Читать книгу Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle - Astrid Rauner - Страница 20

Orans Haus

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Auch wenn Aigonn sich sicher gewesen war, dass Orans Vorhaben betreffend der Feier nur übermütigen Reden entsprungen war, so musste er sich täuschen. Mit Mühen hatte er gerade die fünf Schafe von ihrem dichten Pelz befreit, als der Bauer persönlich zu ihm gekommen war, um ihn einzuladen. Aigonn war erfreut gewesen, einen weiteren Menschen gefunden zu haben, der ihn nicht ausschließlich mit Argwohn betrachtete. Doch in Gedanken an die vielen anderen Bewohner des Dorfes, denen er am liebsten aus dem Weg gehen wollte, hätte er die Einladung zur Feier am liebsten ausgeschlagen. Aber die junge Frau erwartete ihn. Das wusste er. Auch wenn er den wahren Grund nicht wirklich kannte, ermahnte ihn eine Stimme in seinem Kopf der Wichtigkeit, dieser Frau beizustehen, wer auch immer sie war. Ganz gleich, dass er nicht wirklich glücklich über diese Erkenntnis war.

Aus diesem Grund weihte er den schweißdurchnässten Efoh bei dessen Wiederkehr aus dem Wald in die Neuigkeiten ein, die sich ergeben hatten; lediglich das Gespräch mit der jungen Frau ließ er aus. Sein Bruder hatte nach der Mühe, das an diesem Tag unwirsche Pferd als Zugtier der Baumstämme zum Dorf zurückzulotsen, keinen rechten Sinn für Klatsch und Geschichten. Stattdessen leerte er einen Krug Wasser in einem Zug, machte sich auf den Schlaffellen breit und meinte dann endlich zu Aigonn: „Meint Oran ernst, was er dort geplant hat?“

„Scheinbar.“ Aigonn zuckte mit den Schultern, während er vor seinem Bruder stehen blieb und sich versonnen Waldbeeren zwischen die Lippen schob.

„Das wird ihn in den Ruin treiben. Seit seine Frau gestorben ist und er die Felder nicht mehr allein bewirtschaften kann, lassen seine Erträge zu wünschen übrig. Vieh hat er kaum. Mich würde interessieren, womit er die vielen Menschen bewirten will!“

„Ich hoffe, dass unsere Brüder und Schwestern genügsam sind und seine Lage bedenken. Wobei er wenigstens zwei, drei Fässer Bier bereitstellen sollte … Wie auch immer. Ich weiß es nicht …“

„Wovor fürchtest du dich, Aigonn?“

Die unerwartete Frage seines Bruders brachte Aigonn vollkommen aus dem Konzept. Er wollte schon einmal nachhaken, bevor er sich der Bedeutung bewusst wurde, innehielt, die Stirn runzelte und schließlich entgegnete: „Warum glaubst du, dass ich mich fürchte?“

„Etwas beschäftigt dich. Das kann ich sehen. Etwas, das du nicht vollends greifen kannst und dir unheimlich wird. Was ist es?“

Aigonn schwieg. Einen Herzschlag lang kam ihm ein Gedanke, der eine passende Antwort hätte sein können. Doch er behielt ihn für sich und beschloss stattdessen, ihn mit einer anderen Person zu teilen, die mehr von diesen Dingen wusste als sie alle. Dessen war Aigonn sich sicher.


Einen langen, stillen Moment atmete Rowilan die feuchte Luft des Waldes, bis seine Gedanken zur Ruhe kamen. Die Sonne war dabei, ihren Weg über das Firmament zu beenden. Die roten Strahlen zwischen den Baumkronen verwandelten sich allmählich in graues Zwielicht; und endlich fand Rowilan die Konzentration, sich auf den Moment zu besinnen. Immerhin hatte er diesen Tag schon lange Zeit vorher errechnet.

