Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 31

Das Ritual

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Als die Siedlung hinter einer Flut aus Bäumen verschwunden war, atmete Aigonn zum ersten Mal auf. Die Auen der Rur lagen zu seiner Rechten, sommergrün und in ihrer Unberührtheit von einer ursprünglichen Kraft durchzogen, die Aigonn ehrfürchtig werden ließ. Es tat gut, seine alte Heimat aus den Augen zu wissen. Er hatte sich längst mit dem Gedanken abgefunden, dass sich die Umstände geändert hatten. Alles in ihm strebte danach, Anation zu retten. Doch was würde danach kommen? Aigonn würde nicht mehr zurückkehren, diese Gewissheit war binnen der vergangenen Nacht unterschwellig in ihm gereift und hatte nun von ihm Besitz ergriffen, sodass er keinen anderen Ausweg mehr sah.

Er würde Efoh nicht seinem Schicksal überlassen, nicht seinen Bruder, auch Rowilan nicht. Doch etwas in seinem Innersten sagte Aigonn, dass sein Platz, seine Heimat, nicht mehr in diesem großen Dorf an den Auen der Rur sein würde, vielleicht nie gewesen war. Die Gewissheit erfüllte ihn mit Wehmut, verlieh ihm jedoch im selben Zug die ungeheure Leichtigkeit, die nur der Gedanke an eine offene Zukunft bringen konnte, ohne Zwang, ohne Verpflichtung. Das einzige, was er dafür tun musste, war dieses eine Mal nicht zu versagen und Anation zu retten. Retten.

Widerwillig hatte Aigonn einen Umweg gewählt. Der Pfad durch den Wald, den Rowilan und er vor einigen Tagen selbst geritten waren, wäre um einiges kürzer gewesen, die Gefahr von Spähern jedoch, die seine Anreise unwillkürlich Khomal verkünden würden, war allgegenwärtig. Das unzugängliche Dickicht, das den größten Teil des Waldes erfüllte, machte es manchmal unmöglich, nach anderen Seiten auszuweichen. Würde er sich dort am Ende noch auf einen Kampf einlassen müssen, bevor er das Rote Moor überhaupt erreicht hätte, würde er vermutlich noch mehr Zeit verlieren als durch diesen Umweg.

Ein unscheinbarer Zwischenraum zwischen zwei alten Baumriesen am Waldrand war für Aigonn das Zeichen, nun nach links in den Wald abzubiegen. Die feuchte, frische Luft klärte seine Gedanken, bestärkte das Gefühl, das ihn vorwärtstrieb. Es musste bereits auf Mittag zugehen, als Aigonns Pferd wachsam die Ohren nach beiden Seiten drehte, plötzlich ohne erkennbaren Grund scheute und aus dem Galopp einige Schritte nach hinten tänzelte.

Er selbst musste sich fest in der Mähne verkrallen, um nicht seitwärts auf den Boden zu stürzen. Mit besänftigendem Murmeln gelang es ihm, das Tier weitgehend zu beruhigen. Als er es jedoch auf dem schmalen, erdigen Pfad zum Stehen gebracht hatte, hörte er schließlich auch das Rascheln, das aus dem Dickicht drang.

Langsam zog Aigonn sein Schwert. In Gedanken betete er, dass es kein Raubtier war, das scheinbar ihre Fährte aufgenommen hatte. Selbst wenn er einen müden Wolf mit dem Schwert angreifen konnte, würde sein Reittier vermutlich vor lauter Angst eine ziellose Flucht ergreifen.

Das Rascheln kam immer näher, wurde lauter, wirkte jedoch für einen jagenden Wolf zu schwer und zu unvorsichtig. Mit Mühe brachte Aigonn das Pferd dazu, zwei Schritte zurückzugehen. Es war kurz davor, haltlos davonzusprengen, nach vorne, hinten, wohin schien vollkommen egal.

Als plötzlich eine Gestalt zwischen den Ästen erschien, tänzelte das Pferd nervös auf der Stelle. Aigonn starrte wachsam auf das Dickicht, atmete jedoch erstaunt auf, als er das Gesicht der Person erkennen konnte, die ihn verdutzt von den Sträuchern her anstarrte.

