem Schamanen zu entlocken versuchte.

Er formulierte eine Frage: „Wozu war Derona in der Lage?“

Stille folgte. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Die Lichtwesen um Aigonn herum schwebten still in der Luft. Ihre Blicke schienen wie feine Nadeln in seine Haut zu stechen. Ein weiterer Schauer jagte ihm den Rücken hinab. Dann antworte Rowilan flüsternd: „Derona hat gesehen, was ich nicht sehen konnte.“

„Was hat sie gesehen?“

„Die Andere Welt, ihre Wesen, die Geister, all das, viel klarer als ich.“ Rowilan begann, keuchend zu husten. Durch seine liegende Position waren es nur leise, erstickende Laute, die sich schnell legten. Die Lichtwesen schienen näher an die beiden Männer herangerückt. Eines von ihnen schimmerte keine Hand breit neben Aigonns Gesicht. Er fühlte es mehr, als dass er es sah. Doch diese Empfindung genügte, damit eine eisige Kälte jegliche Wärme aus seinem Körper vertrieb. Unwillkürlich fröstelte er. Als er wieder zu Rowilan hinabsah, erkannte er, dass der Schamane ebenfalls zitterte. Für einen Moment dachte Aigonn darüber nach, wieder zu gehen, Rowilan in Frieden zu lassen. Eine leise Angst schlich sich in seinen Kopf. Wenn er den Schamanen nun so belastete in seinem Kampf mit den Geistern und der Anderen Welt, würde er dann jemals wieder erwachen? Sollte er ihm nicht lieber helfen, diesen Kampf zu gewinnen?

Doch diese Funken Zweifel verbrannten in der Wut seines Innersten. Für Rowilan empfand er kein Mitleid. Der Schamane hatte seine Schwester in den Tod getrieben und dafür gesorgt, dass sein Vater das Dorf verlassen musste. All die Jahre über hatte er ungestraft weitergelebt. Niemand hatte sich darum geschert, was passiert war.

Für einen kurzen Moment schien es Aigonn, als wäre eine weitere Präsenz zu den Geistern hinzugekommen. Neue Kälte erfasste ihn, eine ganz andere als jene, welche das Lichtwesen aussandte. Vielmehr war es die klamme Feuchte, die ausgekühlten, toten Körpern anhaftete – so wie jene, die man auf einem Schlachtfeld zurückließ. Ein weiterer Schauer erfasste Aigonn und dieser zwang ihn beinahe in die Knie. Er kannte dieses Gefühl. Es war nicht das erste Mal, dass er es wahrnahm. Zwei kalte Hände schienen an seinem Hals zu ruhen, doch diesmal drückten sie nicht zu, raubten ihm nicht die Luft. Sie waren vielmehr eine Drohung, die ihn zwang, sich zu konzentrieren, sich darauf zu besinnen, weswegen er hierher gekommen war. Seine Lippen formten eine weitere Frage, die Frage, die ihn seit Jahren quälte.

Plötzlich erfasste eine Windböe die angelehnte Tür und schlug sie knallend gegen die Hauswand. Aigonn fuhr auf. Im selben Moment sah er Rowilan die Augen öffnen, verschlafen blinzeln. Sein Blick trübte sich. Die Geister verloren an Gestalt, bis sie für ihn vollkommen unsichtbar wurden.

Auf einmal war die Kälte der angenehmen Frische des Abends gewichen. Die Flamme des Zorns war erloschen. Aigonn nahm sich nicht mehr die Zeit, um sich der Umstände zu besinnen, sondern huschte so schnell und leise wie möglich zur Tür – hinaus in die Dunkelheit.

Zwei Häuser weiter drückte er sich in den Schatten eines Viehstalls. Er bemerkte erst jetzt seinen keuchenden Atem und eine plötzliche Luftarmut, der abgeholfen werden musste. Kalter Schweiß klebte überall auf seinem Leib. Wo die wispernde Stimme gewesen war, erfüllte ein quälendes Rasseln seinen Geist, das die Antwort seines rebellierenden Körpers auf die Anstrengung zu sein schien, die er so gar nicht wahrgenommen hatte.

Erst als er einen Moment sitzen geblieben war und gewartet hatte, bis sich sein Atem beruhigt hatte, hörte Aigonn die erregten Stimmen, die überall hinter ihm auf dem Marktplatz und darum herum laut geworden waren. Menschen liefen aus den Häusern. Jedoch wo Aufruhr zu erwarten war, verklangen die Rufe irgendwann. Angstvolle Stille machte sich breit. Sie wurde so bedrückend, dass Aigonn sich dazu zwang, aufzustehen und mit einem kleinen Umweg um die Häuser herum nachzusehen, was geschehen war.

Als er hinter einem Haus am Marktplatz auftauchte, ließ der Anblick erst Überraschung, dann neue Wut in ihm aufsteigen. Doch Wut nicht in dem Sinne, wie er sie noch wenige Momente zuvor empfunden hatte. Vielmehr war es die Verdrießlichkeit darüber, dass ein Plan nicht so gelingen würde, wie man ihn ausgedacht hatte.

