Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 24

Die Frage nach dem Schicksal

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Es waren lange und stille Momente, welche die junge Frau zusammen mit Aigonn im Wald verbrachte. Nachdem sie seinem Wunsch gefolgt waren und die Schatten des Waldes als Zuflucht gesucht hatten, versank er tief in seinen Gedanken und focht lange über das Gesehene mit sich selbst und seiner Vergangenheit.

Auf diese Weise wurde Morgen unbemerkt zu Mittag. Die Sonne wanderte weiter und brannte über dem Dorf mit all ihrer Kraft und Sommerhitze. Im Wald jedoch nahmen die beiden Gefährten keine Notiz davon. Aigonn selbst kannte die alten Bäume, die sich ihren Platz zwischen steinigen Hängen und feuchten Talsenken gesucht hatten, wie eine zweite Familie und folgte der Kontur des Waldrandes irgendwann in einiger Entfernung Richtung Dorf zurück.

Die junge Frau hatte sich lange zurückgehalten, aber schließlich musste sie ihrer Neugier nachgeben und fragte vorsichtig: „Was … glaubst du, hat deine Schwester zum Selbstmord getrieben?“

Zwei Atemzüge lang herrschte Stille. Dann antwortete Aigonn, ohne aufzusehen: „Die Geister, Wahnvorstellungen, irgendetwas dieser Art.“

„Trägt Rowilan Schuld daran?“

Nun sah Aigonn sie an. In seinen Augen lagen dutzende, heftige Antworten verborgen, doch diese waren nicht für sie bestimmt. Ihre Frage hatte er sich an diesem Tag schon mehrere Male gestellt. Seit sie von der Totenaue aus aufgebrochen waren, suchte er nach den Gründen dafür und dagegen. Doch obwohl er Rowilan insgeheim gern als den Schuldigen darstellen wollte, spürte er, dass er es sich nicht so leicht machen durfte.

„Ich glaube, dass Derona ihm etwas bedeutet hat. Sie hat ihn sehr geliebt, das weiß ich jetzt. Aber ich kann dir nicht sagen, wie viel er davon erwidert hat. In ihren Erinnerungen …“

Kurz hielt er inne. Die Gefühle seiner Schwester hatten sich in seinen Kopf eingebrannt, als hätte er selbst ihr Martyrium durchstehen müssen.

„… hat jemand sie dazu getrieben, vielleicht sogar gezwungen, eine bestimmte Person wiederzufinden, eine Seele. Ich konnte aus ihren Erinnerungen nicht entnehmen, ob es Rowilan gewesen ist. Sie schien es selbst nicht gewusst zu haben.“

„Traust du es ihm zu?“

„Ich weiß es nicht. Ich möchte nicht von mir behaupten, dass ich in der Lage bin, Rowilan einzuschätzen. Er verschwendet sehr viel Energie darauf, unnahbar zu wirken oder zumindest unantastbar. Diesen Eindruck habe ich. Zu was er fähig ist, weiß ich nicht.“

Damit musste die junge Frau sich zufrieden geben. Ganz egal, wie viel sie riskiert hatten, um Deronas Erinnerungen einzusehen, weit gebracht hatte sie das Unterfangen nicht. Aigonn wusste nicht, wie sie noch mehr in Erfahrung bringen könnten. Es würde ihnen einzig übrig bleiben, den Schamanen selbst zur Rede zu stellen und herauszufinden, wie belastbar er wirklich war.

Nachdem sie Momente lang in Schweigen versunken waren, durchbrach Aigonn schließlich die Stille. Unerwartet umspielte ein feines Lächeln seine Lippen, als er die junge Frau von der Seite betrachtete, ihr Profil musterte und schließlich fragte: „Du kannst dich noch immer nicht daran erinnern, wie du in deinem vergangenen Leben geheißen hast, richtig?“

„Nein, ich weiß es nicht. Ich fürchte, ein Name gehört zu den letzten Dingen, die man aus seinen früheren Leben herausfinden kann.“ Die junge Frau zog ihre Augenbrauen in die Höhe – noch weiter, als das Lächeln auf Aigonns Lippen fast spitzbübische Züge annahm.