„Aehrel?“ Aigonn wollte seinen Augen nicht trauen. Sein Onkel schälte sich überrascht zwischen den Büschen hervor, eine Tonschale unter dem Arm, die mit einem Ledertuch abgedeckt war. Die schwarzen Schatten unter seinen Augen und die vertieften Züge, die ihn wie einen Greis wirken ließen, waren deutliche Anzeichen für die schlaflose Nacht, die er hinter sich gebracht hatte. Trotz allem jedoch machte er keinen müden Eindruck, als er zu Aigonn sagte: „Das nennt man eine Überraschung! Was tust du hier?“

„Das sollte ich dich fragen!“ Aigonns Pferd tänzelte noch immer. Er konnte nicht verstehen, was das Tier so sehr an seinem Onkel beunruhigte, doch auf eine gewisse Weise schien es auch ihm, als umgebe Aehrel eine beängstigende Aura, so dünn nur, dass man sie für Einbildung halten konnte, wenn man wollte. Und vermutlich war sie dies auch.

„Wo bist du heute Nacht gewesen?“, fragte er weiter. Im Grunde hatte er nicht so barsch klingen wollen, doch der Gedanke daran, dass Aehrel seine eigene Schwester im Augenblick ihres Todes alleine gelassen hatte, machte ihn wütend.

„Ich gehe häufig nachts hinaus, das weißt du. Es ist meine Sache, wenn ich zur gegebenen Zeit mit den Göttern sprechen will, und vor dir brauche ich bestimmt keine Rechenschaft abzulegen!“

Der scharfe Ton traf ihn. Ungewollt begannen Aigonns Lippen zu zittern, als er versuchte auszusprechen, was sein Geist nur schwerlich begriffen hatte: „Mutter ist tot. Sie ist heute Nacht gestorben, als du fort warst.“

„Was?“ Der Schreck ließ Aehrel erbleichen. Beinahe hätte er die Tonschale unter seinem Arm fallen gelassen, besann sich jedoch noch rechtzeitig, um sie festzuhalten.

„Wieso so schnell? Sie … sie war nicht ernstlich krank. Bestimmt sieben Tage noch …“

Seine Miene verwandelte sich rapide. Aigonn war erschrocken darüber, wie der gelassene Ausdruck in Aehrels Gesicht zusammenfiel, sich zu einer verzweifelten Fratze verzerrte, als breche der Tragbalken eines Gedankengerüstes zusammen, an das er sein Leben klammerte. Der Schmerz seines Onkels berührte ihn, doch im Gedanken an Anation verdrängte Aigonn widerwillig den Tod seiner Mutter für kurze Zeit.

Es erschien ihm unpassend, doch erstaunlicherweise fand Aehrel erzwungenermaßen die Ruhe wieder, um Aigonns Worten zu folgen: „Ich kann nicht bleiben. Die Eichenleute werden Lhenia umbringen, heute noch. Ich kann jede Hilfe gebrauchen, die möglich ist!“

Seine Aufforderung erfüllte nicht ihren Zweck. Aehrel wirkte wie aus einem Traum gerissen, als er in Gedanken seine Worte nachzusprechen schien. Dann brach es auf einmal aus ihm heraus: „Warte …, warte! Du kannst jetzt nicht gehen! Wie ist sie gestorben? Du hättest doch etwas tun können, sicher sogar! Erzähl mir, was geschehen ist!“

„Wenn das alles hier vorbei ist! Onkel verzeih, aber …“ Er musste selbst schlucken, bevor er diese Worte aussprechen konnte: „… Mutter ist … schon tot. Für sie kann ich nichts mehr tun!“

Damit drückte er dem Pferd die Hacken in die Seiten.