Der aufgebahrte Leichnam des Eichenmannes stand lichterloh in Flammen. Der rote Feuerschein hüllte den gesamten Marktplatz in ein unwirkliches Licht von Tod und Krieg, das die Luft zu verpesten schien. Eine Menschentraube hüllte den brennenden Scheiterhaufen ein. Ihr Schweigen verriet Angst, stille Beklemmung darüber, was nun geschehen könnte, wenn man daran glaubte. Schon vielmals waren Geschichten aus älteren Tagen überliefert worden, in welchen ruhelose Seelen die Lebenden quälten. Der Geist eines Menschen musste den Weg in die Andere Welt finden, das bekamen die Bärenjäger schon als Kinder gelehrt. Verderben konnte nun ihnen allen blühen, soweit man diesen Geschichten Glauben schenkte. Doch obwohl Aigonn niemals an den Lehren seines Stammes gezweifelt hatte, empfand er in diesem Moment keine Angst.

Seine Augen spähten durch die Menschenmenge. Er suchte nach der jungen Frau, ob sie sich unter die anderen Leute gemischt hatte. Was würde sie davon halten? War es jetzt noch möglich, seine Erinnerungen zu finden?

Aigonns Kopf schien zu taub, um sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Eine seltsame Betäubung erfasste ihn. Vor seine Augen schien sich ein Nebelschleier zu legen, der die Wirklichkeit in einen Traum verwandelte und Worte nur noch wie Nieselregen hindurchsickern ließ.

Irgendwo neben sich hörte Aigonn Behlenos zu der Menge sagen: „Glaubt mir, euch droht keine Gefahr. Das, was ihr fürchten musstet, ist beseitigt. Die Späher der Eichenleute halten sich überall in unseren Wäldern versteckt. Die Wachen haben erst kürzlich einen von ihnen um die Siedlung schleichen sehen.“

„Wie könnt Ihr mit solcher Bestimmtheit sagen, dass uns nun kein noch größeres Opfer droht?“ Aigonn konnte den Sprecher nicht identifizieren. Doch echte Angst schwang in seinen Worten mit, als er hinzufügte: „Rowilan ist nicht in der Lage, uns beizustehen! Wer soll sich nun darum kümmern, dass diese arme Seele ihren Weg in die Andere Welt finden wird?“

Behlenos zögerte. Aigonn spürte, dass ihn diese Frage in Bedrängnis brachte, ganz gleich, wie wenig Achtung er selbst dieser vermeintlichen Gefahr schenkte. Aber er war der Fürst, er war für sein Volk verantwortlich und hatte dessen Willen auszuführen. Schließlich fand sich unerwarteter Mut in seiner Stimme, als er verkündete: „Nein, ihr irrt euch! Da ist er doch! Rowilan!“

Rowilan. Der Name riss Aigonn aus seiner Betäubung. Erschrocken blickte er zwischen die Häuser zu seiner Linken und erkannte wahrhaftig eine Gestalt, die sich mühsam in Richtung des Marktplatzes schleppte. Zehn Schritte blieb Rowilan in Deckung in der Dunkelheit, dann trat er ins Licht des Scheiterhaufens.

Aigonn erschrak unwillkürlich. Das Dämmerlicht der Talglampe hatte die tiefen Spuren nicht sichtbar gemacht, die Rowilans Kampf mit den Geistern der Anderen Welt hinterlassen hatte. Die Wangen des Schamanen waren hohl geworden. Tiefe Schatten unterzeichneten seine Augen und verwandelten den kaum dreißig Jahre alten Mann in einen Greis.

Aigonns Puls beschleunigte sich. Rowilan trat aus den Schatten, machte einige mühsame Schritte auf die Wiese hinaus. Dann trafen sich ihre Blicke.

Aigonn erschrak. Er hätte erwartet, dass Rowilan zornig auf ihn zuschreiten würde – oder ihn vielleicht gar nicht mit dem, was sich gerade erst in seinem Haus abgespielt hatte, in Verbindung brachte. Doch stattdessen blitzte Furcht in seinen Augen auf. Furcht und Zweifel. Er schien unsicher darüber, ob er Aigonn wirklich erkannt oder sein Gesicht nur im Fiebertraum heraufbeschworen hatte. Binnen Herzschlägen schien der sonst unantastbare Schamane noch angreifbarer geworden, als er es halb ohnmächtig auf seinem Schlaflager gewesen war.

„Rowilan! Rowilan, hörst du mich nicht?“ Erst Behlenos’ Stimme durchbrach die Spannung des Moments. Ohne ein Wort zu sagen, schritt der Schamane an Aigonn vorüber an die Seite seines Fürsten und ließ sich mit nachdenklicher Miene erzählen, was am gestrigen Tag vorgefallen war.


„Was tun wir jetzt? Können wir seine Erinnerungen immer noch wiederfinden?“ Aigonn sah fragend zu der jungen Frau an seiner Seite, die nur mit halber Aufmerksamkeit seinen Worten lauschte. Unruhig knetete sie immer wieder ihre Hände, während sie mit gerunzelter Stirn zum Marktplatz hinübersah und beobachtete, wie die letzten Reste Asche von der Erde gescharrt wurden.

„Es wird schwierig werden, sehr schwierig. Fast unmöglich. Die Erinnerungen sind mit seiner Asche verstreut. Wir werden niemals so viel erfahren, wie wir aus seiner Leiche hätten lesen können.“

Der kühle Wortlaut ließ Aigonn unwillkürlich schaudern. Er konnte noch immer nicht recht mit der zweckmäßigen Art umgehen, mit welcher die junge Frau alle Dinge um sich herum betrachtete. Sie hatte ein Ziel, eine Aufgabe. Alles andere beäugte sie so kühl, dass Aigonn sich allmählich fragte, wie skrupellos sie sein konnte, wenn sie es wollte. Doch diese Gedanken verdrängte er. Sie war niemand, dem er misstraute – auch wenn er sein Vertrauen nicht recht begründen konnte. Es schien ihm schlüssig, was sie vorantrieb und dass sie herausfinden wollte, was hier vor sich ging. Doch mehr Gründe hatte er nicht.

