Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 26

Rowilan

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Es war schwer einzuschätzen, wie lange es dauerte, bis sich die Stimmen, Schreie und Schritte der Eichenkrieger im Wald verloren hatten. Die Flucht selbst hatte Aigonn nach wenigen Galoppsprüngen kaum mehr gekümmert, seine Gedanken hatten ihn erstarren lassen, sodass er wie eine alte Statue vor Rowilan auf dem ungesattelten Pferd saß und mit jedem Atemzug gleichmäßig den Geruch von Männerschweiß, Schlamm und altem Dreck in die Nase sog.

So musste Rache schmecken, glühend wie geschmolzene Bronze und unendlich zermalmend, während man so gefangen war wie Aigonn in diesem Moment – unfähig zu tun, was er wollte.

Die Welt vor den beiden Reitern war schwarz. Nur vereinzelt ließen im Wind vorbeiziehende Wolken den Mond zwischen den Baumwipfeln hindurchscheinen, dessen Licht geisterhafte Schatten auf den Boden malte. Aigonn war schleierhaft, auf welche Weise Rowilan sich in dieser Finsternis orientieren konnte, doch die Wucht des Kampfes war von beiden nicht abgefallen, bremste jegliche anderen Gefühle und machte das Denken anstrengend.

Nach einer Weile, Aigonn konnte nicht abschätzen wie lange, lenkte das Pferd fast wie von selbst nach rechts vom Weg ab ins Dickicht hinein und brachte seine Reiter nach kurzer Zeit schon in die Nähe einer steil aufragenden Felswand. Schwarz wie ein Schatten ragte sie in die Dunkelheit. Erst als Rowilan vom Pferd absaß und mit einigen großen Schritten einen Felsen erklomm, konnte Aigonn erahnen, dass die Wand terrassenartige Schichten ausgebildet hatte, die nun als flache Vorsprünge in den Wald hinausragten.

Noch immer saß Aigonn stocksteif auf Rowilans Reittier. Er bemerkte erst jetzt, dass sein Atem keuchend und stoßweise aus seiner Nase entwich, als ob er nicht genügend Zeit gefunden hätte, um die Anstrengung der Verfolgungsjagd hinter sich zu bringen. Rowilans Silhouette war nicht mehr zu erkennen, sondern nur noch durch Schritte und bröckelnde Steine auszumachen, bevor auf einmal in einer geschützten Nische eine Flamme aufloderte.

Den Schein des Feuers im Rücken, trat Rowilan vor, blickte in den Wald hinaus und rief Aigonn schließlich zu: „Nun komm! Willst du dort sitzen bleiben?“

Dieser entgegnete nichts. Wie ein lauerndes Raubtier glitt er vom Rücken des Pferdes, band es mit seinen Zügeln an einen nahen Baum und steuerte letztendlich auf den Felsvorsprung zu, den Rowilan zu ihrem neuen Lager erklärt hatte.

Nun war er auf der Jagd! Er hatte keine Waffe bei sich, also musste er Rowilan mit bloßen Händen überwältigen, bevor dieser Verdacht schöpfen konnte. Seilstücke seiner Fußfesseln, lang wie eine Männerelle, zog er noch immer an seinen Fersen hinter sich durch den Dreck – sie würden ihm gute Dienste leisten.

Rowilan war in der Zwischenzeit wieder in der Felsnische verschwunden. Aigonn konnte seine rechte Schulter erkennen, welche neben der Felswand herausragte. Der Schamane hatte sich tief atmend an die Wand gelehnt, vielleicht sogar mit geschlossenen Augen. Er musste nur zupacken und seinen Kopf fest genug gegen den Felsen schlagen, damit Rowilan ohnmächtig wurde.

Doch vielleicht würde der Schamane endlich gestehen, was Aigonn so lange schon aus seinem Mund hören wollte. Dies war seine Chance – einzig von seinem Geschick abhängig, ihn unter Druck zu setzen.

Auf einmal, als Aigonn und Rowilan keine vier Schritte mehr trennten, wandte der Schamane sich um und blickte seinen Stammesgenossen mit müden Augen an. Der Schlamm bröckelte überall von seinen Wangen und sammelte sich zwischen seinen Beinen. Rowilan machte beinahe einen friedlichen Eindruck, zufrieden, als er sagte: „Das Schicksal ist uns diese Nacht gewogen, wie es scheint. Ich hätte nicht erwartet, dass es mir die Eichenleute so einfach machen würden, dich zu befreien!“

„Mich?“ Ein gefährlicher, kühler Ton schwang in Aigonns Stimme mit, welchen er erfolglos zu unterdrücken versuchte. Anstatt einen Angriff zu tätigen, lief er langsam an Rowilan vorbei, entdeckte das Feuer, welches auf einem scheinbar vorbereiteten Holzhaufen entzündet worden war und ließ sich behutsam auf den erdigen Steinboden sinken. „Warum nur mich?“, fragte er.

„Weil ich alleine niemals in der Lage gewesen wäre, mehr als eine Person halbwegs unbeschadet aus diesem Lager herauszubringen. Ich habe dich gewählt, aus dem einfachen Grund, weil du derjenige bist, der mir von all unseren Stammesgefährten am meisten behilflich sein kann – ob du es willst oder nicht.“

Die Wut explodierte in Aigonn. Er starrte wie versteinert in die Miene des Schamanen, in welcher wieder das vertraute, berechnende Lächeln erschienen war. So viel Hochmut sah ihn an, eine wohl verborgene Gier nach Macht, die Aigonn die Galle aufsteigen ließ.

Rowilan ließ sich nicht sichtbar von der Reaktion seines Gefährten beirren, sondern erhob sich, machte zwei Schritte auf Aigonn zu und sagte fast freundschaftlich: „Wobei, lass mich deine Wunde ansehen!“ Er hatte die Hand schon hinuntergestreckt und wollte gerade in die Knie gehen, als Aigonns Beherrschung versagte.

„Fasst mich nicht an!“ Feindseligkeit sprühte wie Funken aus seinen Augen, als er die Hand des Schamanen von sich stieß, sich drohend aufrichtete und damit augenblicklich jegliche Brüderlichkeit Rowilans erstickte. Enttäuschung, alt, so schon unzählige Male erlebt, mischte sich in dessen Blick mit einer kalten Wut, die Aigonn jedoch wie Luft zum Atmen willkommen hieß.