„WARTE! AIGONN!“ Das Tier wollte erneut scheuen, doch Aigonn hielt die Zügel fest und sicher genug. Er wandte sich nur noch kurz um, um zu sagen: „Bitte, lauf zur Siedlung und komm mit Rowilan zurück! Wenn nicht, werde ich das hier alleine durchstehen müssen. Aber sag hinterher nicht, dass ich keine Wahl gehabt hätte!“

War das eine Drohung gewesen? Aigonn blieb nicht genug Zeit, seine eigenen Gedanken zu erforschen. Eine fremde Stimme schien in seinem Kopf zu sprechen, seine Lippen zu führen. Das Unbehagen darüber versuchte er hinunterzuschlucken, als das Pferd in den Galopp verfiel. Aehrels Stimme hallte ihm nach, Aigonns Name, mit einer solchen Gewalt von sich gestoßen, dass er beklommen zurückblickte. Die Gestalt seines Onkels war jedoch bereits hinter einer Kurve verschwunden.


Aigonn konnte den Kräften keinen Namen geben, die ihn und das Pferd immer weiter vorwärts getrieben hatten. Doch letztendlich hatte er das Rote Moor ohne Unterbrechung erreichen können, lange bevor erstes Abendrot zwischen den Baumwipfeln zu sehen war. Die Beschaffenheit der nahen Umgebung war Aigonn noch auf eine unterbewusste Art vertraut. Er hatte im Zwielicht weder markante Ortspunkte noch Bäume oder Wege ausmachen können, jedoch erkannte er die klanglosen Stimmen der Geister, das Lied der Birken zwischen Wollgras und Heidekraut. Der Geruch von Moder war mit dem Wind herangeweht worden, lange bevor das Moor in Sicht gekommen war. Und mit ihm hatte Aigonn die Beklemmung gespürt, die dem kommenden Ereignis vorauseilte.

Als endlich die ersten Mooraugen zwischen den lichter werdenden Baumreihen auftauchten, fand Aigonn keinen Hinweis auf andere Menschen, wohin auch immer er spähte. Vorsichtig glitt er vom Rücken seines Pferdes. Sein ganzer Körper bebte, als wäre er den Weg zu Fuß hergesprintet. Die Anspannung schien ihn zerreißen zu wollen, doch alle Stimmen in seinem Kopf schrien auf einmal voller Eintracht danach, endlich neue Ruhe zu sammeln.

Mit bedächtigen Schritten suchte Aigonn sich einen Weg durch das Wollgras. Die feinen Blüten streiften so leicht seine Hose, dass er die Berührung kaum spüren konnte. Trotz allem schien es ihm, als fühlte er den weichen Flaum wie warme Hände von Geistern an seinen Waden. Die Beklommenheit kehrte zurück, und machte ihm die Unwirklichkeit des Momentes bewusst. Der Höhepunkt des Sommers stand kurz bevor. Ganz ohne das Zutun der Menschen wurde die Grenze zwischen den Welten dünn. Die Geister und Seelen schienen das Spektakel bereits zu erwarten, das man ihnen für den heutigen Abend versprochen hatte. Aigonn glaubte, ihre feindseligen Blicke auf seiner Haut zu spüren. Sie entzogen sich seinen Sinnen, wichen ihm aus, als wüssten sie längst, dass er gekommen war, um den Eichenleuten Einhalt zu gebieten. Nur war nicht zu sagen, ob sie ihn daran hindern wollten oder ihm letztendlich zur Seite stehen würden.

Ich bitte euch! Sie gehört zu den Menschen, die eure Welt gesehen haben, sie achtet euch und weiß, wozu ihr in der Lage seid! Helft mir, ihr Leben zu retten! Sie ist nicht ohne Grund aus der Anderen Welt zurückgekehrt!

Ein Wind kam auf. Die frische Böe durchfuhr Aigonns halblange Haare, klärte seinen Geist. Und je länger er lauschte, desto deutlicher verstand er, was der Wind ihm zuflüstern wollte.

Gesang hallte über das Moor, kaum mehr als ein Raunen, aber auf eine Art deutlich, die Aigonns Gehör allein nicht fassen konnte. Sein Blick flackerte, als er auf einmal eine einsame Gestalt über die Heide wandeln sah. Ein Mann. Er hatte die Augen geschlossen, bewegte sich jedoch mit einer solchen Sicherheit zwischen Stellen umher, an welchen der Boden einen Menschen bis zum Tod in die Tiefe zog, als gäbe es gar keine Gefahr zu fürchten.