Bald würde die Sonne den Höhepunkt ihres Jahreslaufs erreichen. Auf diesen Zeitpunkt, dem Moment im Sonnenjahr, der das langsame Sterben des mächtigen Gottes am Himmel ankündigte, nach dem die Tage kürzer wurden, warteten alle Geister und Wesen der Welt gleichermaßen. Zur Sonnenwende wurden Geister, Menschen, Licht- und Schattenwesen gleich. Bald darauf würde goldenes Getreide auf den Feldern stehen – solange die Götter, die Sonne und der Mond den Menschen gewogen bleiben würden.

Aus diesem Grund war Rowilan an diesem Abend in den Wald gekommen. Der Hain, der sich zwischen dem Strauchwerk des Dickichts vor ihm auftat, schimmerte im Zwielicht auf seine ureigene, geheimnisvolle Art. Rowilan erkannte den mächtigen Menhir bereits von weitem, den dort ein alter Gott für die Menschen hinterlassen hatte, damit dieser ihnen immer nahestehen konnte. So wollten es zumindest die Legenden. Bereits die Urahnen der Bärenjäger waren an diesen archaischen Ort gekommen, um zu den Göttern zu sprechen. Und die Heiligkeit haftete ihm noch bis heute an.

Rowilan verneigte sich ehrfürchtig, bevor er auf das feuchte Laub des Hains hinaustrat. Eine gewaltige Eiche dominierte den Ort, schien wie ein Schutzgeist auf den Menhir hinabzusehen, und durchzog mit ihren knorrigen Wurzeln die gesamte Fläche. Die Geister des Baumes beäugten Rowilan misstrauisch. Er kannte sie, schon seit seiner Ausbildung. Doch sie trauten ihm bis heute nicht.

In seiner rechten Hand hielt er eine schwere, kunstvoll verzierte Bronzekanne. Kleine Götterfiguren waren an ihrem Rand angebracht und wachten über den heiligen Trank, den Rowilan zum ersten Mal seit Monaten wieder gebraut hatte. Er würde es ihm ermöglichen, weiter zu sehen, als es seine Fähigkeiten für gewöhnlich zuließen. Heute nämlich galt es zu erfahren, was die Götter als Preis dafür forderten, die Felder zur Sonnenwende zu segnen.

Für einen Moment blitzte der vergangene Tag in seinem Geist auf. Der Ärger über Aigonn und die Rückkehr von Lhenia vermischten sich zu einer Wolke aus Gefühlen, die wie Kopfschmerz in seinem Schädel pochte.

Unwirsch schüttelte Rowilan seinen Kopf und schob die Erinnerungen beiseite. In diesem Hain hatte der Alltag keinen Platz. Die Götter und die Andere Welt waren ihm näher als die irdische Wirklichkeit. Er konzentrierte sich darauf, weshalb er gekommen war, wie viel an diesem Ritual hing.

Als es hinter ihm im Dickicht zu rascheln begann, sah Rowilan sich nicht um. Es gab nur eine Person, die den Mut hatte, eine solch heilige Stätte ohne Weiteres zu betreten.

„Ich bin bereit!“, begrüßte Aehrel den Schamanen, bevor der alternde Krieger mit drei Fackeln in den Händen in den Hain hinaustrat. Nur eine hatte er bisher entzündet – wohl um damit leichter durch das Dickicht zu gelangen. Drei war die heilige Zahl der Götter – das Symbol für Geburt, Tod und Wiedergeburt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die heilige Dreiheit.

Aehrel lief zu Rowilan, der mit gut zehn Fuß Abstand vor dem Menhir stand und ehrfürchtig zu dem Felsen hinaufsah. Rowilan hörte, wie der Krieger in einiger Entfernung etwas auf den Boden fallen ließ, ein Säckchen, irgendetwas, es war nicht von Bedeutung. Als Aehrel direkt hinter ihm stand, sagte er: „Lassen wir es beginnen!“

Damit nahm Rowilan die Kanne in beide Hände. Fast lautlos steckte Aehrel vor ihm die Fackeln in den Boden. Das trockene, talgbestrichene Holz entflammte knisternd, die Wärme der Flamme erfasste Rowilan wie ein sommerlicher Windhauch. Mit jedem Knacken des Holzes, jedem Rascheln der Blätter über ihm entfernte sich sein Geist immer weiter von der Wirklichkeit.