Es war ihm egal, vollkommen gleichgültig, was Rowilan in diesem Moment von ihm denken mochte. Mit ganzer Körperkraft baute er sich vor dem Schamanen auf und funkelte kampfeslustig, während er sagte: „Was wollt Ihr von mir? Mir helfen, ausgerechnet Ihr? Ihr Mörder, Verräter an Eurer Berufung! Glaubt Ihr, ich weiß nicht, was Ihr getan habt?“

Ein fassungsloses Lachen entkam Rowilans Kehle. „Was? Was habe ich getan? Was muss ich eigentlich tun, damit du endlich aus deinem Starrsinn erwachst? Du ergießt Beschuldigungen über Beschuldigungen über mich, seit deiner KINDHEIT UND BIST DABEI NICHT EINMAL IN DER LAGE …“

„ZU WAS BIN ICH NICHT IN DER LAGE? ZU BEURTEILEN?“

Es eskalierte. Aigonn verlor die Kontrolle über sich. Der Zorn verwandelte sich in einen Feuersturm, der mit einem gellenden Schrei aus seinem Mund ausbrach. Wie wahnsinnig geworden stürzte er sich auf Rowilan, packte den Schamanen an seinem schlammbeschmierten Leinenhemd und stieß ihn so heftig nach hinten, dass dieser beinahe das Gleichgewicht verlor.

Einen Herzschlag lang schien er vom Vorsprung herabzukippen. Doch als er schließlich sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, rammte ihn Aigonn ohne zu denken gegen den Fels. Der Schmerz ließ Rowilan scharf die Luft einsaugen, doch dieses Geräusch verschwand in dem Rauschen, das Aigonns Gedanken erfasste. Die Bilder kehrten zurück, Derona, ihr Peiniger, die unglaubliche Verzweiflung, die er in diesem Moment jedoch nicht verdrängte, sondern seinen Hass daran nährte.

Hass, dies war die wahre Bezeichnung dafür, was er empfand. Er hörte gar nicht, dass er schrie, als es aus seinen Lippen herausbrach: „HALTET MICH NICHT FÜR DEN NARREN, DEN IHR AUCH IN MEINER SCHWESTER GESEHEN HABT! Ich weiß, dass Ihr sie in den Tod getrieben habt! Ich habe sie gesehen, gespürt, welche Qualen sie Euretwegen erleiden musste, und ich schwöre Euch, jetzt ist die Zeit gekommen, Euch dafür büßen zu lassen!“

„Was?“ Rowilans Stimme hatte jeglichen Klang verloren. Er starrte mit großen Augen zu Aigonn auf, der wie ein Dämon über ihm stand, die Hand zuckend in seinem Hemdkragen verkrallt. „Was hast du getan?“

„Ich?“ Ein genießerisches Lächeln trat auf Aigonns Lippen. „Ich habe ihre Erinnerungen gesehen, alles, was in diesem kläglichen Haufen Knochen übrig geblieben ist. Ich habe gesehen, was sie erleiden musste, die letzten Augenblicke ihres Lebens …, wie Ihr sie gezwungen habt, nach Seelen zu suchen, die in dieser Welt gefangen waren. Eure Schuld ist so unermesslich, der Tod allein genügt nicht dafür, was Ihr ihr angetan habt.“

„Du hast ihr Grab geöffnet?“ Rowilan war schockiert.

„Mit allem Recht, das ich habe. Sie wird nicht wollen, dass ich Euch weiter unbehelligt andere Menschen ins Verderben stürzen lasse!“

Nun wurde die Stimme des Schamanen lauter. „Ich habe damit nichts zu tun!“

„LÜGNER!“ Aigonns Hand fuhr auf Rowilan herab. Er spürte bereits die Haut des Schamanen an seiner Faust, als dieser plötzlich seinen Arm packte und voller Verzweiflung ausschrie: „DU WAHNSINNIGER, ICH HÄTTE ALLES GEGEBEN, UM IHREN TOD VERHINDERN ZU KÖNNEN!“ Rowilans Atem ging in bebenden Stößen. Seine Stimme zitterte und schien nahe daran zu brechen, während auf einmal verbissene Tränen ihren Weg aus seinen Augen fanden.

Aigonn hielt inne. Die ungeheure Menschlichkeit, die mit seinem Hass zusammentraf, das Bröckeln der berechnenden Maske, die Rowilan umgeben hatte, brachte ihn aus dem Konzept. Damit hatte er nicht gerechnet.

Rowilan für seinen Teil war nicht mehr im Stande dazu, sich hinter irgendeiner schützenden Mauer aus Kühle zu verstecken. Tränen brannten in seinen Augen, als er Aigonn wegstieß, Abstand gewann und all seine Verzweiflung herausschrie: „WARUM GLAUBT MIR EIGENTLICH NIEMAND, NICHT DU, NICHT DEINE MUTTER, NICHT BEHLENOS, DASS ICH DERONA GELIEBT HABE, VERDAMMT! Ich gestehe, ja, ich habe sie mir in Ritualen zur Seite stehen lassen, die vielleicht zu groß und zu belastend gewesen sind. Aber als sie es mir erzählt hat, habe ich sie sofort aus diesen Angelegenheiten herausgehalten. Sie hat sich wieder gefangen!“ Rowilan schien zusammenzubrechen. Aigonn wusste nicht, ob er in diesem Moment Mitleid oder grenzenlosen Hass für diesen Mann empfinden sollte, der auf eine Art trauerte wie Aigonn selbst. Der Zorn wollte wieder in ihm hochkochen, doch in diesem Moment fand er nicht genug Angriffsfläche. Aigonn glaubte Rowilan. Er wollte es nicht, doch ein Teil seines Verstandes gewann die Oberhand über sein Handeln.