„Warum fragst du?“

„Weil ich mir etwas überlegt habe. Langsam bin ich es leid, dass ich nicht weiß, wie ich dich ansprechen soll. Deshalb habe ich beschlossen, dass ich dich Anation nennen werde, einverstanden?“

Die Antwort, die der jungen Frau bisher noch auf der Zunge gelegen zu haben schien, war vergessen. Überrascht sah sie ihn an, unwissend, wie sie mit dieser unerwarteten Situation umgehen sollte. Ein Augenblick verging, bis sie fast verlegen nachhakte: „Anation … ist der Lebenshauch, das, was den Menschen lebendig macht; eine Seele. Warum ausgerechnet Anation?“

„Weil du genau das bist, eine Seele. Nur eine Seele. Statt in einem neugeborenen Körper ein neues Leben zu beginnen, bist du fast gezwungen gewesen, eine andere, alte Identität anzunehmen. Jeder, der dich sieht, erkennt Lhenia in dir und nicht dich. Deshalb Anation. Weil Lhenia tot ist, für immer. Mit dir verbindet sie nichts mehr.“

Der Ernst seiner Worte wurde Aigonn erst bewusst, während er sprach. Er konnte nicht sagen, wie die junge Frau zu ihrer Lage stand, dem fremden Körper, der fremden Identität, die ihm anhaftete. Auch ihr Gesicht war nachdenklicher geworden. Als sie ihm jedoch wieder in die Augen sah, lächelte sie. „Einverstanden.“ Aigonn und die junge Frau, Anation, hatten inzwischen den größten Teil des Heimweges hinter sich gebracht. Verdrießlichkeit machte sich in Aigonn breit, als er an die Geständnisse dachte, die er an diesem Abend noch vor Rowilan oder Behlenos ablegen sollte. Doch dieses Mal waren die Rollen neu verteilt worden. Rowilans Geheimnis gehörte dem Schamanen nicht mehr allein. Aigonn wusste, zu was er Derona benutzt hatte, auch wenn er es nicht beweisen konnte. Aber wer würde ihm glauben, wenn er keine Beweise besaß? Würde Anations Wort hoch genug zählen? Konnte er Rowilan zu einem Kampf herausfordern, dessen Ausgang das Urteil der Götter widerspiegelte?

Ein Gottesurteil. Bei diesem Gedanken war Aigonn nicht wohl. Ein einziges Mal hatte er zugesehen, wie zwei Männer über einer Talsenke zum Kampf gegeneinander erschienen waren. Barfuß und nur auf zwei dicken Baumstämmen als Untergrund, die man wie eine Brücke über die kleine, den Göttern geweihte Schlucht gelegt hatte. Der Streit war schnell entschieden gewesen, der Ankläger in die Tiefe gestürzt.

Aigonn wurde es mulmig zumute, als er sich vorstellte, wie er so gegen Rowilan antreten würde. Gewöhnlich fand der Schuldige des Verbrechens den Tod, doch es gab noch genügend Fragen, die er Rowilan stellen wollte – dann, wenn die Götter seine Schuld bewiesen hatten.

Als er mit dem Fuß über eine Wurzel stolperte und unwirsch zu fluchen begann, beendete Aigonn dieses Thema in Gedanken. Ihm fehlte im Moment der nötige Sinn dazu. Der Wald vor ihnen begann, lichter zu werden, sodass Sträucher und Büsche allmählich die ersten Schemen des Dorfes mit seinen Palisaden durchscheinen ließen. Der Wind hatte aufgefrischt. Neue Gewitterwolken hatten die Mittagshitze in stickige Schwüle verwandelt, während das aufziehende Unwetter erste Abkühlung versprach. Fast milchig schimmerte der Himmel zwischen den dichten Baumwipfeln hindurch. Die leisen Stimmen der Vögel waren weniger geworden, als wartete die ganze Natur auf den Regen, der auch den letzten Staub der Dürre wegwaschen würde – all das, was nach dem frühen Morgen noch übrig geblieben war.