„Und jetzt?“ Er bekam keine Antwort. Die junge Frau verschränkte weiterhin ihre Finger, wandte und drehte ihre Hände, als ob diese unbewussten Bewegungen Antworten heraufbeschwören könnten. Es dauerte lange, bis sie zögerlich herausbrachte: „Theoretisch … hätten wir noch eine Möglichkeit.“

Aigonn sah sie an. Als ihre Blicke sich trafen, spiegelte sich Furcht in ihren Augen. Furcht wovor? Vor der Idee? Vor ihm? Vor ihm. Plötzlich fand er die Erkenntnis. Seine Miene versteinerte so jäh, dass die junge Frau ausstieß: „Du musst das nicht tun! Niemand verlangt es von dir. Wir können auf dieses Ritual verzichten und versuchen, auf eine andere Weise herauszufinden, was diesen Mann in den Tod getrieben hat. Du brauchst …“

„Aber es wird nichts bringen, richtig?“ Aigonn schauderte. Seine Hände wollten zu zittern beginnen, allein bei diesem Gedanken, den sein Geist sich gerade in allen Farben ausmalte. Doch wohl war es der schnellste und wirksamste Weg; der Weg zu der Wahrheit, die er sich immer erhofft hatte.

Noch war es Nacht. Ihnen würde eine geraume Zeit bleiben, bis der Morgen dämmerte und den gewohnten Alltag zurückbrachte. Die meisten Menschen, die der nicht geplanten Verbrennung des Eichenmannes beigewohnt hatten, waren in ihre Häuser und Betten zurückgekehrt. Es war egal, wie viele von ihnen in dieser Nacht noch Schlaf finden würden. Die Ruhe war wieder hergestellt.

Die junge Frau musterte Aigonn prüfend. Er wusste, dass er sich nicht mit ihr messen konnte. Und sie schien herausfinden zu wollen, wie belastbar er wirklich war. Konnte er es tatsächlich tun? Der Eichenmann war verbrannt. Doch Derona lag noch immer unter ihrem Grabhügel, seit fast einem Jahrzehnt schon. Niemand hatte sie verbrannt. Ihre Knochen mussten unversehrt in der Erde ruhen. Ihr Götter, helft mir!

Es war der Weg, der ihm Antworten bringen würde. Vielleicht würde er sehen können, wie sie gestorben war, was sie dazu getrieben hatte. Womöglich würde er erfahren, was ihm in dieser Nacht eigentlich verwehrt worden war. Aber konnte er die Ruhe seiner Schwester stören? Wollte er das wirklich sehen? Die Fragen schienen Aigonn auseinander zu reißen. Hilfesuchend wandte er seinen Blick an die junge Frau, doch er wusste, dass es in diesem Moment allein seine Entscheidung war.

Er kämpfte noch mit sich, seinem Gewissen und seiner Angst, als er über die Lippen brachte: „Wir sollten uns beeilen. Heute Nacht wird uns auf dem Gräberfeld sicher niemand stören.“

„Bist du sicher, dass du das tun willst?“

„Wenn du mich noch einmal fragst, werde ich es mir anders überlegt haben. Also lass uns endlich gehen!“

Damit verschwanden sie in den Schatten. Es hatte noch immer keine neue Wache den Dienst aufgenommen, Aigonn zu überwachen, weshalb er und die junge Frau den Wehrgang der Palisaden schnell erreicht hatten. Auf dem Weg dorthin hatte Aigonn aus dem Haus seiner Eltern eine eiserne Hacke mit sich genommen, die ihnen helfen würde, die Erde des Grabhügels zu lockern. Die junge Frau warf einen prüfenden Blick zwischen den angespitzten Holzpfählen hindurch und reckte sich so weit sie konnte, bis sie fragte: „Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich hinunterspringen und bleibe unversehrt. Was ist mit dir? Du bist verletzt! Sollen wir ein Seil holen?“

„Das dauert zu lange. Wir haben nicht die Zeit, hier ein Seil zu befestigen, ohne dass uns die Wachen bemerken. Geh einfach vor!“

Die Dunkelheit hatte die junge Frau in eine schwarze Silhouette verwandelt, aber er spürte trotzdem, dass sie ihn skeptisch beäugte. „Du musst es wissen“, erwiderte sie nur. Dann ließ sie sich von Aigonn vorsichtig über die Palisaden heben und suchte zwischen den Pfahlspitzen Halt für ihre Hände.

Lhenia war ein zierliches Mädchen gewesen. Trotzdem spürte Aigonn ihr Gewicht auf seine lädierten Rippen drücken, als hätte er einen erwachsenen Mann hochgehoben. In diesem Moment war er nicht mehr so sicher, ob er den Sprung aus gut und gern dreizehn Fuß Höhe wagen sollte. Doch ihm blieb keine Wahl.

Es dauerte nur wenige Herzschläge, bis die junge Frau sich von den Palisaden abgestoßen hatte, sich drehte, jedoch etwas plump am Rand des Grabens aufkam, der die Verteidigungsanlage umsäumte. Nun war Aigonn an der Reihe.