Seine Stimme zitterte, halb vor Wut, halb unsicher, was es zu tun galt: „Was habt Ihr versucht, in diesen Ritualen zu bewirken?“

Rowilan hatte bereits den Mund geöffnet, um eine Antwort zu geben. Doch kurz zuvor bremste er sich. Aigonn spürte, dass der Schamane ihn wieder um die Wahrheit betrügen wollte, es nicht über die Lippen brachte. Und ebenso zornig forderte er: „Wenn Ihr … wenn du willst, dass ich dir traue, solltest du mir die Wahrheit verraten!“

Rowilan atmete lange und angestrengt aus. „Als ich Derona ein halbes Jahr unterwiesen hatte, ist Rhulos zu mir gekommen. Er ist ja jünger als du, war zu dieser Zeit vielleicht neun. Er hat mir davon erzählt, dass er nachts Stimmen hörte, während er schlief und immer wieder eine verschwommene Gestalt sah, die ziellos im Dorf herumirrte. Seine Mutter hat ihm nicht geglaubt, aber ich wollte dem auf die Spur kommen und habe nach einer Seele gesucht, die womöglich nicht den Weg in die Andere Welt gefunden hat. So etwas ist nichts Besonderes.“

„Und?“ Aigonns Geduld wurde auf eine zehrende Probe gestellt. All das, was der Schamane ihm bisher erzählt hatte, hätte er sich auch selbst zusammenreimen können. Rowilan aber setzte mit seiner Erklärung fort: „Meine Vermutung erwies sich als richtig, ich habe die Seele gefunden. Sie ist mir aber entglitten, hat sich vor mir versteckt. Ich wollte ihr den richtigen Weg weisen, doch nach einiger Zeit schien es so, als ob sie bewusst immer von einer Welt in die andere gehen würde. So etwas hatte ich bis zu diesem Moment noch nie zuvor erlebt.“

Er hielt inne und sog scharf die Luft ein. Während Rowilan alte Erinnerungen vor seinem inneren Auge zu beschwören schien, konnte Aigonn fühlen, was er sah, nicht sehen, aber fühlen. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, ein Eindruck entgleitender Schwerelosigkeit, während er über dem Boden zu schweben schien und etwas verfolgte, das sich immer und immer wieder seinem Griff entzog. So fühlte es sich an, eine Seele zu jagen? Der Gedanke, dass er in diesem Moment Rowilans Erinnerungen in sich aufgesogen hatte, schockierte und faszinierte Aigonn zur selben Zeit. Dann aber, als seine Gedanken abdriften wollten, sprach der Schamane weiter:

„Ich … habe in einer Nacht versucht, meinen eigenen Geist so weit von diesem Körper zu lösen, dass ich die Seele bis zur Grenze der Welten verfolgen konnte. Aber … du kannst es nicht verstehen, weil du es niemals erlebt hast. Die Grenze zur Anderen Welt ist kein Platz, den du besuchen und wieder verlassen kannst, wie es dir beliebt. Ich habe mich rechtzeitig zurückgezogen, denn irgendwann, je weiter du dich von dieser Realität entfernst, verlierst du die Orientierung für den Weg zurück. Deshalb habe ich die Seele entkommen lassen. Beinahe wäre ich selber dieser Welt entglitten und zu einem verlorenen Wanderer an der Grenze geworden, hätte nicht … Derona … mich rechtzeitig zurückgeholt.“

Derona. Aigonn und Rowilan schienen beide dasselbe zu sehen.

„Und dann?“ Aigonns Stimme war noch immer so kalt, dass er für sich selbst unberechenbar wurde. „Das kann nicht alles gewesen sein!“

„Nein. Natürlich nicht. Mich hat der Gedanke fasziniert, bis zur Grenze der Welten vorzudringen. Ich habe diese eine Seele nicht erreichen können, was auch immer sie dazu bewegt hat. Aber … ich habe versucht, näher an die Andere Welt heranzukommen. Derona hat mir dabei insoweit helfen müssen, dass sie mit genügend Abstand meinen Geist in die Wirklichkeit dieser Welt zurückrufen konnte. Und das hat sie getan. Nicht mehr. Ich gestehe, dass sie sich selbst – so unerfahren wie sie war – vielleicht schon zu sehr von unserer Welt entfernt hatte. Die Geister der Anderen Welt können aufdringlich sein. Zumal sie viel mehr dieser Wesen und vor allem Seelen sehen konnte, die ihren Weg ins Jenseits nicht gefunden haben. Es waren zu viele, sie haben sie bedrängt. Ich habe es gar nicht einschätzen können, weil ihre Sinne so viel sensibler waren als meine. Aber, und das schwöre ich dir, als sie mir davon erzählt hat, habe ich alles versucht, ihr diese heimatlosen Geister vom Hals zu halten, und scheinbar ist es mir gelungen.“

„Ach, wirklich? Dann hat sie sich in den Tod gestürzt, weil sie so glücklich war?“ Die Wut kehrte zurück. Aigonn konnte nicht glauben, dass dies die ganze Wahrheit sein sollte. Es war unmöglich. Wer sollte Derona in den Tod getrieben haben können, wenn nicht Rowilan? Es gab sonst niemanden in Reichweite, der dazu im Stande sein würde!

Deshalb rief er die Drohung zurück in seine Stimme und fügte hinzu: „Bis zu ihrem letzten Atemzug ist sie von Panik und Verzweiflung getrieben worden. Jemand hat sie gezwungen, nach einer Seele zu suchen. Sie war wehrlos. Hilflos. Die Geister und Stimmen um sie herum haben sie in den Wahnsinn getrieben, ohne dass sie etwas ausrichten konnte. Erzähl mir nicht, ich würde mich täuschen! Ich habe es gesehen!“

„Ich weiß, wovon du redest, wenn du von Wahnsinn sprichst. Ich habe auch gesehen, wie sie zu Grunde gegangen ist, jeden verdammten Tag. Aber ich habe nichts damit zu tun. Der Moment meines letzten Versuchs, zwischen den Welten zu wandeln, und der Tag ihres Todes liegen beinahe ein dreiviertel Jahr auseinander.“

„Und wer soll es sonst gewesen sein, wenn nicht du?“

„BEI DEN GÖTTERN, AIGONN, ICH SCHWÖRE DIR, DASS ICH DEINE SCHWESTER NIEMALS GEZWUNGEN HABE, MIR IHRE FÄHIGKEITEN ZUR VERFÜGUNG ZU STELLEN, NOCH UNGENÜGEND BEMÜHT WAR, IHR IN IHRER NOT ZU HELFEN! WENN ICH GELOGEN HABE, WILL ICH HIER UND JETZT MEINE EHRE UND MEIN LEBEN VERLIEREN! DIE GÖTTER UND GEISTER SIND MEINE ZEUGEN!“

Die Zeit schien plötzlich stillzustehen. Der Wind verstummte, die Stimme der Welt verklang und der Atem, der Aigonns Mund entwich, hallte wie ein Pulsschlag in der unwirklichen Stille wider, die dieser Schwur beschworen hatte. Der Wald schien zu lauschen. Alle Geister schienen die Augen auf die beiden Männer gerichtet zu haben und zu bezeugen, was soeben gesprochen war.