Das Flüstern der Bäume hatte an Kraft gewonnen, sodass es Aigonn fast schien, als trage der Wind Stimmen mit sich. Der erste Geruch von Vieh, von Pferden, hing in der Luft – so früh, dass Aigonn sich wunderte, warum man die Weiden in solche Waldesnähe verlegt hatte.

„Wie viel Wahrheit werden wir deinen Leuten erzählen?“

Aigonn sah zu Anation hinab. „Das weiß ich noch nicht. Der Moment wird es entscheiden. Wir müssen versuchen, Rowilan dazu zu bringen, dass er uns die ganze Geschichte erzählt und sie eingesteht. Sonst haben wir gegen die Leute keine Chance.“

„Wie meinst du das?“

„Ich meine ihre Engstirnigkeit. Das ganze Dorf hält mich für einen übersinnlich begabten Wahnsinnigen, der wahllos mit seinen Fähigkeiten herumexperimentiert. Und du? Du bist ein Menschenopfer, das von den Toten auferstanden ist. Viel mehr sehen sie nicht in dir, und das werden auch deine guten Absichten nicht ändern. Die Mehrheit ist das Gericht, das das Urteil fällen wird, nicht die Wahrheit. Wenn wir keine schlüssigen Beweise liefern können, kämpfen wir auf einem entsetzlich verlorenen Posten.“

Anation presste missmutig die Lippen aufeinander. Aigonn erschien es immer mehr, als hätte sie ihre und seine Lage ein Stück weit verkannt, was ihn nicht mutiger stimmte. Seine Stimme klang nicht annähernd so überzeugend, wie er wollte, als er von seinem vorher bedachten Vorschlag berichtete: „Wir, also ich, kann höchstens versuchen, die Streitfrage durch die Götter richten zu lassen. Es ist nicht der sicherste Schritt, der zu gehen möglich ist, aber im …“

„Warte!“ Auf einmal fasste Anation Aigonn bei der Schulter. Sie war so abrupt stehen geblieben, dass er einen Schritt zurück machen musste, während er die Stirn in Falten legte. „Was ist denn?“, hakte Aigonn nach. Die junge Frau aber gemahnte ihn nur zur Ruhe und deutete statt einer Antwort mit dem Finger an einem Dornenstrauch vorbei.

„Sind das eure Leute?“ Ihre Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. Aigonn musste sich ein Stück zur Seite beugen, um zwischen dem Blätterwerk hindurchsehen zu können. Als er aber vorsichtig einen Ast beiseite geschoben hatte, schnürte sich ihm die Kehle zu.

Eine Gruppe Männer hatte im Schutz des Strauchwerkes Deckung bezogen, wie viele konnte Aigonn nicht sagen. Er sah ihre Pferde unweit entfernt neben einer umgestürzten Buche von der Krautschicht grasen, während die Männer leise Anweisungen austauschten. Ihre Haare waren fast alle auf eine einheitliche Länge gestutzt. Wer keinen Helm trug, hatte sie sich mit Kalkwasser zu einer stacheligen Frisur nach hinten gekämmt, die im Nacken so hart wurde, dass sie einen gestreiften Schwertschlag würde abhalten können. Nicht alle von ihnen trugen Schwerter an den Gürteln, doch jeder war mit mindestens einer Lanze bewaffnet. Lederbespannte Schilder lehnten neben den Pferden. Doch was Aigonn an der Szene am meisten beunruhigte, waren mit Waidblau gemalte Eichenblätter, die zwischen heiligen Symbolen und Spiralen ihre nackten Oberkörper schmückten.