Es zischte. Dann verbreitete sich ein schwerer Geruch, der Rowilan in den Schleimhäuten brannte und bis zu seinem Geist vorzudringen schien. Ein dichter Rauch wehte mit dem Wind über den Hain, verschleierte die Bilder vor seinen Augen. Jetzt war es an der Zeit.

Der bittere Geschmack des Trankes mochte Rowilan schon seit vielen Jahren vertraut sein, doch er schüttelte ihn mit jedem Mal so, als hätte er ihn noch nie gekostet. Die Wirkung setzte rasch ein, die Welt drehte sich vor seinen Augen, während Rowilan auf die Knie sank und langsam den Kopf hob.

„Ihr Götter, Beschützer dieses Landes, unsterbliche Seelen dieser Welt! Ich rufe euch!“

Der Schwindel, der Rowilan erfasst hatte, wurde immer stärker. Er wollte sich bereits auf den Boden stützen, bis er sich ermahnte, dass er nicht fiel, sich von dem Gefühl nicht täuschen lassen durfte. Das Laub unter seinen Knien schien an Substanz zu verlieren, die Welt sich aufzulösen.

Als Rowilan die Augen öffnete, war der Menhir fast vollkommen im Dunst der Flammen verschwunden. Der Rauch breitete sich aus, schien Gestalt anzunehmen, als hätten die Geister des Ortes von den Fackeln Besitz ergriffen. Lautlose Worte hallten über den Hain hinweg. Rowilan hörte seinen eigenen Atem wie den Wind in seinen Ohren rauschen, vermischt mit Stimmen, die kein Mensch verstehen konnte; nicht er. Noch nicht.

„Ihr Götter, uns steht eine neue Wende bevor!“ Seine Worte verloren sich in einem Stimmenmeer. „Der Herr des Lichts und des Reifens, die göttliche Sonne, schreitet zu seinem Höhepunkt, der uns Gedeihen und Ernte bringen wird. Er ist der Richter, der bestimmt, wie wir den Winter verbringen. Er entscheidet, womit wir unsere Vorräte füllen. Sagt mir nun, ihr Götter, was verlangt ihr für eine neue, gute Ernte?“

Mit seiner letzten Frage kam ein Wind auf. Die Stimmen wurden lauter, kamen näher. Sie schmerzten Rowilan in den Ohren, während er angespannt in den Rauch starrte, wartete, ob etwas geschah.

Auf einmal verschwammen die Flammen mit ihrem Dunst. Die Farben vermischten sich zu einer unkenntlichen Masse, während die Stimmen direkt neben Rowilans Ohren zu sprechen schienen. Das Flüstern vibrierte auf seiner Haut, sein Name erklang vielstimmig dazwischen. Es wurde immer schwerer, sich zu konzentrieren, während Rowilan immer noch abwartete. Doch kein Gott sandte ihm eine Botschaft. Er spürte keine Präsenz, nur die Geister, die ihm allmählich so nahe waren, dass es ihn schauerte. Mit aller Macht versuchte Rowilan sich zu konzentrieren, doch schließlich konnte er nicht anders, als zu fragen: „Was wollt ihr von mir?“

Keine Antwort. Nur ein Lachen. Ein feines, wissendes Lachen, das ihn verhöhnte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Rowilan zwinkerte, versuchte die Visionen abzuwenden. Jeder Schamane hatte gelernt, sich aus einer Trance zu befreien, wenn es nötig wurde. Doch der Weg in die Wirklichkeit war verschwunden. Er fühlte ihn nicht mehr, hatte den Bezug zum Boden, zum Wald, zum Hain verloren. Nur noch der Wind und das schwimmende Farbenmeer waren verblieben. Rowilan war plötzlich orientierungslos geworden. Wider Willen wogte Panik in ihm auf. Er musste jetzt ruhig bleiben, sonst würde er die Kontrolle verlieren, den Weg zurück! Seine Stimme hatte keinen Klang mehr, als er ins Nichts hineinschrie: „Aehrel!“

Keine Antwort. Keine Reaktion, weder von den Menschen noch von den Göttern. „Aehrel, hilf mir!“ Das Lachen wurde lauter. Je näher es kam, desto mehr verwandelte es sich in eine Stimme, die seine eigene Panik widerspiegelte, eine Stimme, die ihm immer vertrauter wurde. Es gab kein Entkommen davor, keinen Ausweg. Keinen Weg zurück.