Für einen Atemzug wartete Aigonn darauf, dass Rowilan tot den Fels hinabfallen würde. Doch es geschah nichts. Gar nichts. Die Geister hatten ihn gehört und ihr Urteil gefällt. Er wollte es nicht glauben. So sehr er auch zweifeln wollte, Aigonn wusste nun, dass der Schamane die Wahrheit sprechen musste. Am liebsten hätte er aufgeschrien.

Die Spannung des Momentes aber verflog. Rowilan fiel in sich zusammen, als hätte er gerade die Kraft für Jahre seines Lebens verbraucht. Immer ungehemmter entkamen die Tränen seinen Augen. Der Schamane bot einen so ungeheuer jämmerlichen Eindruck, dass Aigonn beinahe zu ihm gegangen wäre und ihn in den Arm genommen hätte wie ein kleines Kind, hätten nicht immer noch die gerade vergangenen Augenblicke in seinem Kopf widergehallt.

Der Schamane hingegen hatte sich weit genug aus seiner Apathie befreit, dass er den ungeschützten Rand des Felsvorsprunges verließ, sich zurück zum Feuer schleppte und dort entkräftet gegen die Steinwand sank. Aigonn selbst stand wie versteinert da, für einen Moment all seiner Ziele, Wege und Möglichkeiten beraubt, die sich ihm bis vor kurzer Zeit noch geboten hatten. Eine ungeheure Ziellosigkeit tat sich vor ihm auf – nicht, weil er nicht wusste, nach welcher Antwort er suchte, sondern weil er jeglichen Anhaltspunkt verloren hatte, der ihm eine Spur hätte bringen können. So glaubte er zumindest. Sicher, er wusste, was Derona in den Tod getrieben hatte. Doch es gab niemanden in seiner Umgebung, der dazu fähig wäre – und er konnte sich nicht entsinnen, dass es eine solche Person gegeben hatte, damals, vor sieben Jahren.

Als er endlich wieder den Wind wahrnahm, der in der Zwischenzeit seinen Körper empfindlich abgekühlt hatte, gesellte er sich zögerlich zu dem Schamanen ans Feuer und ließ sich an der Stelle nieder, von welcher er glaubte, dass sie von seinem vermeintlichen Feind am meisten entfernt war. Die Pfeilwunde in seiner Schulter hatte schmerzhaft zu pochen begonnen – wahrscheinlich schon vor geraumer Zeit. Er wagte es jedoch nicht, irgendetwas zu sagen, sondern beobachtete nur Rowilan, der eines seiner angezogenen Knie wie ein Kind umklammerte und stumm vor sich hin weinte.

Das Gefühl, das Derona empfunden hatte, als Rowilan sie in seinen Armen gehalten hatte, kam Aigonn unweigerlich in den Sinn. Liebe. Musste es sich so anfühlen, wenn man diese Person verloren hatte, die wie eine zweite Hälfte zum eigenen Charakter gehörte? So hatte Derona es empfunden. Und Aigonn kam sich auf einmal schrecklich dumm und unwissend vor. Er hatte keine Ahnung von diesen Dingen. Er war gar nicht in der Lage zu beurteilen, was in diesem Schamanen vor sich ging, den er Zeit seines Lebens als einen berechnenden Mann gekannt hatte, der zwar immer bemüht gewesen war, sein Vertrauen zu gewinnen, aber durch seine verborgene Unnahbarkeit niemals Erfolg gehabt hatte. Oder war vielleicht Aigonn selbst der Unnahbare gewesen? Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, dass es anstrengend wurde zu denken. Er versuchte, seinen Geist zu leeren und alles, was ihn nun aus der Fassung brachte, wie Abfall im Feuer zu verbrennen.

Aigonn konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging, als ihm auf einmal eine neue Frage auf der Zunge brannte: „Du wusstest von dem Umstand, der Derona in den Tod getrieben hat? Dass sie gezwungen wurde?“

Rowilan sah ihn nicht an. Seine Augen blickten leer, wie ausgewaschene Gefäße, in die zuckenden Flammen. Aigonn glaubte bereits, der Schamane würde ihm nicht antworten, bis er nach einer geraumen Zeit dennoch von sich gab: „Sagen wir, ich habe es geahnt. In den letzten Tagen hat der Wahnsinn sie so sehr gefangen gehalten, dass ich kaum mehr zu ihr vordringen konnte. Ich weiß nicht, was sie zurückgehalten hat, ob man sie so sehr unter Druck gesetzt hat. Aber ich habe gespürt, dass sie versucht hat, mir etwas zu sagen. Und es doch nicht konnte. Es macht erschreckend viel Sinn, was du sagst.“ Er lächelte freudlos. „Ihre Seele kann es gar nicht verkraftet haben, wenn sie mehrfach bis an den Rand der Anderen Welt getrieben wurde, den Geistern und toten Schatten ausgeliefert. Eigentlich hätte ich es ahnen können.“

Mit diesen Worten sah Rowilan zu Aigonn auf. Letzterem fiel es schwer, den Ausdruck in seinen Augen zu deuten, so ungeheuer klar schienen sich Hilflosigkeit und Kontrolle in den Iris des Schamanen zu begegnen. Doch er zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe, als er Rowilan sagen hörte: „Im Grunde kann ich dir keinen Vorwurf machen, dass du jahrelang für mich nur Misstrauen empfunden hast. Du hast es nie besser gewusst, und es hat dich keiner anders gelehrt. Wahrscheinlich hätte ich ebenso gehandelt, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre.“

Diese Bemerkung weckte zögerlich ein neues Gefühl in Aigonn, das jedoch schon zu ungeheurer Heftigkeit anschwoll. Die Schuld ließ sein Gewissen rebellieren und schrie auf – hielt ihm all seine Fehler vor Augen, die er in den vergangenen Jahren begangen hatte. Konnte er sich wirklich so getäuscht haben? Gab es nicht doch irgendeinen Haken, der bezeugen würde, dass Rowilan ihn in diesem Moment nur unsagbar hinters Licht führte?

Er spürte, dass es zwecklos war, diesen Gedanken nachzuhängen. Die Stimme eines Waldkauzes drang aus der Schwärze des Waldes. Je genauer er hinhörte, desto mehr verstand er das leise Flüstern der Bäume, die ihre ganz eigenen Geschichten erzählten. Vielleicht würde er sie verstehen, wenn er es wollte. Vielleicht war es an der Zeit, dass er endlich die Augen auftat und sich nicht wie verbissen in dem Gedanken nach Rache verlor. So würde er diese wohl niemals bekommen.