„Sie mögen von allen Göttern verflucht sein!“ Aigonn machte zwei Schritte rückwärts und fasste Anation dabei am Arm, um sie mit sich zu ziehen. Diese fragte im Flüsterton:

„Was ist? Wer sind diese Leute?“

„Eichenkrieger. Diejenigen, vor denen du uns gerettet hast, als du in diese Welt zurückgekehrt bist.“

Auf einmal wandte einer der Männer seinen Kopf in ihre Richtung. Aigonn schnellte ins Dickicht, so leise wie möglich, doch das verräterische Knacken einiger Äste erschien selbst ihm wie ein Donnerschlag durch den Wald zu hallen. Für einen Moment wagte weder er noch Anation zu atmen. Er hörte die Eichenmänner einige Worte wechseln, die er nicht verstehen konnte. Schritte näherten sich ihnen. Schon nach kurzer Zeit aber kehrten sie um und verklangen auf einem von Sträuchern unbedeckten Stück Boden.

Erleichtert atmete Aigonn aus. Eine kurze Zeit lauschte er in das Dickicht, um sicher zu gehen, dass sie genügend Abstand gewonnen hatten, dann flüsterte er Anation zu: „Die sind bestimmt nicht alleine hier. Das kann nichts Gutes heißen. Wenn sie über die Späher von ihrem toten Stammesgenossen in unserer Siedlung erfahren haben, werden sie das Dorf bis zum Abend in Schutt und Asche legen!“

Entsetzt blickte Anation auf: „Habt ihr denn keine Krieger mehr? Es muss doch in dieser Nähe andere Siedlungen von eurem Stamm geben?“

„Gibt es, ja.“ Aigonn grinste witzlos. „Wir brauchen einen Tag, um sie zu erreichen. Die Krieger, die ihnen geblieben sind, könnten unserer Seite bis zur späten Nacht hin einen geringen Vorteil verschaffen – sollten wir solange ausharren. Behlenos hat die verbliebenen Männer nach der Schlacht heimgeschickt und zunächst sämtliche Späherposten abgezogen, damit sie die Siedlung vor Ort schützen können. Hätte er dies unterlassen, wären die Eichenleute uns nie so nahe gekommen. Doch es ist ja egal. Selbst wenn wir die anderen Krieger erreichen können, bleiben uns die Eichenleute mehr als überlegen. Daran lässt sich nichts ändern.“

„Heißt das, jetzt ist alles verloren?“ Anation war fassungslos. Aus ihren Augen konnte Aigonn dieselbe Bestürzung lesen, die auch er empfunden hatte, als Behlenos von seinen Verteidigungsstrategien berichtet hatte. Ihr Fürst war kein Mann des Krieges, das wusste Aigonn schon lange. Doch niemals zuvor hatte er das Resultat seines Fehlers, sich einzig und allein auf verstreute, übernächtigte Späher zu verlassen, so plastisch vor Augen gesehen.

Der Druck, keinen Laut von sich zu geben, zwang Aigonn regelrecht dazu, auf seinen Lippen zu kauen, während er angestrengt durch das Dickicht spähte. Viel tat sich nicht. Die Krieger schienen von anderer Stelle auf neue Befehle zu warten und vertrieben sich bis dahin die Zeit.

Erst, als er Blut im Mund schmeckte, flüsterte Aigonn: „Unser einziger Vorteil ist die Wehranlage. Wenn sie noch länger auf Anweisungen warten, bleibt uns vielleicht genügend Zeit, die Siedlung zu warnen.“

„Und wenn diese Männer nur Kundschafter sind?“

Aigonn zog zweifelnd eine Braue in die Höhe. „Schwer bewaffnet? Mit den heiligen Zeichen ihrer Ahnen bemalt und gesegnet? Ganz bestimmt nicht.“

Damit gab Anation ihre letzte Hoffnung auf. Sie wartete, bis Aigonn nach allen Seiten Ausschau gehalten hatte. Dann berührte er sie sacht am Arm und tastete sich rückwärts durch das Dickicht, immer die Krieger im Auge. Sein Herz schien seinen Schädel zum Zerplatzen zu bringen. Er wagte kaum, Atem zu holen, tastete sich mit einer fast unerträglichen Langsamkeit rückwärts, während er das Blut in den Ohren pochen hörte.