Die Hacke warf er als erstes hinab. Es fiel ihm nicht leicht, mit nur einem Arm Halt zwischen den angespitzten Baumstämmen zu finden. Als er feststellen musste, dass er sich kaum wie die junge Frau erst hängen lassen und dann abstoßen konnte, da ein Arm allein unmöglich sein ganzes Gewicht zu tragen vermochte, entschloss er sich für den kurzen, schnellen Weg. Aigonn dachte nicht darüber nach, wie schmerzhaft es sein würde. Er nahm zwei Schritte Anlauf, stemmte sich mit aller Kraft auf die Palisaden und schwang seinen Körper schließlich mit voller Wucht darüber.

Die Schmerzen zermarterten ihn nicht, wie er zuerst geglaubt hatte, sondern wirkten augenblicklich betäubend. Er konnte nicht sagen, wie lange es dauerte, bis das Gesicht der jungen Frau wieder klar vor seinen Augen erschien. Doch er lag halb im Graben, halb auf der Wiese. Der Schmerz in seiner gebrochenen Rippe schien seinen Brustkorb auseinander zu reißen. Er schmeckte die Galle bereits im Mund, ungeachtet des verletzten Armes, der nun nicht weniger schmerzte.

Die junge Frau gab ihm noch einen Moment Zeit, dann fragte sie: „Kannst du aufstehen?“

„Ich kann es versuchen.“ Es schockierte Aigonn, wie tonlos seine Stimme klang. Der Schwindel hatte noch nicht von ihm abgelassen, als er sich mit Hilfe der jungen Frau wieder auf die Beine hievte. Dann schüttelte er ihre Hand von sich ab und versuchte, sich so gut wie möglich auf den Weg zu konzentrieren, der vor ihm lag.

Die Totenaue lag ein Stück von der Siedlung entfernt hinter einem lichten Stück Wald. Auf dem Hinweg musste Aigonn sich mehrfach hinsetzen, innehalten, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Er erinnerte sich daran, dass er diesen Weg schon einmal in einem viel schlechteren Zustand hinter sich gebracht hatte. Doch trotz allem erschien ihm die kurze Strecke dieses Mal fast unüberwindbar. Die junge Frau hatte ihn schon zweimal gefragt, ob sie nicht lieber umkehren und noch einige Tage warten wollten. Beim zweiten Mal aber hatte Aigonn sie so unwirsch zurückgewiesen, dass sie seitdem schwieg und ihn lediglich mit nachdenklichen Blicken beäugte. Das glaubte er zumindest.

Die Nacht war stockfinster. Gewitterwolken hatten das Firmament überzogen und erstickten jegliches Licht, das der Mond hätte spenden können. Aigonn hatte mit einem Feuerstein eine Fackel entzündet. Deren spärliche, zuckende Flamme verwandelte den Weg über die Wiese aber mehr in einen grotesken Wachtraum, als dass sie eine wirkliche Hilfe darstellte.

Als der Boden unter ihren Füßen endlich feuchter wurde, wusste Aigonn schon lange, dass sie die Totenaue erreicht hatten. Die Zeit schien in diesem winzigen Ort zwischen Bäumen und Sträuchern eingefroren. Episoden und Geschichten hatten den Lauf der Vergänglichkeit verlassen und waren unsterblich geworden – in dem Moment, da man die vielen Toten zu Grabe getragen hatte.

Es schauerte Aigonn, als die ersten Silhouetten der Grabhügel in der Dunkelheit erschienen. Stimmen umgaben diesen Ort, vergessene Erinnerungen der Menschen, die längst den Weg der Sterblichen gegangen waren. Zum ersten Mal wurde Aigonn die Bedeutung der Worte bewusst, als die junge Frau von zurückgelassenen Erinnerungen gesprochen hatte. Das Gräberfeld war erfüllt von ihnen. Aigonn schwankte zwischen Beklemmung und Faszination, während er diesen Ort, der zu seinem Leben gehörte wie das Dorf und seine Familie, zum ersten Mal mit ganz anderen Augen sah.

Der leichte Geruch von Moder verriet schließlich den See, der ein baldiges Ende ihres Weges verhieß. Aigonn fluchte lauthals, als er eine der unzähligen Wasserpfützen in Ufernähe übersah und bis zu den Waden im Schlamm versank. Doch er bremste sich ebenso schnell wieder, wie ihm die Worte entkommen waren. Die Stille des Ortes hatte fast etwas Plastisches. Sie schien ein zerbrechliches Gebilde zu sein, das mit jedem unbedachten Laut, jedem Ausruf klirrend in Dutzende Scherben zersprang.

Schließlich, keiner der beiden konnte recht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, verloren Aigonns Schritte an Geschwindigkeit. Die Schwärze der Nacht hatte ihn fast blind gemacht, die Fackel war erloschen und die Totenaue verschmolz schwarz und schemenhaft mit dem angrenzenden Wald. Diesen Grabhügel aber, abseits der Ruhestatt seiner Sippe errichtet, hätte Aigonn wohl mit verbundenen Augen gefunden. Wie von selbst waren seine Füße den Weg gegangen, den er oft zu meiden versucht hatte. Er entsann sich, wie selten er im Grunde seine Schwester besucht hatte. Zweimal vielleicht war er an ihr Grab gekommen – dann, wenn sein Gewissen ihn lange genug gequält hatte. Jahrelang hatte er sie, ihren unglücklichen Tod und all das Verderben, das er mit sich gebracht hatte, vergessen wollen, sie aus seinem Leben streichen wollen. Doch Derona war keine Legende, die verschwand, wenn man aufhörte, sie zu erzählen.