„Herrin!“ Aigonns geflüsterter Ruf verlor sich in den Schatten. Der Tag dämmerte bereits in leuchtenden Rottönen über dem Horizont und beschwor eine erste, frische Brise, die den Bärenjägern endlich Abkühlung schenken sollte.

„Herrin, bitte höre mich!“ Keine Antwort. Nur das leise Flüstern des Waldes von fern her. Missmutig presste Aigonn die Lippen zusammen, während er unterhalb des Wallganges entlanglief, die feinen Nebelschwaden im Auge, die immer wieder unter den Palisaden hindurchdrangen.

Rasch warf er einen Blick nach hinten. Er war sich sicher, dass die Wachen ihren Dienst nicht beendet hatten und Aigonn noch immer nachstellten. Doch in diesem Moment wollte er sie eigentlich nicht beachten – aller Unvernunft zum Trotz.

„Herrin, ich bitte Euch! Sprecht mit mir! Hört mich, ich brauche Euren Rat.“

Die Nebelschwaden entgegneten nichts. Gar nichts. Keinen Laut, kein Wort, schon wieder nicht. Aigonn überkam fast das Gefühl, zu verzagen. Er konnte nicht verstehen, warum die Nebelfrau nicht mit ihm sprechen wollte – jetzt, da viel mehr im Gange zu sein schien, als Menschen es kontrollieren konnten. Doch vielleicht interessierte sie sich gar nicht dafür. Wer konnte wissen, wonach den Nebelgeistern der Sinn stand?

Fast wütend über diese Vorstellung – wahr oder nicht – wandte Aigonn sich um. Der Abend hatte Ruhe gebracht, hatte die Stimmen gedämpft und viele von ihnen in einem kleinen Haus aus Stroh und Lehm zusammengebracht, das zwischen den anderen Behausungen niemandem aufgefallen wäre.

Oran hatte Wort gehalten und das gesamte Dorf zu sich eingeladen – die übrigen Flüchtlinge inbegriffen. Zwei andere befreundete Bauern hatten sich bereiterklärt, Schemel und Feuerholz zu spenden, sodass sich eine riesige Menschentraube eng um ein einziges kleines Häuschen drängte. Die wenigstens saßen im Inneren. Mehrere Feuer waren entzündet und es floss genügend Bier und Wasser, um die Menschen vorerst bei Laune zu halten.

Aigonn näherte sich verhalten. Es drängte ihn noch immer nicht, zu dieser Feier zu kommen, nicht einmal, um jemand anderem damit einen Gefallen zu tun. Die reservierten Blicke, die ihn trafen, bestätigten sein Gefühl. Zwar wurden nicht alle Gespräche leiser, als er an den Menschen vorbeilief, doch seine Gedanken malten genügend Bilder aus, um ihm die Stimmung gänzlich zu verderben.

Efoh erwartete ihn bereits im Inneren des Hauses. Die Wand aus Schweißgerüchen, tierischen Ausdünstungen von den nahen Ställen, Bier und bratendem Fleisch ließ Übelkeit in ihm aufsteigen, doch Aigonn erinnerte sich daran, dass es im Winter manchmal in seinem eigenen Elternhaus nicht anders gerochen hatte. Das Haus des Oran war bis in die letzten Winkel mit Menschen gefüllt. Der fast euphorisch wirkende Gastgeber suchte sich halb springend seinen Weg durch die Reihen, um neues Bier zu bringen – und seine Geschwindigkeit ließ erahnen, wie schnell das für ihn fast kostbare Getränk aufgebraucht sein würde.