Vier Schritte, dann würde eine Wand aus Sträuchern schützende Deckung bieten. Einer der Eichenkrieger hatte munter die Stimme erhoben, während er blind in die Richtung der beiden Flüchtigen lief. Drei Schritte. Äste knackten unter seinen Füßen. Noch hatte er den Blick nach hinten gewandt, war mit einem der Krieger in ein Gespräch vertieft, während er eine große Farnpflanze niedertrat. Zwei Schritte. Ein niedriger Brombeerstrauch versperrte dem Eichenmann den Weg. Unwirsch wandte er sein Gesicht nach vorn, befreite ein Lederband seines Gürtels aus den Dornen, sah sich nach beiden Seiten um, prüfte, ob der Ort seinen Ansprüchen gerecht wurde.

Ein Schritt. Dann knackte es. Aigonn schien es, als würde sein Herz aufhören zu schlagen, als der Eichenmann ruckartig aufsah. Es dauerte keinen Herzschlag, ein schriller Schrei gellte durch den Wald. Dann blieb ihm keine Zeit mehr, um nachzudenken.

Aigonn hetzte los. Er konnte Anation gerade noch am Arm packen, als dieser beinahe der Sprung über eine Erdgrube misslungen wäre. Wie von allen Dämonen seiner Welt verfolgt, jagte er durch den Wald, mitten durch das Dickicht. Unzählige Äste verfingen sich in seiner Kleidung, seinen Haaren, Aigonn hatte gar nicht den Sinn, auf diese Dinge zu achten. Das Trommeln seines Herzens übertönte jegliche Geräusche, während er wie blind durch Sträucher und Büsche rannte, ohne auch nur ein einziges Mal nach hinten zu sehen.

Irgendwo, wie in unendlicher Ferne, waren die Hufschläge eines Pferdes zu hören. Ihre Verfolger ritten zu Pferd. Aigonn hätte aufschreien können! Ihr letzter Vorteil blieb die Unwegsamkeit des Dickichts. Sie mussten nur schnell genug zum Waldrand gelangen.

Plötzlich hallten weitere Schreie zwischen den Bäumen hindurch. Einer Stimme antworteten Dutzende, Hunderte, Tausende. Ihr Echo klang so laut, dass niemand mehr zu sagen vermochte, wie viele Männer soeben den Ruf ihres Anführers vernommen hatten. Doch im Grunde kümmerte Aigonn dies nicht. Es war die Tatsache, dass der Angriff längst begonnen hatte, die Panik weckte.

Er überhörte bereits sein eigenes Keuchen, als endlich der Waldrand in Sicht kam. Voller Entsetzen sah Aigonn einen Strom aus Kriegern von allen Seiten aus dem Wald herausbrechen. Die Wucht des Krieges und die Gewissheit auf den Sieg hatten den Eichenleuten schier übermenschliche Kräfte verliehen. Vielleicht dreißig Fuß zu seiner Rechten entfernt preschte ein Trupp Reiter zwischen den Bäumen hervor. Doch ihn beachteten sie nicht. Sie hatten ein Ziel, waren fixiert darauf, diesen einen Angriff zu landen, der ihnen befohlen worden war.

Als wäre er noch in der Lage, irgendetwas zu ändern, versuchte Aigonn, ein weiteres Mal zu beschleunigen. Schmerz und Erschöpfung machten sich in ihm breit. Mit aller Kraft stürmte er über Sträucher und Wurzeln, sah die letzten Bäume immer näher rücken, dann ließen seine Kräfte nach.

Der Schmerz durchfuhr ihn so dumpf und heftig, dass Aigonn den Schrei nicht bei sich behalten konnte. Röchelnd kam er wieder zu Atem, das Gesicht schmerzverzerrt und so verdreckt, dass er im ersten Moment kaum die Augen aufschlagen konnte.