Aigonn schauerte. Er verstand kein einziges seiner Worte, die in einer unbekannten Sprache über die Landschaft glitten. Doch tief in seinem Innersten fühlte er ihre Botschaft, ohne sie an ein solch begrenztes Medium wie Worte zu binden. Selbst von weitem war die Erscheinung des Mannes imposant. Ein langes, braun-weißes Fell, das einen Umhang ersetzte, machte seine Schultern noch breiter, als sie wohl ohnehin waren. Zotteliges, graues Haar fiel darüber hinab. Seine sonstige Kleidung schien jedem Mann aus der Siedlung gehören zu können, doch um seinen Hals hing eine Vielzahl filigraner Schmuckstücke, manchmal nur winzige Tierknöchelchen, ab und an Perlen, alle an einzelnen Lederbändern. Dazwischen aber schimmerte ein goldener Anhänger, der ein fremdartiges Zeichen bildete. Aigonn erschien es fast zu grob geformt für den kaum ermesslichen Wert des Metalls. Wenn man es sich lange genug betrachtete, schien es der Form eines Schmiedehammers zu ähneln, vielleicht war es aber auch ein Pfeil. Aigonn konnte es nicht sagen. Ganz gleich jedoch, wie rätselhaft die Erscheinung des Mannes wirken mochte, er hätte niemanden zu fragen brauchen, um seinen Namen zu erfahren. Denn erschienen war er ihm bereits ein weiteres Mal.

Es war der Moorsänger. Der Schatten dessen, was von ihm in dieser Welt geblieben war. Eine Erinnerung, bestärkt durch einen Geist, der vielleicht aus der Anderen Welt gekommen war, um Aigonn beizustehen. Aehrels Großvater.

Die fremden Worte beflügelten seinen Geist – nein, weniger die Worte als viel mehr die stille Kraft, die ihnen innelag. Alle Wesen, was auch immer sie sein mochten, schienen zu lauschen. Der monotone, vibrierende Rhythmus erfasste sie alle, nahm sie mit in dieses Trugbild und die Erinnerungen, die ihm anhafteten.

Auf einmal blieb der Moorsänger stehen. Sein Gesang verstummte, die ganze Welt schien innezuhalten. Seine Erscheinung hielt Aigonns Blick gefangen, er vergaß zu atmen, zu schlucken, während der Mann sich langsam herumdrehte.

Die Welt verschwand. Im ersten Moment glaubte Aigonn, in bodenlose Schwärze zu fallen, während ihm Panik die Luft zum Atmen raubte. Erschrocken blinzelte er immer wieder, versuchte die Dunkelheit zu vertreiben, bevor eine vertraute Stimme die Schatten durchbrach.

„… weiß, dass es dich verletzt, und glaube mir, es lässt mich nicht kalt. Aber keinem von uns beiden wird es etwas nutzen, wenn wir all das, wofür wir geboren wurden, verwerfen und versuchen, unserem Schicksal zu entkommen.“

Anation. Das, was in ihren Worten mitschwang, ließ Aigonn hart schlucken. Keine Kühle, nein, aber Befremdung. Er konnte nicht sagen, ob sie damit etwas überspielen wollte, ein Gefühl vielleicht, das ihre Aussage eine Lüge strafen würde. Doch er konnte spüren, dass ihre Entscheidung endgültig war – für sie und auch für ihn.

„Verzeih mir“, flüsterte sie. „Verzeih mir, dass ich niemals sein kann, was du in mir zu finden glaubst!“

Was sollte das? Was wollte dieser Geist ihm sagen? Dass sein Handeln sinnlos war, ihm nicht helfen würde, egal, was zu tun war? Hatte dieser fremde Mann, der Moorsänger, in die Zukunft blicken können, um Aigonn nun, lange nach seinem eigenen Tod eine Warnung zu schicken, um ihn vielleicht im entscheidenden Moment zum Straucheln zu bringen?

Eine Stimme hallte der Vision nach, fremd aber auf eine unheimliche Weise vertraut, wie Aigonn sie niemals gespürt hatte.