Irgendwann, als er seinen Kopf endlich zur Ruhe gebracht hatte, fragte Aigonn zögerlich: „Wie viele von unseren Leuten … haben eigentlich die Schlacht überlebt und konnten fliehen?“

Zunächst kam keine Antwort. Rowilan schien aus der Welt seiner Erinnerungen erst zurückkehren zu müssen, bevor er berichtete: „Nicht viele. Aber mehr, als es zunächst den Anschein hatte. Ein paar Kinder, Mütter, die rechtzeitig geflohen sind, vereinzelte Krieger. Aehrel zu meiner Freude auch. Wir können jeden Mann gebrauchen, wenn wir versuchen werden, die anderen zu befreien.“

Die anderen befreien. Rowilan schien bereits einen Plan zu haben. Es gab seinem Gewissen zwar neue Nahrung zur Rebellion, doch Aigonn hatte auf einmal das Bedürfnis, dem Schamanen anzuvertrauen: „Dieser tote Eichenmann, den wir vor unserer Siedlung am Waldrand gefunden haben, ist auf dieselbe Art und Weise gestorben wie Derona, dessen bin ich mir sicher. Zumindest ist er auf dieselbe Weise in den Tod getrieben worden.“

„Ich weiß.“

„Khomal ist ebenso interessiert daran wie ich, den Schuldigen zu finden. Das war der Grund, warum er unsere Siedlung überfallen hat. Er glaubt, dass wir uns mit Dämonen und bösen Geistern einlassen.“

„Er glaubt, dass ich es bin – so wie du es getan hast.“

„Ja.“ Noch einmal hielt Aigonn inne und überlegte, ob er das Gedachte wirklich aussprechen sollte. „Khomal hat mir versichert, dass er außer Behlenos all unsere Leute freigeben wird, wenn ich ihm den Schuldigen bringe.“

Nun blickte Rowilan erstaunt zu ihm auf. Und als ihre Blicke sich trafen, trat ein wissender Ausdruck in die Miene des Schamanen. Dann begann er milde zu lächeln. „Ich bin dir nicht böse dafür, dass du die klügste Entscheidung getroffen hast, die die wenigsten Menschenleben kostet. Zwei Tote sind die beste Bilanz, die wir scheinbar erwarten können.“

„Ich hätte nicht gezögert, dich ihm auszuliefern.“

„Danke, dass du es nicht getan hast.“

„Diese Sache betrifft nicht allein Khomal, deshalb nicht. Ich wollte Antworten von dir. Meine Antworten.“

„Ich kann verstehen, was dich treibt. Ich bin kein so schlechter Mensch, wie du vielleicht glaubst.“

Dies war der richtige Moment, um Verzeihung zu erbitten. Aigonn aber brachte die einfache Frage nicht über die Lippen. Auf einmal wusste er, wie weit er sein eigentliches Ziel verfehlt hatte, als er mit aller Gewalt Rowilan zum Schuldigen hatte machen wollen. Es fühlte sich an wie ein Loch ohne Boden.

Auf diese Weise versank Aigonn wieder in Schweigen und hätte sich am liebsten auf ewig in seinen Gedanken verkrochen. Doch die Wirklichkeit war näher und realer, als er es sich wünschte.

Rowilan fragte vorsichtig: „Bist du bereit, auch mir jetzt Wahrheit zu geben?“

Aigonn sah auf, auf eine solche Frage nicht vorbereitet. Innerlich hatte er gehofft, mit allen Geheimnissen seinen Frieden zu finden, doch im Grunde wusste er, dass dies nicht der richtige Weg war. Deshalb sagte er: „Was möchtest du wissen?“

„Hattest du etwas damit zu tun, dass Lhenia von den Toten zurückgekehrt ist?“

„Nein.“

„Was weißt du dann über sie, was ich und die anderen Bärenjäger nicht wissen?“

Aigonn hatte den Mund geöffnet, doch statt einer Antwort entwich ihm nur ein scharfer Atemzug. Dies war Anations Geheimnis, nicht das seine. Konnte er ihre Identität fremden Menschen, auch wenn sie seit Jahren schon mit ihm im selben Dorf lebten, so ungeachtet preisgeben? Doch er entsann sich, dass es vielleicht nun an der Zeit war, ein wenig Vertrauen zu haben – ganz gleich, wie schwer ihm dies fiel. Und aus diesem Grund begann er zu erzählen, alles. Wie er Anation gefunden hatte, das wenige, das sie von sich selbst sagen konnte, den Grund, an den sie glaubte, der sie hierher geführt hatte, und ihrer beider Versuch, Deronas Erinnerungen zu finden und daraus denjenigen zu erkennen, der Schuld an ihrem Tod trug.

Rowilan lauschte mit einer Mischung aus Schrecken und Faszination. Er schien unterschätzt zu haben, zu was Aigonn wirklich in der Lage war. Und selbst, wenn er dies nicht getan hatte, überraschte es ihn nun, seine Vermutungen bestätigt zu hören. Nachdem Aigonn geendet hatte, verfiel der Schamane in nachdenkliches Schweigen und verarbeitete zunächst das Gehörte. Dann meinte er: „Ich habe an viel geglaubt, aber nicht daran. Was soll hier vor sich gehen, wenn eine Frau nur deswegen aus der Anderen Welt von den Toten zurückgeschickt wird, mit all ihrem Wissen und all ihren verbliebenen Fähigkeiten?“

„Ich wäre froh, wenn ich es wüsste. Sicher ist aber, dass Anation ihre Aufgabe bald nicht mehr erfüllen kann, wenn wir noch länger warten.“ Diese Tatsache wurde Aigonn erst beim Sprechen in vollem Ausmaß bewusst. Eine Schuld, aus unglaublicher Pflichtvergessenheit erschaffen, überkam ihn plötzlich. Er hatte so viele Gedanken daran verschwendet, wie er an Rowilan seine Rache üben konnte, dass er vergessen hatte, in welch gefährlicher Lage Anation sich in diesem Moment befand.