Ihr Grab lag nun vor ihm, als ob es all die Jahre auf ihn gewartet hätte. Fast einladend hatte ein Holunder des Waldrandes den mannshohen Hügel umrahmt. Seine letzten weißen Blüten schienen erlöschende Sterne in der Dunkelheit zu sein.

„Das ist es“, sagte Aigonn knapp. Das Gras schien nach seinen Beinen zu langen, ihn festzuhalten, seine Füße schienen Wurzeln zu schlagen. Hier, wo die Vergangenheit auf ihn wartete, hatte die Gegenwart keine Macht. Das Verlangen in seinem Kopf, einfach panisch davonzurennen, wurde einen Herzschlag lang übermächtig, doch dann erlosch es. Aigonns Geist war taub geworden. Er wartete lediglich darauf, dass die junge Frau ihm ein Zeichen gab.

Sie stand vier Schritte von Aigonn entfernt, dort, wo sich die einzige heute noch logisch erscheinende Stelle für einen Zugang zur Grabkammer befand. Sie musterte den Ort einen Augenblick schweigend, bevor Aigonn sie fragen hörte: „Sind die Grabhügel hinter uns in den vergangenen Jahren hinzugekommen?“

„Nein. Es sind die ältesten Hügel der ganzen Aue. Sie haben Derona zwischen unseren Vorfahren begraben, weil sie glaubten, deren Geister könnten sie am ehesten davon abhalten, aus der Anderen Welt zurückzukehren, um das Dorf zu tyrannisieren.“

Ein witzloses Lachen war aus der Dunkelheit zu hören. Ihre Stimme klang abwesend, als die junge Frau sagte: „Die Grenze zur Anderen Welt ist hier dünn. Warum baut man eine Siedlung in die Nähe eines solchen Ortes?“

Ihre Worte waren keine echte Frage, denn sie spürte wohl, dass auch Aigonn darauf keine Antwort wusste. Eine kurze Zeit hielt sie noch inne, dann nahm sie Aigonn die Hacke aus der Hand und begann, die Erde auf der Seite des Grabhügels zu lockern, die dem Wald am entferntesten war.

Aigonn versuchte, seine Herzschläge zu zählen, doch nach wenigen dreißig gab er es auf. Als die junge Frau nach einer geraumen Zeit immer noch kaum vorangekommen war, nahm er ihr die Hacke aus der Hand und bemühte sich, trotz seines verletzten Arms, die Grabkammer freizulegen.

Es schien Tage zu dauern, bis sie endlich auf eine Trockenmauer trafen. Aigonn befürchtete, bereits den Morgen grauen zu sehen. Doch die Wolkendecke ließ eine Zeitmessung nicht zu.

Die Beklommenheit, die seit dem Betreten der Totenaue alles in ihm bestimmte, verstärkte sich, als er mit spitzen Fingern die Steine zu lockern versuchte. Es gelang ihm schlecht. Er musste zweimal die Hacke zur Hilfe nehmen, bis die unsauber gehauenen Steine bröckelten und ihm der Geruch alten Staubes entgegenschlug.

Unwillkürlich hielt Aigonn den Atem an. Die Schwärze der Nacht hatte sich tatsächlich etwas gelichtet, sodass die gähnende Finsternis im Innern der Grabkammer wie ein schwarzes Loch in das Nichts wirkte. Die junge Frau warf Aigonn einen fragenden Blick zu. Sie hatte in der Zwischenzeit einen trockenen Ast herbeigeschafft und hielt zwei Feuersteine griffbereit in den Händen.

Aigonn nickte nur stumm. Was sollte es auch nützen, wenn sie sich gerade jetzt zurückzogen? Mit zwei scharfen Schlägen blitzten feine Funken auf. Binnen weniger Atemzüge entzündete sich eine Flamme, deren Licht sich langsam wie die Morgensonne ihren Weg in die Dunkelheit suchte, die seit fast einem Jahrzehnt ungestört war.

Zwischen den Überresten eines Schaffells ruhten erblichene Knochen im Erdengrab. Aigonn wurde plötzlich wieder zum Kind, sah zu, wie seine Mutter Tontöpfe voll Korn, Honig und Obst neben seine Schwester bettete. Die Glasperlenkette an ihrem Hals und die bronzenen Reifen an ihren Armen waren die kostbarsten Schmuckstücke, die Moribe ihrer Tochter auf die Schnelle mit in die Andere Welt hatte geben können.

Die Wirklichkeit war ein verblichenes Abbild dieser Tage. Aigonn starrte Augenblicke lang auf die Überreste von Derona, auf das, was von ihr geblieben war, bis er die junge Frau sagen hörte: „Es ist so weit! Bist du bereit?“

‚Nein‘, wollte Aigonn rufen. Er würde niemals bereit für diesen Moment sein. Doch er konnte dem Gefühl keinen Namen geben, das ihn vorwärtstrieb, während er auf die junge Frau zulief. Sie selbst kniete neben dem frischen Eingang zur Grabkammer. Das Loch im Hügel war kaum groß genug, um einen einzelnen Mann hindurchzulassen. Aigonn hätte gern noch einmal mit ihr gesprochen, sich vielleicht doch zurückgezogen. Doch bevor er die Gelegenheit fand, hatte sich die junge Frau bereits gebückt und suchte sich einen Weg in die Grabkammer hinein.