„Wer durch die Zeiten blicken kann, in Zukunft und Vergangenheit, wird niemals finden, was er sehen will!“

Straucheln … Würde Anation ihn im Stich lassen, wenn er sie gerettet hatte? Der Gedanke allein erfüllte Aigonn mit Bitterkeit. Zwar war er selbst erstaunt, mit welcher Heftigkeit die Gefühle in ihm entbrannten, Enttäuschung, Verrat … Er hatte nicht genug Namen für sie; nur von einer Erscheinung beflügelt, die ihm Fetzen eines Gespräches zutrug, nicht einmal Bilder.

Vielleicht will er dich täuschen! Aigonn wehrte sich. Mit aller Kraft widersetzte er sich der Schwärze, die ihn noch immer gefangen hielt. Anations Worte hallten wieder und wieder in der Dunkelheit nach, als wollten sie sich in seinen Geist einbrennen, unvergessen bleiben. „Verzeih mir …“

Was gab es zu verzeihen? Wenn dies wirklich die Zukunft war, würde ihm die Rettung gelingen! Anation würde leben! Doch war es überhaupt die Wahrheit? Als wollte der Moorsänger ihn erneut zum Straucheln bringen, blickte er auf einmal auf eine Szene hinab: Ein Abend im Sommer unter wolkenverhangenem Himmel. Aigonn erkannte die Totenaue, den See, an dessen Rand auf einem Scheiterhaufen ein Körper verbrannte.

Im ersten Moment konnte er dieses Gefühl nicht beschreiben. Obwohl er sich mit aller Kraft daran zu erinnern versuchte, dass all dies ein Trugbild sein konnte, raubte ihm eine plötzliche Gewissheit alle Kraft. Scheitern. Vielleicht war das Schicksal nicht vorbestimmt, konnte sich verändern. Was wusste er schon davon? Doch obwohl er sich mit aller Gewalt an die Wirklichkeit klammerte, hörte er auf einmal eine flüsternde Stimme in seinem Inneren, eine vertraute Stimme, die ihm vor Augen hielt, was binnen eines Augenblicks unabwendbar geworden war.

Ganz egal, was er tat, er würde scheitern. Scheitern auf vielerlei Wegen, an anderen Möglichkeiten. Aigonn fühlte sich auf einmal nackt, entblößt, von dem Schatten einer fremden Seele besiegt, welchen Kampf auch immer sie geführt hatten. Ohne sich wehren zu können, starrte er in den verschwommenen Abend hinaus; ein Bild, das einen so erschreckenden Frieden ausstrahlte, dass er Aigonn verzagen lassen wollte.

Plötzlich kehrte die Gegenwart zurück. Schwindel schlug auf ihn nieder, raubte Aigonn jegliches Gefühl für Orientierung. Als sich die Bilder vor seinen Augen endlich wieder zu klären begannen, bemerkte er erst, dass er keuchend am Boden kauerte, die Hände vor sein Gesicht gepresst, als müsse er es vor einem Raubtier schützen. Während er bedächtig aufsah, war noch immer ein Schatten des Moorsängers zu erkennen. Der Greis, in dessen Gesicht Narben von zahlreichen früheren Schlachten erzählten, hatte Aigonn fixiert. Er fühlte den Blick auf seinem Körper wie eine Lanze, die mit dem Todesstoß drohte. Todesstoß. Dabei lag seinen Augen keinerlei Feindseligkeit inne. Es wirkte nicht einmal wie eine Warnung; Aigonn war verunsichert. Was wollte dieser Geist ihm sagen? Dass es zwecklos war, was er tat? Was kümmerte es ihn?

Die Fragen begannen sich in Aigonns Kopf zu überschlagen. Er haderte immer wieder, ob es Sinn machen würde, sie auszusprechen, ob er eine Antwort erhalten würde. Bevor er jedoch zu einer Entscheidung kommen konnte, verblasste die Gestalt. Der Moment verschwand und ließ nur noch seine Beklommenheit zurück – zusammen mit dem Nachhall einer Erinnerung, die an diesem Ort, einem Schnittpunkt zwischen den Welten, unvergänglich geworden war.

Fast erschöpft ließ Aigonn sich zurücksinken und stützte seinen Oberkörper mit den Armen auf dem Boden ab. Wolken waren zwischen den Baumwipfeln zu erkennen. Sie zogen stetig an der Sonne vorbei, um den Wald in das diffuse Licht eines Nachmittags zu tauchen, der Gewitter versprach; irgendwann, zum Abend vielleicht.