Rowilan nickte verstehend. „Die Eichenleute kommen schnell in Versuchung, jeglichen Horrorvisionen zu glauben, die sie sich ausmalen. Und uns würde es vermutlich nicht anders gehen. Sie fürchten Lhenia … -also … nicht Lhenia, Anation, weil sie nicht wissen, wozu sie im Stande ist.“

„Anation ist kein gottgleicher Krieger oder ein Geist, der sie alle verfluchen kann. Sie ist eine Schamanin, nicht mehr. Sie mag altes Wissen besitzen, das heute nicht mehr üblich oder vielleicht auch vergessen ist. Jedenfalls aber ist sie sterblich wie du und ich – denke ich zumindest. Ganz gleich, wie viele wir retten können, sie muss unter ihnen sein!“

Nach dieser Aussage streifte Rowilan Aigonn mit einem Blick, den Letzterer nicht vollständig deuten konnte. Rowilan stimmte ihm zu, das spürte er. Aber in den Augen des Schamanen lag ein feines Lächeln verborgen, ein hauchfeiner Triumph, der ihm zwar nicht so gut zu schmecken schien, wie er es an einem früheren Tag getan hätte. Doch er war da. Und Aigonn spürte auch, worauf er sich gründete.

Jetzt hat er mich endlich da, wo er mich haben wollte. Im Moment aber würden Trotz und Abwehr wohl niemandem helfen – nicht ihm, nicht Rowilan und schon gar nicht Anation oder dem Rest seiner gefangenen Leute.

Ein unwirsches Knurren unterbrach die Stille des Moments. Aigonn griff sich wie von selbst an die Stelle oberhalb seines Magens, und Rowilan antwortete darauf: „Ich habe ein wenig Proviant mitgebracht. Nicht viel, aber es sollte für den Augenblick genügen.“

Aigonn musste schmunzeln. Als Rowilan seine Geste erwiderte, schien eine Last von seinen Schultern zu fallen, die dort schon seit Jahren unmerklich sein Handeln bestimmt hatte. Das Atmen schien leichter zu werden, zwangloser. Der Schamane erhob sich und verschwand nach wenigen Schritten in der Dunkelheit der Nacht.

Rowilan bemerkte mit Erleichterung, dass Aigonn sein Pferd, eine kleine Stute, die einem der getöteten Bauern der Siedlung gehört hatte, an einen Baum gebunden hatte. Er hatte bereits befürchtet, dass der junge Mann in seiner blinden Wut das Pferd vollkommen außer Acht gelassen hatte und dieses nun in einiger Entfernung von der saftigen Krautschicht graste. Stattdessen aber hatte es sich mit einigen Farnblättern zufrieden gegeben.

In der Dunkelheit ertastete Rowilan blind die ledernen Satteltaschen und entnahm ihnen ein kleines Päckchen, das in Leinen gewickelt und mit Lederbändern verschnürt war. Die Eichenleute hatten nur wenige ihrer Vorräte nicht den Flammen übergeben oder selbst mit sich genommen, als sie in die Siedlung eingedrungen waren, sodass Rowilan fast ein schlechtes Gewissen hatte, Hirse und Brot eingepackt zu haben. Waldbeeren hatten seinen Proviant auf dem Weg erweitert, doch dies machte das Mahl kaum reichhaltiger. Morgen sollten sie jagen gehen, wenn Aigonn und er essen wollten.

Mit fortschreitender Zeit hatte der Wind aufgefrischt. Das Flüstern der Bäume wurde lauter und Rowilan wachsamer. Irgendwo raschelte es im Unterholz. Die Silhouette eines Waldkauzes glitt als lautloser Schatten über den nachtschwarzen Himmel.

Plötzlich stutzte Rowilan. Weiteres Rascheln und Knacken, lauter und regelmäßiger, als dass es nur von einem Waldtier kommen könnte, näherte sich von weitem. Er versteinerte auf der Stelle und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Wildpferde streiften gelegentlich durch diese Wälder. Doch selbst für eine kleine Gruppe waren die Schritte, die er vernahm, zu wenige. Schließlich, als geflüsterte Stimmen hinzukamen, bestätigte sich sein Verdacht.

Rowilan schien im Boden zu verwurzeln, von einem Moment auf den anderen um jeden Atemzug besorgt, den der Wind davontragen könnte. Die Stimmen verstummten für eine kurze Zeit. In der fast vollkommenen Dunkelheit war es kaum auszumachen, von woher die Personen – scheinbar zwei – sich näherten und wohin sie gingen.

Als ein Windstoß den Geruch von Feuer und brennendem Holz mit sich trug, erschrak Rowilan so jäh, dass er wider Willen zusammenfuhr. Ein Ast knackte unter seinen Füßen. Für einen Moment waren weder Stimmen noch Schritte zu hören, während Rowilan das Herz bis zum Hals schlug. Doch dann, langsam, bewegten sich die beiden Gestalten in eine Richtung, die er auf Süden schätzte.

Einen schier ewigen Augenblick später waren die Schritte kaum mehr zu hören. Rowilan wartete noch solange, bis er sich sicher fühlte. Dann lief er rückwärts, den Blick zum Wald gerichtet, mit quälend bedächtigen Schritten zur Felswand zurück. Als er erstes Gestein unter seinen Füßen spürte, machte er kehrt und rannte beinahe den Vorsprung hinauf, bis er Aigonn am Feuer sitzen sah. Ohne Erklärungen zu geben, befahl Rowilan im Flüsterton: „Mach das Feuer aus, schnell!“

„Was ist …?“

Aigonn sparte sich die Frage, als er dem drängenden Blick seines Schamanen begegnete und erstickte darauf die Flammen mit Staub und Erde vom Vorsprung. Als es ihm nicht recht gelingen wollte, trat Rowilan die letzte Glut mit den Füßen aus, bevor er Aigonn wortlos das Päckchen mit dem Proviant in die Hand drückte.

„Unsere Verfolger haben noch nicht aufgegeben. Wie es scheint, sollten wir uns einen sichereren Schlafplatz suchen.“

„Wohin gehen wir?“

„Das überlege ich mir auf dem Weg.“

Damit ging Rowilan in die Dunkelheit vor. Aigonn konnte nur noch am leisen Klang seiner Schritte hören, dass er den Vorsprung verließ, und folgte ihm zögerlich, um nicht auszurutschen. Auf einmal war die Nacht wieder kohlschwarz. Aigonn brauchte lange, um seine Augen an die neuerliche Dunkelheit zu gewöhnen. Er wäre beinahe gegen das Pferd gelaufen, hätte Rowilan ihn nicht an der Schulter festgehalten und ihm beim Aufsteigen geholfen.

Der Schmerz kehrte zurück. Als der Schamane hörte, wie Aigonn scharf den Atem einsog, kramte er in einer Satteltasche und reichte ihm blind etwas Holzartiges, das sich in Aigonns Hand zu einem dünnen Streifen aufwickelte. „Weidenrinde“, erläuterte Rowilan knapp, und mehr brauchte Aigonn darüber auch nicht zu wissen. Während der Schamane hinter ihm auf die Stute aufsaß, steckte er sich ein Stück der Rinde in den Mund und begann trotz des bitteren Geschmacks darauf herumzukauen.