Aigonn wollte es nicht. Er wollte weglaufen, all das vergessen, sich bei Rowilan entschuldigen und versuchen, alles so sein zu lassen, wie es hätte sein können. Aber er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Noch einmal atmete er tief durch, bewahrte sich den Geruch der Nacht und des Sees, bevor er die Augen schloss und blind in den Grabhügel kroch.

Es waren nur wenige Fuß, dann öffnete sich vor ihm die Grabkammer. Der winzige Raum war gut zwei Fuß tief in den Boden gegraben und kaum groß genug, dass man neben der Toten noch Töpfe und Schalen abstellen konnte. Die junge Frau hatte sich ans Fußende gezwängt. Die mit Holz gestützte Decke war so niedrig, dass sie sich selbst im Sitzen bücken musste, während sie behutsam die Gefäße zwischen die Beine der Toten legte, um sich Platz zu schaffen.

Noch bevor Aigonn sich recht hinsetzen konnte, musste er husten. Der Staub klebte auf seinen Schleimhäuten. Er atmete lange in Richtung des Ausgangs, um seine Lungen mit frischer Luft zu füllen, während die junge Frau die Fackel so schräg in das Erdreich steckte, dass sie die Decke nicht ansengte.

Als er sich wieder beruhigt hatte, stellte Aigonn eine große Tonkanne beiseite und nahm oberhalb des Kopfes seiner Schwester Platz. Zwei leere Augenhöhlen starrten zu ihm auf. Er konnte nicht sagen, ob er Abscheu oder Furcht vor dieser Sammlung von Knochen empfand, die einmal Derona gewesen waren. Ihn schockierte der Gedanke, dass er soeben ihre Ruhe gestört, ein heiliges Gesetz seines Volkes gebrochen hatte.

Aber es dient nur dazu, dass du Gerechtigkeit erhältst! An diesen Gedanken klammerte er sich und sprach ihn im Geist immer wieder aus, als würde er damit Deronas Seele besänftigen können.

Die junge Frau hatte sich in der Zwischenzeit gesammelt. Sie wartete auf den Moment, der ihr angemessen erschien, bis sie Aigonn zuraunte: „Lass uns beginnen! Ich kann dir helfen und dich dorthin führen, wo wir finden werden, was wir suchen. Aber sei dir bewusst, dass der Erfolg dieser Sache von dir abhängen wird – fast ausschließlich!“

Aigonn nickte.

„Bist du bereit?“

Er nickte abermals.

„Gut. Umfass ihren Schädel mit beiden Händen. Der Kopf war der Sitz ihrer Seele. Er ist der Ort, wo sie ihre Erinnerungen zurückgelassen hat. Du musst versuchen zu fühlen, was geblieben ist!“

Aigonn schloss die Augen. Seine Fingerspitzen zitterten, als sie den Knochen berührten. Solange er nicht hinsah, hätte es auch ein Tierschädel sein können, die Reste eines toten Schafes, das sein Vater geschlachtet und ausgenommen hatte. Der Gedanke widerte ihn an, aber er bewahrte ihn für den Moment vor den immer gleichen Bildern, die sich in seinen Kopf drängen wollten.

„Konzentrier dich! Du darfst nicht versuchen, der Situation zu entfliehen. Sonst hat das alles hier keinen Zweck!“

Er atmete tief durch. Der Kopf seiner Schwester. Mit einem Mal schien Derona ganz nahe zu sein. Die Präsenz ihres Geistes flammte auf, berührte ihn an der Schulter, bevor sie versiegte. Seine Atmung entspannte sich. Aigonn wurde ruhiger.

„Das ist gut so! Nun versuch, ihren Schädel zu spüren, so, als ob er ein Teil von dir wäre. Versuch zu sehen, was sie gesehen hat.“

In diesem Augenblick umfasste die junge Frau sein Fußgelenk mit einer Hand und sandte die ruhige, fließende Kraft aus, die sie in sich trug, die sie umgab. Sie wurde zu einer Stütze, die ihm Stärke verlieh.

Mit jedem Herzschlag wurde sein Atem ruhiger, bis sein Geist ganz langsam das Band zur Wirklichkeit durchtrennte. Die Schwere der Welt fiel von ihm ab. Als würde er über dem Boden schweben, fühlte er nur noch den Schädel in seinen Händen, sonst nichts mehr.

Aigonn öffnete die Augen. Er starrte auf die Gebeine seiner Schwester, versuchte zu sehen; etwas, das geblieben war, einen Funken ihres Geistes.

Plötzlich stürmten Bilder auf ihn ein. Die Wucht schien ihn im ersten Moment zu erschlagen, bis er dem Strom der Erinnerungen die Geschwindigkeit nehmen konnte. Dann sah er das Dorf vor sich. Ein fünfjähriger Junge jagte ein Schaf über die Wiese vor den Palisaden, und Aigonn musste verwundert feststellen, dass er sich selbst beobachtete.

Doch das war es nicht, was er suchte. Die nähere Vergangenheit musste er finden, die letzten Monate aus Deronas Leben. Aigonn versuchte, sich in einem Gewirr aus Bildern, Stimmen und Gefühlen zurechtzufinden, während er immer tiefer in sie hineingezogen wurde.