Efoh hatte sich irgendwo in die Menge gedrängt und einen Platz am heimischen Herdfeuer ergattert. Dorthin winkte er Aigonn, einen Becher Bier in der Hand und halb in ein Gespräch mit zwei anderen jungen Männern des Dorfes vertieft.

Aigonn grüßte flüchtig. Die argwöhnischen Blicke, die ihm selbst von den Freunden seines Bruders begegneten, kümmerten ihn fast nicht mehr. Er hatte sich die größte Zeit seiner Kindheit damit abgefunden, dass er anders war als die anderen und nur wenige wirklich seine Gesellschaft gesucht hatten. Tarages vielleicht. Ein paar wenige andere. Menschen, die nicht mehr lebten. Die meisten davon. Die anderen hatten sich verändert, waren erwachsen geworden und hatten die Geschichten und Warnungen ihrer Familien ernster genommen. Nach den jüngsten Ereignissen, in die Aigonn sich aus für ihn unbekannten Gründen verwickelt hatte, erst recht.

Efoh für seinen Teil ließ sich seine Stimmung nicht trüben, rief Oran herbei, dessen Gesicht vom vielen Hin-und-Her-Laufen bereits rot angelaufen war, und bat um einen Trunk für seinen Bruder. Dieser kam, auch wenn Aigonn seinem Bruder weniger enthusiastisch entgegenprostete, als dieser es vormachte. Als Aigonn keine Anstalten machte, sich größer in das Gespräch über Schafe, Lämmer und Tragzeiten einzuklinken, verlor man auch bald das Interesse an ihm, sodass er sich näher an das Herdfeuer setzte und endlich Gelegenheit hatte, die Hütte sorgsam nach der jungen Frau abzusuchen.

Ein Teil der Frauen hatte sich von den Männern abgeschottet und saß zusammen mit kleineren Kindern auf der Bettstatt des Bauern und seiner Tochter. Es dauerte einen Moment, bis Aigonn die junge Frau zwischen ihnen entdeckte. Auf eine gewisse Weise verschuf es ihm Genugtuung, dass er nicht die einzige Person in diesem Raum war, die sich in dem Trubel unwohl fühlte.

So argwöhnisch wie man Aigonn betrachtete, so vorsichtig sprach man mit der vermeintlichen Lhenia. Scheinbar war es ihr recht so, denn die anderen Frauen schienen sich im Geheimen zu fragen, wie sehr Tod und Wiedergeburt Orans Tochter verändert haben mussten. Aigonn schmunzelte über ihre Unwissenheit und erkannte eine Mischung aus Neugierde und Furcht in den Blicken der Mütter, wenn diese die Münder zum Sprechen öffneten.

Es dauerte einen Augenblick, bis die junge Frau sich endlich aus dem Gespräch ausklinkte, den Blick über die Menge schweifen ließ und für einen kurzen Moment des Erkennens bei Aigonn innehielt. Dann wandte sie sich wieder ab. Es vergingen jedoch keine hundert Herzschläge mehr, bis sie mit der Ausrede, sie wolle nach ihrem Vater sehen, die Runde verließ und sich draußen unter die anderen Gäste mischte.

Aigonn wartete eine Zeit, dann tat er es ihr nach. Er wollte nicht den Anschein erwecken, mit ihr besser bekannt zu sein. Daher machte er zunächst einen großen Bogen um sie, stellte sich an ein anderes Feuer und blickte nur flüchtig zu ihr. Die junge Frau zeigte kaum eine Reaktion. Sie wartete sehr lange, sprach immer wieder mit den Leuten, bis sie auf einmal – mit einer Ausrede, die Aigonn nicht verstehen konnte – die Gesellschaft verließ, hinter dem Haus verschwand und in einem geeigneten Moment ganz in die Dunkelheit eintauchte.

Auf einmal hörte Aigonn sein Herz in den Ohren schlagen. Er wusste, wenn Rowilan ihn nun allein in der Dunkelheit mit der vermeintlichen Lhenia entdeckte, würde er nicht eher Ruhe geben, bis er wissen würde, welches Geheimnis sie beide teilten. Dabei gab es nichts Verwerfliches an dieser Wahrheit. Auch nichts Gefährliches – so hoffte er es zumindest.