Die schmerzstillende Wirkung stellte sich kurze Zeit später ein. Sie war nicht annähernd so stark, dass Aigonn nicht jeden Schritt der Stute schmerzhaft in Rippe, Arm und Schulter zu spüren bekam. Doch sie verschuf Linderung, wenn auch nur gering. Zeitgleich begann er mit einem Stück Leinen von seinem ohnehin zerrissenen Hemd die Wunde an seiner Schulter abzubinden, die zwar nicht sonderlich tief war, in den letzten Augenblicken aber deutlich stärker zu bluten begonnen hatte.

Aigonn konnte nicht sagen, wie lange Rowilan und er abseits jeglicher Wege durch das Dickicht ritten. Die Dunkelheit der Nacht und beängstigend nahes Rascheln, ob von einem Reh, Dachs oder anderen Raubtier war nicht zu sagen, ließen ein mulmiges Gefühl in ihm aufsteigen, das ihn schließlich fragen ließ: „Woher weißt du eigentlich, wohin wir reiten?“

„Ganz genau weiß ich es nicht. Aber der Wind kommt von Westen. Im Süd-Osten werden wir sehr bald auf eine Moorlandschaft treffen. Ich glaube nicht, dass die Eichenleute dort nach uns suchen werden.“

Sie waren auf dem Weg zu einem Moor, in der Dunkelheit. Aigonn wäre am liebsten abgestiegen, doch hier in einem fremden Wald alleine zu nächtigen, bot nicht unbedingt größere Vorteile.

„Du kennst dich sehr gut hier aus!“

„Ich bin in dieser Gegend aufgewachsen. Bis vor zwanzig Jahren vielleicht lebten bei den Eichenleuten die mächtigsten Schamanen der ganzen Region. Die letzten von ihnen haben mich unterrichtet.“

Aigonn war erstaunt. Er hatte weniger über Rowilan gewusst, als er zunächst geglaubt hatte – und eigentlich hatte es ihn nicht wirklich interessiert. Nun aber fragte er nach: „Das wusste ich nicht. Wer war dein Lehrmeister?“

„Ach wirklich? Du lässt dir von den Leuten im Dorf wenige Geschichten erzählen.“

Darauf entgegnete Aigonn nichts mehr. Rowilan aber antwortete trotzdem: „Mein Lehrer trug den Namen Segastes, aber er hatte nur noch einen Bruchteil des Wissens, das mit den alten Meistern verloren gegangen ist. Ihr Tod war tragisch für die Eichenleute, schlimmer, als sie es damals geglaubt haben. Sie haben damit Macht und alte überlieferte Weisheiten verloren, die ihnen nie wieder zuteil sein werden. Deshalb fürchten sie uns so. Sie wissen, dass ich Schüler eines alten Lehrmeisters war – auch wenn er mir nur ein Bruchteil dessen vermitteln konnte, was die Eichenschamanen in früheren Jahrzehnten beherrscht haben. Khomal hat nie mit den Geistern gesprochen. Seit Segastes gestorben ist, kann er nicht mehr in Erfahrung bringen, wozu ich in der Lage bin.“

„Wer waren die anderen? Diese alten Meister? Was wussten sie, das die Bärenjäger nicht wussten?“

Rowilan lachte trocken. „Wenn ich das wüsste. Ich fürchte, diese Frage könnte dir nicht einmal Khomal selbst beantworten. Er kann nur reden, vielleicht taktieren. Aber nicht mehr. Er ist kein weiser Mann.“ Der Schamane hielt kurz inne, dann sprach er weiter: „Das einzige, was ich dir erzählen kann, betrifft ihre Herkunft. Den Eichenleuten muss sich vor etwa siebzig Jahren ein Schamane angeschlossen haben, der weit aus dem Norden kam. Weiter, als die Händler fahren, und noch weiter als die Länder, von denen sie Geschichten hören. Segastes hat mir erzählt, er ist über den gewaltigen See im Norden gekommen, den die Stämme von dort das Östliche Meer nennen.“

Das Meer. Aigonn hatte davon gehört. Die Händler hatten Geschichten erzählt, die in seinen Ohren mehr Sagen und Legenden gewesen waren. Zwei gewaltige Seen hoch im Norden, einer östlich, einer westlich, deren Wasser nach Salz schmeckte, sollten so gewaltig sein, dass man das andere Ufer nicht sehen konnte. Zweimal am Tag ziehe sich am Westlichen Meer das Wasser von den Ufern zurück – so weit, dass riesige Flächen tückischen Schlammes zurückblieben – wie eine Sumpflandschaft, die man zwar überqueren konnte, in der man aber an manchen Stellen einsackte und ertrank, wenn das Wasser zurückkam. Aigonn hatte Mühe, sich ein solches Phänomen vorzustellen – und noch mehr, dass ein Mann aus dieser Region bei den Eichenleuten gelebt haben sollte.

„Ich muss gestehen, dass ich den Namen dieses Schamanen nicht behalten habe“, erzählte Rowilan. „Aber das konnten die wenigsten. Die Sprache dieses Volkes klingt im Vergleich zu unserer sehr fremdartig. Sie nannten ihn den Moorsänger. Er hat das Wissen seines Volkes mitgebracht und ein Verständnis für die Welt der Geister, das keiner der Eichenschamanen bisher aufbringen konnte. Er hatte wie du die Gabe zu sehen, aber anders. Er konnte sie benutzen, viel mehr als du jetzt, oder Derona, oder andere Seher, die ich kennengelernt habe. Sein Wissen hat er den Eichenleuten überlassen – genauso wie seine Kinder bei ihnen geblieben sind. Ich weiß nicht, ob du den Namen Haelinon schon einmal gehört hast?“

„Ich meine so. Aber nur flüchtig.“

„Haelinon war weit über die Stämme dieser Gegend hinaus bekannt – obwohl sie als einzige die Sehergabe ihres Vaters nicht geerbt hatte. Sie, zwei ihrer Brüder und ihre Schüler haben über Jahre hinweg Schamanen unterrichtet – sogar welche aus den Ländern nahe den gewaltigen Bergen weit im Süden – und diese haben die Eichenleute dafür reich entlohnt. Auf diese Schamanen gründete sich der ganze Reichtum, bis sie nacheinander an ihrer Macht zu Grunde gegangen sind.“