Wie viel Zeit war vergangen? Aigonn konnte es nicht sagen. Die feinen Lichtsäulen, die zwischen den Baumkronen zu Boden fielen, verrieten nichts über den Fortlauf des Nachmittags. Würde es bald Abend werden? Womöglich. Wahrscheinlich. Was tat er eigentlich hier? Er war allein, ganz allein, und würde bald einer Übermacht an fremden Kriegern gegenüberstehen. Ohne einen Plan. Er hatte nicht einmal einen Plan! Sein Kopf war zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte das alles? Wenn er planlos in den sicheren Tod rennen würde, hätte dies für Anation auch keinen Nutzen.

Aber wenn ich gar nichts tue, ist ihr Tod gewiss! Falls er es nicht jetzt schon war.

Noch bevor Aigonn diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, war er vergessen. Wie ein Raunen hallte das Echo eines monotonen Gesanges durch den Wald. Aigonn erstarrte in seiner Haltung, dann wirbelte er herum, presste sich auf die Farne am Boden und blickte starr zwischen den Stämmen hindurch.

Dann kamen sie. Erst hörte Aigonn die Schritte der mehr als fünfzig Personen nur, dann erblickte er eine Prozession, die so jäh zwischen dem Blattwerk der Sträucher erschien, als wäre sie nur das Flackern einer Erinnerung längst vergangener Tage. Selbst aus seiner Position erkannte Aigonn Khomal in einem prachtvoll bestickten Mantel. Der Eichenfürst schritt an zweiter Stelle, gerade fünf Schritte hinter einem Mann, dessen einfache Leinenkleidung neben seinem Prunk beinahe armselig erschien. Lediglich die heiligen Zeichen, die man ihm mit blauem Waid ins Gesicht gemalt hatte, verrieten ihn als Schamanen – der höchste der Eichenleute, vermutete Aigonn. In seinen Händen hielt er eine prunkvolle Bronzekanne. Aigonn hatte eine solche schon in Rowilans Haus gesehen und wusste um ihre Heiligkeit. Die Götter allein konnten Anspruch erheben, ein Opfer aus diesem Gefäß zu empfangen. Dafür war es geweiht worden, dafür allein.

Khomal folgte eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, mit denselben Zeichen wie der Schamane geschmückt, Schalen in den Händen, die hellen Rauch in den Himmel schickten. Dann kam sie. Aigonn schnürte es die Kehle zu. Obgleich er aus einem Abstand von mehr als hundert Fuß ihr Gesicht kaum erkennen konnte, sah er doch, dass Anation nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Ihre Haltung war gebückt. Zwei Schamanen stützten sie unter den Armen, während sie in schleppendem Schritt vorwärts lief. Ihr Griff war so fest, dass die beiden Männer die junge Frau beinahe trugen. Sie musste betäubt worden sein. Oder sie hatte das Ende ihrer Kräfte erreicht.

Aigonn erstaunte, als er die gebückte Gestalt hinter ihr erkannte. Behlenos, gefesselt und von vier Kriegern umringt, lief hinter ihr her. Seine Bewegungen verrieten, dass er keine derart starke Betäubung wie Anation empfangen hatte. Khomal hatte anscheinend für diesen Tag ein weiteres Opfer geplant.

Die restlichen Krieger, hohe Mitglieder der führenden Familien unter den Eichenleuten, Diener und ehrfürchtige Schaulustige nahm Aigonn kaum mehr wahr. Als könnte allein das etwas ändern, folgte er mit seinem Blick beschwörend Anations Gestalt. Sein ganzer Körper bebte vor Anspannung. Seine Beine zuckten, als wollten sie von selbst aus dem Wald stürzen, die Männer niederschlagen und Anation einfach mit sich nehmen. Doch seine Vernunft hielt den Drang mit aller Gewalt in Schach. Impulsives Handeln brachte nichts. Er musste versuchen, die junge Frau zu befreien, während die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf andere Dinge gerichtet waren. Sicherlich würde der Schamane, bevor er das Opfer beging, die Götter anrufen und sich der Anwesenheit aller Geister versichern. Es schauerte Aigonn im Gedanken daran, das versprochene Opfer vor den Augen all jener halb unsichtbaren Wesen zu entführen, denen man es versprochen hatte. Doch in diesem Moment war es ihm egal.