So unauffällig wie möglich folgte Aigonn dem Weg, den die junge Frau genommen hatte. Erst als er vollends in die Schatten eingetaucht war, beruhigte sich sein Herzschlag. Seine Reaktion schien ihm albern, er tat nichts, wofür eine Strafe angebracht wäre. Und doch konnte er nicht sagen, warum ihn das ungute Gefühl, das ihn schon den Abend über begleitet hatte, noch immer nicht loslassen wollte.

Als eine schmale Hand seine Schulter fasste, zuckte er ungewollt zusammen. Im Zwielicht des Abends erkannte er die junge Frau fast nur noch als Silhouette, doch die Helligkeit genügte, um das feine Schmunzeln auf ihren Lippen zu sehen.

„Wen erwartest du hier zu finden? Einen bösen Geist?“

Aigonn antwortete nicht. Er versuchte pikiert zu wirken, doch ihr wissender Blick entwaffnete ihn. Er gab sich geschlagen, jedoch machte die junge Frau keinerlei Anstalten mehr, Späße weiter in die Höhe zu treiben.

Ihr Ausdruck wurde ernst. Sie blickte sich kurz nach beiden Seiten um, bevor sie mit gedämpfter Stimme anmerkte: „Manchmal frage ich mich, ob es an mir liegt, dass ich diese Menschen nicht verstehe! Dieser Bauer, Oran, niemand verlangt doch von ihm, dass er so viele Leute bewirtet, ohne dass er es sich wirklich leisten kann! Oder nicht?“

„Nein, du hast Recht. Oran hat ein gutes Herz, aber meiner Meinung nach überschätzt er zu oft seine Möglichkeiten.“

Die junge Frau nickte nur, als hätte sie diese Vergewisserung gebraucht, um sich selbst und ihre Art zu denken zu bestätigen. Sie überlegte kurz, dann sagte sie: „Gibt es Dinge, die ich wissen sollte, wenn ich weiterhin versuche, Lhenia zu spielen?“

„Sicherlich.“ Aigonn hielt inne. Das Unwohlsein war nicht von ihm gewichen, und allmählich vermutete er, dass es nicht allein in seiner Sorge um den Zorn des Schamanen begründet war. Er begann vorsichtig, als er einwarf: „Ich könnte dir viele Dinge erzählen, aber … vielleicht würdest du mir zuvor meine Fragen beantworten?“

Die junge Frau zog die Augenbrauen in die Höhe.

„Was weißt du darüber, was hier geschieht? Ich glaube dir, dass du nicht bewusst diese Rolle angenommen hast, die du nun verteidigen musst, aber du kannst mir nicht erzählen, dass du vollkommen ahnungslos durch diese Welt wandelst, bis dich irgendein Lichtblick ereilt!“

„Nun …“ Ihre Mundwinkel zuckten unmerklich. „Erinnerungen kehren wieder, das ist wahr. In diesem Moment würde ich sagen, dass all das, was ich wusste, zumindest wie ein Instinkt in mir mein Handeln bestimmt. Und du hast Recht, ich bin nicht umsonst hier.“ Nun zögerte sie. Ein kurzes Blitzen in ihren Augen verriet, dass sie Aigonn längst nicht so sehr traute, wie sie vorgab. Sie zweifelte an seinem Wissen, seinem Verständnis für die Dinge, die am Laufen waren, um was auch immer es sich handelte – und diese Tatsache machte ihn wütend.