„Was ist geschehen?“

„Eifersucht, menschliche Schwäche. Die Schüler wollten sich aus dem Schatten ihrer Meister befreien. Es hat sich zu einer schlimmen Fehde entwickelt, in welcher letztendlich einer der Söhne des Moorsängers erschlagen wurde. Sein Bruder hat die Eichenleute verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt. Haelinon blieb als einzige weitgehend unbehelligt. Selbst ich habe sie noch als alte Frau kennengelernt, bis sie von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Es gibt Gerüchte, sie sei ermordet worden. Aber eigentlich hätte niemand mehr einen Grund gehabt. Die Fehde war zu dieser Zeit längst beendet, doch das tat nichts mehr zur Sache. Segastes war Haelinons letzter Schüler und letztendlich mein Lehrer. Mich wundert es, dass du ihren Namen nicht weiter zuordnen kannst.“

„Ich gebe zu, ich weiß wenig über die Geschehnisse außerhalb des Dorfes. Vielleicht … habe ich mich nie genug darum gekümmert.“

„Es hat sehr wohl etwas mit dem Dorf zu tun. Haelinon war Aehrels Mutter.“

„Was sagst du?“ Aigonn traute seinen Ohren nicht. Er hatte gedankenverloren begonnen, auf der harten, ungekochten Hirse herumzukauen, die ihm unangenehm auf das Zahnfleisch drückte. Das eben Gehörte aber ließ ihn einige Körner ausspucken, bevor er herausbrachte: „Aber … -Aehrel … ist mein Onkel. Also … der Bruder meiner Mutter.“

„Ihr Stiefbruder, ja. Haelinon hat ihn kurz nach seiner Geburt zu Moribes Familie gegeben – warum weiß niemand so genau. Er selbst hat davon erst spät erfahren, weil Haelinon scheinbar viel Wert darauf gelegt hat, das niemand ihren Namen erfährt. Jeder wusste, dass er nicht der leibliche Bruder deiner Mutter war, aber keiner kannte die Identität seiner Eltern.“

Diese Informationen waren für Aigonn zu viel. Für einen Moment ersparte er sich weitere Fragen, um verdauen zu können, was man ihm soeben erzählt hatte. Aehrel der Sohn einer mächtigen Schamanin? Es war schwer vorstellbar. Moribes Stiefbruder hatte sich Zeit seines Lebens vor allem als geschickter Kämpfer und besonnener Taktiker herausgetan, der Behlenos vor allem in Kriegsfragen eine unfreiwillige Stütze war. Doch der Sohn einer Schamanin? Nur weil Aehrel Rowilan manchmal zur Hand ging, hätte Aigonn dem ruppigen Krieger einen solchen Hintergrund nicht zugetraut. Immerhin war er kaum älter als seine eigene Mutter.

Die Geschichte hatte ihn so für sich eingenommen, dass ihm nicht aufgefallen war, wie der Wald sich gelichtet hatte und der abnehmende Mond weiß vom Himmel auf die beiden Reiter herabschien. Die Stute lief unsicherer auf ihren Hufen. Er hörte den schlammigen Boden unter ihren Schritten schmatzen, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass das Moor nicht mehr weit sein konnte.

Auch Rowilan bemerkte dies erst jetzt und hielt die Stute an. „Aigonn?“ Dieser antwortete nicht, war in seinen Gedanken versunken. „Aigonn!“ Rowilan stieß ihn leicht in die Seite, wich aber zurück, als Aigonn vor Schmerz zusammenzuckte. „Entschuldige. Wir müssen absteigen. Verheilt deine Rippe so schlecht?“

„Ich habe mir keine große Mühe gegeben, sie zu schonen.“

Auf diesen Kommentar hin meinte Aigonn ein Schmunzeln auf Rowilans Lippen zu erkennen. Der Schamane fasste das Pferd am Zügel und machte vorsichtig einen Schritt vor, um sich besser in der Landschaft orientieren zu können. Der dichte Buchen- und Eichenwald war im Laufe des Weges in Birken und Ohrweiden übergegangen, die in immer größeren Abständen zueinander wuchsen. Eine klamme Feuchtigkeit kroch Aigonn die Beine hinauf. Der morastige Boden schmiegte sich wie ein Fell an seine abgetretenen, aus einem Stück Leder genähten und gewickelten Bundschuhe und saugte sie an, als ob die Geister des Moores ein Weiterlaufen verhindern wollten. Rauschbeere und Heidekraut bedeckten zunehmend die Erde. Die rosafarbenen Blüten schienen in der Dunkelheit zu glimmen, mal heller, mal blasser – dem Wechselspiel der Wolken angepasst, die im Wind immer wieder Teile des Mondes verdeckten.

Aigonn konnte das erste Moorauge von weitem im Mondlicht spiegeln sehen, als er Rowilan fragte: „Heißt das …, auch Aehrel ist ein Seher?“

„Aehrel?“ Rowilan wandte sich kurz zu ihm um, bevor er einen Ast von einer Birke brach, um das Gefüge des Bodens vor sich abzutasten. „Nein. Aehrel hat keines der Talente seiner Mutter geerbt, schon gar nicht eines seines Großvaters. Auch sie war schließlich keine Seherin, aber zumindest eine begabte Schamanin. Ich glaube, er ist unglücklich darüber, aber ich habe ihn mehrfach auf die Probe gestellt. Zur Entschädigung gewissermaßen lasse ich ihn helfen, wenn ich einfache Rituale zu verrichten habe. Viel kann er ohnehin nicht tun.“

„Verstößt das nicht gegen die Gesetze? Er ist ein Uneingeweihter.“

„Und erfährt nichts von dem, das nur den Eingeweihten vorbehalten ist.“

Damit beendete Rowilan dieses Thema zunächst. Während sie den Wald immer weiter hinter sich ließen, breitete sich vor Aigonn und dem Schamanen ein Moor aus, das Aigonn in dieser Größe hier nicht vermutet hätte. Doch im Grunde hatten seine Vermutungen an dieser Stelle keinen Sinn. Er wusste nicht annähernd, wo im Land sie sich befanden. Die Schwärze der Nacht fraß alle Konturen des Horizontes und raubte Aigonn damit jegliche Orientierung. Auf diese Weise blieb ihm nur das Vertrauen in Rowilan und das Moor, das wie ein ruhender Geist dazuliegen schien – Jahrtausende alt und voll von Erinnerungen.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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