Mit einem kurzen Blick versicherte er sich, dass das Pferd locker angebunden war, um schnell genug die Flucht ergreifen zu können. Dann atmete er einmal tief ein und schlich auf Knien und Handballen durch das Dickicht dem Moor entgegen.

Die Eichenleute beschritten einen Bohlenweg, ein weites Stück von der Stelle entfernt, wo Aigonn und Rowilan vor wenigen Tagen gelagert hatten. Langsam und ehrfürchtig schritten sie auf die ersten Mooraugen zu. Das Dickicht wurde lichter, die Sträucher weniger, der Boden feuchter. Für Aigonn wurde es immer schwerer, fast lautlos voranzukommen. Mit jedem Knacken erstarrte er, hielt inne und wartete, ob man ihn nun entdeckt hatte. Doch der eindringliche Gesang hielt die Eichenleute so in seinem Bann gefangen, dass sie auf nichts anderes zu achten schienen.

Der feuchte Boden zwang Aigonn schließlich dazu, hinter einer kleinen Birke zu verharren. Die Prozession folgte dem Bohlenweg, bis dieser am Rand eines gewaltigen Moorauges endete. Als sie zum Stehen kam, hielt Aigonn unvermittelt den Atem an. Eine Spannung lag in der Luft. Die ganze Welt schien zu lauschen, wie der Gesang verstummte, der Schamane die Kanne behutsam vor sich auf das Holz stellte, um darauf die Arme dem Himmel entgegenzustrecken und zu rufen: „Herren dieser Welt, Wächter des Jenseits, Götter!“

Stille. Atemlose Stille. Nichts regte sich, kein Windhauch, kein Tier.

„Ihr habt uns geleitet, ihr habt uns den Sieg geschenkt! Unsere Feinde haben entgegen euren Gesetzen eine Seele aus der Anderen Welt zu sich gerufen, um sie zu entehren und für ihre niederen Zwecke zu missbrauchen. Wir sind nun gekommen, um zu danken und zurückzubringen, was unrechtmäßig eurer Welt entrissen wurde!“

Der Schamane erstarrte. Aigonn konnte nicht sehen, welche Regung in seinem Gesicht eingefroren war, doch er erschauerte, als seine Worte gen Himmel schallten: „Falsches Leben entehrte die Götter. Blut wird reinigen. Der Tod schließt den Kreis. Das Opfer bringt den Anfang!“

Niemand atmete. Die Luft schien zu vibrieren. Auf einmal fühlte Aigonn, egal, wohin er sich wandte, die Präsenz von Geistern, Geistwesen, alten Seelen, die alle gekommen waren, um diesem Moment beizuwohnen, der alles verändern konnte, alles, wenn auch nur um einen winzigen Funken.

Gebannt fixierte die Menge das Geschehen. Die anderen Schamanen traten mit ihren rauchenden Schalen, in welchen sie vermutlich berauschende Kräuter verbrannten, an die Seite des Höchsten ihres Standes. Ein bebender Gesang erscholl. Er schien Aigonns ganzen Körper zu erfassen. Der Moment hatte still gehalten, die Sonne schien in ihrem Lauf erstarrt, während man den Blick der ganzen Welt auf das Moor gerichtet glaubte.

Dies war die letzte Chance, die allerletzte. Jetzt oder nie!

Plötzlich explodierte in seinem Hinterkopf der Schmerz. Ohne zu wissen, was geschah, kippte Aigonn im Aufspringen nach hinten. Ein zweiter Schlag traf diesmal seine Schläfe. Die Welt verschwamm, verwandelte sich in ein Farbenmeer. Was sein Mund nicht ausstoßen konnte, schrie in seinem Kopf. Panik und Schreck vereinten sich, zerbarsten. Dann versagten seine Kräfte. Wo eben noch das Moor gewesen war, versank die Welt in Schwärze.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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