Sein ganzer Körper zitterte, als er sich die Erdkrumen und Blätterreste von der Wange wischte. Jede Bewegung erschuf krampfartigen Schmerz. Es brauchte mehrere Ansätze, bis er sich umdrehen konnte, nach hinten sah und die hochstehende Wurzel erblickte, für welche sein letzter Sprung zu niedrig gewesen war. Irgendwann, mit gut dreißig Schritten Abstand, hetzte schließlich Anation zwischen den Bäumen hervor. Er wollte bereits wieder aufspringen, doch die Schmerzen raubten ihm jeglichen Atem. Die Muskeln hatten über seiner gebrochenen Rippe zu pochen begonnen. Sie fügten sich ein in das gleichmäßige Reißen, das von seiner linken Ferse aus die Wade hinaufstrahlte.

Ein namenloser Fluch entkam Aigonns Lippen. Die Wurzel, die ihn zum Stürzen gebracht hatte, traf all seine Wut, während er mit dem unverletzten Bein dagegen trat. Doch wie um ihn zu verhöhnen, rührte sie sich kaum und schwang immer wieder, bei jeder kleinen Bewegung, in ihre ursprüngliche Stellung zurück. Verzweifelt versuchte Aigonn, sich auf die Beine zu rappeln, aber sein Körper gehorchte seinem Willen nicht mehr.

Als es ihm endlich gelungen war, wackeligen Halt auf dem verletzten Bein zu finden, zogen ihn auf einmal zwei Hände zum Boden zurück. Vor lauter Wut hätte er beinahe nach hinten ausgetreten, doch als er Anation erkannte, bremste er sich und brüllte stattdessen nur: „LASS MICH! ICH MUSS ZUM DORF ZURÜCK, ZU MEINEN LEUTEN! SIE WERDEN SIE ALLE UMBRINGEN, DIESE MISTKERLE, DIESE …“

„BLEIB STILL, DU WAHNSINNIGER!“ Sie presste ihn mit voller Kraft auf den Boden zurück. Aigonn wehrte sich wie ein Besessener. Nur mit Mühe gelang es Anation, seine Abwehr zu durchbrechen. Mit bebendem Atem beschwor sie ihn: „Du kannst nichts mehr tun. Die Entscheidung der Schlacht liegt allein in den Händen deines Stammes und ihrer Fähigkeit, dieses Dorf mit seinen Palisaden lange genug zu verteidigen. Es wird ihnen keine Hilfe sein, wenn du dich jetzt heroisch in den Tod stürzt!“

Aigonn hatte innegehalten. Die Erschöpfung seines Körpers war so übermächtig geworden, dass er für einen Moment mit dem Schwindel kämpfen musste, bevor sich seine Gedanken sammelten und er wieder klar über die Wiese sah, die sich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Gut und gern siebenhundert Mann hatten die Siedlung umzingelt. Pechgetränkte, brennende Lanzen hatten bereits erste Strohdächer entflammt, während von einer Seite her die Palisaden ihren eigenen Kampf mit dem Feuer führten. Die Luft war von Schreien erfüllt. Alle Krieger, Männer, Halbwüchsige und Frauen, die in der Lage waren, Steine, Brennholz, Fackeln oder Waffen zu tragen, drängten sich auf dem Wehrgang, verteidigten ihr Dorf mit todesmutiger Verzweiflung. Doch jeder, ganz gleich, ob er eingekesselt im Inneren oder wie Aigonn von außen zusah, wie ein übermächtiges Heer ganz langsam jegliche Chance zur Flucht erstickte, wurde sich bewusst, dass diese Schlacht schon entschieden gewesen war, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

Vor kurzer Zeit noch hatte Aigonn gehofft, die anderen Krieger aus einer Siedlung weiter südlich am diesseitigen Ufer der Rur zur Hilfe rufen zu können. Jetzt aber war ihm klar, dass diese Tat vollkommen zwecklos sein würde. Das Dorf würde fallen. Daran war nichts mehr zu ändern.