Die Nebelfrau erschien ihm nicht mehr, hatte kein Ohr für seine Fragen. Eine wildfremde, wiederauferstandene Tote, die sich unerkannt unter seinen Leuten aufhielt, sah ihn gern als offene Informationsquelle, speiste ihn aber mit Belanglosigkeiten ab. Wie ein Kind, als dumm gebrandmarkt, fühlte Aigonn sich plötzlich, und die junge Frau spürte diese Regung ebenso schnell, sodass sie besänftigend hinzufügte: „Ich kann dir nicht so viel sagen, wie du vielleicht glaubst. Ich erinnere mich noch immer fast gar nicht an das … was ich war … Aber ich kann dir verraten, dass ganz andere Mächte als die Nebelgeister mein Eingreifen wünschen. Warum auch immer.“

Für einen Herzschlag waren Aigonn die Worte entfallen. Die Fragen in seinem Kopf bedrängten ihn und quälten ihn immer weiter um Antworten, die ihm niemand geben konnte. Niemand! Eben dies schien ihn in den Wahnsinn zu treiben. Erneut überkam ihn die nun gut gekannte Enttäuschung, sodass es ihm fast sinnlos schien zu fragen: „Du weißt wirklich nicht, was hier geschieht?“

Die junge Frau schüttelte nur mit dem Kopf, während ihr Blick zu Boden wanderte. Die lauten Stimmen, die auf einmal vom Haus her zu ihnen drangen, unterbrachen die Spannung des Moments, sodass die junge Frau vorschlug: „Wir sollten ein Stück weiter in das Dorf hineinlaufen. Ich fürchte, wir bekommen ansonsten sehr bald Mithörer.“

Aigonn nickte nur. Er folgte der jungen Frau zwischen den Häusern hindurch. Sie wählten bewusst die engeren Wege zwischen Ställen und Viehpferchen, um den Schatten der Gebäude zu nutzen. Als sie ihn wieder verließen, leuchtete für einen Moment Lhenias rotes Haar im letzten Licht des Tages, als wäre sie entflammt. Ein fremdartiger Anblick, allein, weil Aigonn hätte glauben können, es wäre nichts passiert. Kein Krieg, kein Opfer, dieselbe Lhenia, die er immer gekannt und nie sonderlich gemocht hatte. Eine Illusion, einen Herzschlag lang.

Irgendwann blieb die junge Frau stehen und drehte sich wieder Aigonn zu. Die Stimmen hatten sich entfernt und stattdessen Platz gemacht für das leise Lied des Windes. Aigonn fröstelte unmerklich. Die Hitze des Tages war verschwunden. Erste Feuchtigkeit haftete auf dem Gras.

„Ich würde dir wirklich gerne sagen, was hier geschieht.“ Die Stimme der Frau hatte an Spannung verloren. Stattdessen wirkte sie erschöpft, so angreifbar, dass Aigonn sich dabei fast unwohl fühlte. „Aber ich kann es nicht. Ich hatte gehofft, du würdest mir behilflich sein, diese Frage zu beantworten, ganz egal wie!“

Aigonn schmunzelte witzlos. „Ich weiß nichts. Um mich herum geschehen Dinge nur, niemand erklärt mir, was sie bedeuten!“

Unvermutet begann die junge Frau zu lächeln, zügelte sich aber, um Aigonn nicht zu beleidigen. „Zu meiner Zeit hätten die Menschen dich einen Seher genannt. Du hast ein Gespür für die Wesen der Anderen Welt, wie kein Schamane es jemals vermögen würde. Doch die Geister treiben immer nur ihr Spiel mit dir. Du kannst sie sehen, mit ihnen sprechen, doch du durchdringst die Kräfte und Mächte nicht, von denen sie und wir alle zehren. Deshalb hast du keine Macht über sie.“

Aigonn stockte. Was auch immer er hatte sagen wollen, die Worte waren ihm entfallen. Er musste zweimal neu ansetzen, bevor er über die Lippen brachte: „Woher willst du das wissen?“

„Das kann ich sehen.“ Nun lächelte die junge Frau wieder so, wie sie es bei ihrer Begegnung an diesem Mittag getan hatte – wissend und schwer durchdringbar. „Die Geister dieser Welt umgeben dich immer, ständig, du scheinst sie anzuziehen. Eigentlich müsstest du es spüren können.“

Müsste er das? Auf einmal war Aigonn die Lust vergangen, über diese Dinge nachzudenken. Obwohl er nun Antworten erhielt – andere, als er erhofft hatte, aber Antworten –, sah er sich nicht im Stande dazu, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Vielleicht, weil er Dinge wissen würde, die er doch lieber nicht erfahren hätte. Ein Seher. Er kannte diesen Begriff aus den alten Sagen, die seine Mutter ihm früher erzählt hatte. Was Rowilan wohl dazu sagen würde?