Auf einmal stand er barfuß im nassen Gras. Regenwolken säumten den Himmel von allen Seiten und sandten steifen Wind durch die Bäume des nahen Waldes. Zwei starke Arme hielten ihn umschlungen. Ihre Wärme ließ ihn erschauern und gab ihm eine Art von Geborgenheit, die Aigonn selbst so nur von seiner Mutter kannte.

Rowilans Gesicht war dem seinen so nah, dass der Atem des Schamanen wie eine Brise über seine Haut strich. Es war nicht der Rowilan, der Aigonn in dieser Nacht erschöpft und ausgezehrt entgegengekommen war, sondern ein junger Mann, kaum zwanzig Jahre alt, mit einem Strahlen in den Augen, das er so von seinem Schamanen nicht kannte.

„Ich glaube, du beschäftigst dich zu sehr damit. Du darfst dich nicht hinreißen lassen, für all diese Seelen Mitleid zu empfinden! Wir sind auch nur Menschen und keine Götter, das wissen sie.“

Rowilans Hand streichelte seinen Rücken. Die Berührung erweckte in ihm ein Gefühl, das Aigonn selbst überrumpelte. Er konnte sich erinnern, dass er so einmal für ein Mädchen empfunden hatte – doch niemals in dieser Stärke, dieser Intensität. Deronas Gefühle überforderten ihn. Es schockierte ihn fast, wie sehr sie Rowilan geliebt hatte und gleichzeitig erschreckte ihn die Situation, denn im Moment hatte er ihre Rolle übernommen.

Doch noch während er sich mit dem Gedanken beschäftigte, wie es sich anfühlte, einen Mann zu lieben, trübte sich dieses Gefühl. Er spürte eine tiefreichende, unterschwellige Angst, fast Panik, die nicht die seine war. Sein Körper versteifte sich. Rowilans Miene verlor einen Funken ihres Strahlens und wurde stattdessen besorgt. Aigonns Lippen zitterten, als er ausstieß:

„Es hat nichts damit zu tun, dass ich mich zu sehr mit den Geistern beschäftige. Sie lassen von mir nicht ab. Sie kommen zu mir, nachts, tagsüber. Sie drängen mir ihre Geschichten auf und flehen mich an, ihnen ein Tor zu öffnen. Dabei kann ich ihnen gar nicht helfen.“

Rowilans Blick wurde finster. Sein Griff um Aigonns Arme, die eigentlich die seiner Schwester waren, verstärkte sich, als würde Derona im nächsten Moment wie Eis zu Wasser schmelzen.

„Wir müssen so schnell es geht mit dir üben, dich gegen so etwas zur Wehr zu setzen. Vielleicht war es wirklich zu früh, dich in ein solches Ritual einzubinden.“

„Nein! Ohne meine Hilfe wäre es dir doch gar nicht gelungen. Alleine wärst du niemals wieder zu uns zurückgekehrt.“

Rowilan hatte den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, doch im selben Moment verschwand die Szene vor Aigonns Augen. Der Griff des Schamanen löste sich auf, gab ihn frei und nahm damit auch Zuneigung und Geborgenheit mit sich.

Die Furcht aber blieb. Aigonn sah Farben verschwimmen, eine Lichtung im Wald, nur von einer Fackel erhellt, die immer wieder taumelte, sich drehte. Drehte er sich oder waren es nur die Bilder vor seinen Augen? Er wusste es nicht. Aber plötzlich stieg eine ungeheure Übelkeit in ihm auf, dass er nur mit Mühe die Galle bei sich behalten konnte. Schwindel überkam ihn. Fast unerträglich sehnte er sich nach Schlaf, doch er kam nicht zur Ruhe. Wo vorher Stille gewesen war, erklangen Stimmen wie aus dem Nichts. Es waren so viele, so heftig, dass Aigonn die Hände hoch an seine Ohren reißen wollte. Doch er war wie gelähmt. Sein Körper schien versteinert. Unzählige Gestalten, durchsichtig wie Morgennebel, schwebten überall über dem Boden, kamen von allen Seiten. Und auf einmal hörte er jemanden sagen:

„Gib nicht auf! Du kannst sie finden! Finde sie!“

Jemand packte seine Hände. Der feste Griff schnitt ihm wie ein Seil ins Fleisch, doch er konnte sich nicht wehren.

„FINDE SIE!“

Die Bilder drehten und wiederholten sich. Er spähte wie besessen in das Gewirr aus Farben und zuckenden Gestalten. Doch er konnte nicht sehen, was er finden musste. Dabei hatte er nach ihr gerufen, sie war nicht gekommen. Irgendjemand rüttelte an seinen Schultern. Sein Körper schaukelte wie eine willenlose Puppe umher, während sein Kopf zu zerplatzen schien.

Panik schrie in ihm auf. Überall Panik. Die Stimmen wurden immer lauter, immer mehr. Er konnte es nicht mehr ertragen.

Dann fühlte er, wie er rannte. Rannte, als ob es um sein Leben gehen würde. Er war wehrlos. Er wusste, dass es zwecklos war, sich zu wehren. Es gab nur diesen einen Ausweg, diesen einen. Es hatte keinen Sinn, Widerstand zu leisten. Er wollte, dass es aufhörte, die Stimmen endlich aus seinem Kopf verschwanden.