„Wir müssen hier so schnell wie möglich verschwinden!“ Anation rüttelte drängend an Aigonns Schulter und befreite ihn damit aus seinen düsteren Gedanken. „Spätestens wenn die Palisaden fallen, werden die Eichenleute erste Verletzte zum Wald zurückschicken. Wir dürfen nicht hier sitzen bleiben und warten, bis sie uns von alleine finden!“

Aigonn nickte stumm, während sein Blick mit dem Schlachtfeld verfroren schien. Erst der Schmerz, als Anation ihn auf die Beine zog und danach unter seine Achseln fasste, um ihn zu stützen, machte ihn wieder zu einem Teil der Wirklichkeit, der nicht nur passiv beobachtete, sondern aktiv daran teilnahm.

Weit aber kamen sie nicht voran. Wären es nur die gezerrten Bänder im Bein allein, hätte Aigonn noch laufen können. Doch seine gebrochene Rippe schmerzte mit einer solchen Gewalt, dass ihm nach wenigen Schritten die Beine wegbrachen und er sich setzen musste. Unruhig tänzelte Anation immer wieder auf der Stelle, während sie wartete, bis Aigonn sich langsam zu fassen begann. Ihr Blick wechselte mit fast jedem Herzschlag von der Sorge über Aigonns Zustand zu der Sorge um ihrer beider Leben; dass sie sich am Rand eines Schlachtfeldes befanden, auf welchem der Krieg sich gerade gegen ihre Seite entschied.

„Geht es wieder?“

„Ich glaube ja. Hilfst du mir auf?“

Begleitet von einem zermürbenden Schmerzenslaut hievte Aigonn sich wieder auf die Beine. Wäre sein Geist nicht betäubt von dem Pochen in seiner Brust, hätte er sich wohl dafür geschämt, ein Mädchen von Lhenias Statur um Hilfe beim Aufstehen zu bitten. Aber sie ist nicht Lhenia, sagte er sich. Und schon gar kein Mädchen.

Als er wieder aufrecht stehen konnte, hielt Aigonn noch einmal inne. Die schlaflose Nacht hatte seine Sinne überreizt. Ihm schien es, als würden von allen Seiten Reiterscharen aus dem Dickicht brechen. Die Schmerzen gaben ihr Nötigstes zu seinem Zustand hinzu. Wie schön, wenn man einfach sorglos schlafen könnte; wenn es nichts gäbe, über das es sich lohnen würde, den Kopf zu zermartern.

Zuerst hielt er es für ein Produkt seiner Fantasie, als unweit von ihm und Anation Pferdehufe das Dickicht zertraten. Doch als schließlich auch die junge Frau zusammenzuckte, innehielt und sich erschrocken nach einem Versteck umsah, wusste Aigonn, dass er sich nicht getäuscht hatte.

Die Reiter kamen immer näher. Mit letzter Kraft versuchte Aigonn sich hinter einen Strauch zu schleppen. Anation half ihm, so gut sie konnte. Doch sie waren zu langsam, es war zu spät. Nur wenige Herzschläge vergingen, dann brachen die Eichenkrieger aus dem Dickicht hervor. Ein zynisches Lächeln fand den Weg auf Aigonns Lippen, als er denselben Krieger erkannte, der sie noch vor dem eigentlichen Angriff entdeckt hatte. Triumphierend sah dieser auf sie herab. Die Gedanken in Aigonns Kopf begannen sich zu überschlagen. Er würde sich nicht retten können, aber Anation war noch immer schnell genug. Innerlich betete er zu allen Göttern, sie würde endlich die Flucht ergreifen. „Flieh!“, zischte er ihr zu. Aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

Es war zwecklos, alles. Keiner von beiden war bewaffnet. Es dauerte nicht lange, bis zwei weitere Reiter den einen eingeholt hatten, der sie bereits ausfindig gemacht hatte. Aigonn versuchte, einen Weg zu finden, einen letzten Ausweg. Doch in dem Moment, als er einen armdicken Ast neben sich packen wollte, traf ihn die flache Seite einer Schwertklinge an der Schläfe. Seine Kraft genügte nicht, um den Schmerz noch wahrzunehmen. Die Welt verwandelte sich in schwimmende Farbspiralen. Dann wurde es schwarz.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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