„Du bist eine Schamanin gewesen, nicht wahr? Als du noch gelebt hast.“

Die junge Frau lächelte noch immer. Bei Aigonns Frage schien sich ihr Blick nach innen zu kehren, als ob sie nun in ihren eigenen Erinnerungen suchen müsste. „Ich glaube ja. Zumindest bei euch wäre ich es gewesen.“

Aigonn nickte. Das Zwielicht hatte die Schwelle zur Dunkelheit überschritten und alle Gestalten in schwarze Silhouetten verwandelt. Neben Orans Haus hatte man weitere Lagerfeuer entzündet, die nun wie Scheiterhaufen gen Himmel loderten.

Auf einmal hielt Aigonn inne. Neben den lauten, allmählich betrunken klingenden Stimmen der Feier schien eine weitere Stimme vom Wind herangetragen zu werden. Monotone, mehr geraunt denn gesungene Verse. Aigonn schauerte es unwillkürlich, je länger er sich darauf konzentrierte. Der Wind hatte aufgefrischt, doch trotz allem schien die Luft um Aigonn und die junge Frau immer stickiger zu werden, immer dünner. Er atmete schneller, kürzer. Sein Herz fügte sich in diesen Takt, trieb seinen Puls in die Höhe. Wie ein Sog schien es Aigonn herumzureißen.

Eine schier eiskalte Hand auf seinem nackten Unterarm zog ihn in die Wirklichkeit zurück. Aigonn musste dreimal die Augen öffnen und schließen, bis er erkannte, dass die junge Frau an ihn herangetreten war. Ihr Blick durchbohrte ihn, als sie Aigonn beschwor: „Oran hat wenig Nützliches über dich, Rowilan und die anderen Menschen des Dorfes erzählt. Doch was auch immer dieser Schamane für ein Mensch ist, wenn du nicht bald lernst, in die Geschehen um dich herum einzugreifen anstatt sie nur zu beobachten, wirst du schneller dein Leben verlieren, als es dir lieb ist.“

Damit wandte sie sich ab und machte einige Schritte in die Dunkelheit hinein; solange bis sie merkte, dass Aigonn ihr nicht folgte. „Nun komm! Oran wird seine Tochter bald vermissen!“

Aigonn folgte ihr schweigend. Einige Herzschläge vergingen, bevor die junge Frau, nun weniger bestimmend, einwarf: „Wer hält zu dieser Zeit Rituale im Wald ab? Dein Schamane?“

Er stutzte kurz. Aigonn musste gestehen, dass er diese Frage gar nicht beantworten konnte. Die Annahme der jungen Frau war nicht unwahrscheinlich – zumal er Rowilan an diesem Abend bisher nicht gesehen hatte. Warum – dafür wusste er spontan keinen Grund. Doch er glaubte nicht annähernd von sich zu wissen, was in Rowilans Gedankenwelt vor sich ging.

„Es scheint so zu sein“, war seine Antwort. „Warum, kann ich dir aber auch nicht sagen.“

Die junge Frau beließ es dabei. Als sie sich Orans Haus näherten, kamen ihnen bereits die ersten Dorfbewohner entgegen, die für diesen Abend heimkehren wollten. Aigonn ließ sich bewusst ein Stück zurückfallen, suchte Schutz in den Schatten der Häuser, doch recht Notiz nahm keiner von ihm. Kurz bevor sie den Lichtschein des ersten großen Lagerfeuers betrat, hielt er die junge Frau jedoch noch einmal zurück. Sein Atem ließ feine Haare flattern, als er ihr über die Schulter hauchte: „Kannst du mir nun deinen Namen verraten?“

„Nein.“ Sie sprach, ohne ihn anzusehen. Dann überquerte sie die flackernde Grenze und trat ins Licht.

Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle

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