Aigonn schrie, schrie wie noch niemals in seinem Leben zuvor. Die dunklen Silhouetten des Grabes der Götter tauchten aus dem Zwielicht der Nacht auf. Fackeln rammte er in den Boden. Sie mussten ihn finden. Bald würde seine Mutter da sein, das wusste er. Wichtig war nur, dass sie ihn fanden.

Er schrie. Immer lauter, immer heftiger. Ganz von fern versuchte eine Stimme seinen Geist zu erreichen, doch sie war ausgesperrt. Niemand sollte mehr in ihn eindringen, niemand mehr. Die Erinnerung verschwamm. Jemand hatte ihn an den Schultern gepackt und rüttelte seinen Körper aus Leibeskräften.

„AIGONN! KOMM ZU MIR ZURÜCK!“

Die Emotionen überwältigten ihn. Aigonn hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren. Seine Finger bluteten. Mit letzter Stärke zog er sich den nördlichen Monolithen hinauf. Es sollte vorbei sein, es würde ein Ende nehmen. Er musste nur einmal mutig sein, einmal …

„AIGONN!“ Die Ohrfeige traf ihn so unvermittelt, dass sie Wirkung zeigte. Nacht verwandelte sich in roten Feuerschein. Eine stille, ruhig fließende Kraft zog seinen Geist wie eine dritte Hand in seinen Körper zurück. Vergangenheit wurde zur Gegenwart.

Als Aigonn blinzelnd die Augen aufschlug, schaute er in die entsetzte Miene der jungen Frau. Sie hatte seine Oberarme mit beiden Händen umklammert, als würde er augenblicklich in ein Loch ohne Boden fallen, während er sich langsam dem Gewicht seines eigenen Körpers bewusst wurde.

„Aigonn!“ Ihre Stimme verriet echte Angst. Er selbst öffnete und schloss noch einmal ganz langsam die Augen, dann erkannte er endlich vor sich die Wirklichkeit. Dünne Rauchschwaden hatten sich in der Zwischenzeit an der niedrigen Decke gesammelt, die ihn unvermittelt husten ließen. Als er sich beruhigt hatte, fühlte er jedoch eigene Panik. Die Grabkammer schien ihm plötzlich unendlich eng, klaustrophobisch. Ohne große Rede schob er die junge Frau beiseite und flüchtete sich mit aller Kraft nach draußen.

Dort empfing ihn dämmriges Morgenlicht. Die frische, feuchte Luft der Wiesen spendete ihm solche Erholung, dass er sich von einem Moment auf den anderen wie erschlagen fühlte. Seine Beine schienen das doppelte Gewicht als üblich zu haben, als er sie aus dem Eingang hinauszog. Und erst mit dem Versuch aufzustehen bemerkte er das Zittern, das seinen ganzen Körper erfasst hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die junge Frau ebenfalls aus dem Grabhügel kletterte. Aigonn saß wie das lebende Elend im regennassen Gras, kreidebleich, zittrig. Sie wagte kaum, ihn an der Schulter zu berühren, als sie sich neben ihm niederließ.

„Verzeih mir!“ Die Entschuldigung hatte sie Aigonn nur zugehaucht. Doch dieser schlug im selben Moment die Augen auf und fragte: „Wofür?“

„Ich hatte nicht erwartet, dass es so heftig werden würde. Ich selber kann mich nur entsinnen, dass eine viel größere Distanz zwischen dem Sehenden und den Erinnerungen bestehen müsste. Vielleicht habe ich mich geirrt, weil du zu ganz anderen Dingen in der Lage bist als ich.“

Aigonn antwortete nicht. Er starrte zwischen den Grabhügeln auf den See hinaus, wo Nebelschwaden lautlos über dem Wasser schwebten. Sein Innerstes tobte noch. Er wusste gar nicht, wie er die Unmassen an Gefühlen, Bildern und Erinnerungen verarbeiten sollte. Zwar spürte er, dass es vorbei war, nicht zu ihm gehörte, doch ihn schockierte, was Derona all die Monate über ertragen hatte.

Die Frage schien seinen eigenen Gedanken zu entstammen, als die junge Frau fragte: „Was hast du gesehen? Was hat euer Schamane versucht, mit deiner Schwester zu erreichen?“

„Ich weiß es nicht genau. Es hatte den Anschein, als wären sie auf der Suche nach Seelen gewesen, die den Weg in die Andere Welt nicht gefunden haben. Aber ich kann dir nicht sagen, zu welchem Zweck.“

„Hat es vor einigen Jahren bei euch Krieg gegeben?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

Die junge Frau presste nachdenklich die Lippen aufeinander. Ihr Ausdruck war unbefriedigt. Sie schien sich mehr von diesem Ritual erhofft zu haben, das Aigonn fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Morgenlicht erreichte endlich die Schatten am Rande des Waldes. Die junge Frau gab Aigonn noch einen Moment Zeit, bevor sie anmerkte: „Allmählich sollten wir das Grab verschließen und zurückkehren. Man wird uns vermissen.“

„Nein.“

Sie sah auf. Aigonn blickte sie nicht an, als er wiederholte: „Ich gehe nicht zurück in die Siedlung. Nicht jetzt. Noch nicht.“

„Sondern?“

„In den Wald. Ich bin nicht in Stimmung, irgendjemandem Rede und Antwort zu stehen. Weder Efoh, noch Rowilan, noch sonst wem.“

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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