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3. Vortrag.
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Dritter Vortrag.
Von da an, wo es heißt: „Johannes gibt Zeugnis von ihm“ usw. bis dahin: „Der eingeborene Sohn, der im Schoße des Vaters ist, der hat (ihn) verkündigt“. Joh. 1, 15―18.
1.
Die Gnade und Wahrheit, mit welcher erfüllt der eingeborene Sohn, unser Herr und Heiland Jesus Christus, den Heiligen erschien, von jener des Alten Testamentes zu unterscheiden, weil sie eine Sache des Neuen Testamentes ist, haben wir im Namen des Herrn unternommen und eurer Liebe versprochen. Seid also aufmerksam zugegen, damit, so viel ich fassen kann, Gott gebe, und ihr, so viel ihr zu fassen vermöget, höret. Es wird dann nur noch übrig sein, daß, wenn den in eure Herzen ausgestreuten Samen die Vögel nicht wegnehmen, noch die Dornen ersticken, noch die Hitze verbrennt, indem der Regen der täglichen Ermahnungen hinzukommt sowie eure guten Gedanken, wodurch das im Herzen geschieht, was auf dem Acker durch den Karst geschieht, daß nämlich die Erdscholle gebrochen und der Same zugedeckt wird und sprossen kann, ― (übrig wird sein), daß ihr Frucht bringet, an der der Ackersmann Freude und Vergnügen hat. Wenn wir aber trotz des guten Samens und des guten Regens keine Frucht, sondern Dornen hervorbringen, so wird man weder den Samen anklagen noch dem Regen eine Schuld beimessen können, sondern den Dornen wird das gebührende Feuer bereitet.
2.
Wir sind Menschen, und zwar Christen. Das glaube ich eurer Liebe nicht erst lange nachweisen zu müssen, und wenn wir Christen sind, dann gehören wir schon durch den Namen zu Christus. Sein Zeichen tragen wir an der Stirne, und wir werden uns dessen nicht schämen, wenn wir es auch im Herzen tragen. Sein Zeichen ist seine Erniedrigung. Durch einen Stern haben ihn die Weisen erkannt57, und es war dieses vom Herrn gegebene Zeichen himmlisch und glänzend; er wollte nicht, daß ein Stern auf der Stirne der Gläubigen sein Zeichen sei, sondern sein Kreuz (sollte es sein). Wo seine Erniedrigung hervortrat, da nahm seine Verherrlichung ihren Anfang; dort richtete er die Niedrigen empor, wohin er erniedrigt selbst hinabstieg. Wir gehören also zum Evangelium, wir gehören zum Neuen Bunde. „Das Gesetz ist uns durch Moses gegeben worden, Gnade und Wahrheit aber ist uns durch Christus geworden.“ Fragen wir den Apostel, und er sagt uns, daß wir nicht unter dem Gesetze sind, sondern unter der Gnade58. „Er sandte also seinen Sohn, geboren von einem Weibe, untergeben dem Gesetze, um die, welche unter dem Gesetze waren, zu erlösen, damit wir an Kindes Statt angenommen würden“59. Sehet also, dazu kam Christus, um die, welche unter dem Gesetze waren, zu erlösen, damit wir nicht mehr unter dem Gesetze wären, sondern unter der Gnade. Wer also hat das Gesetz gegeben? Jener hat das Gesetz gegeben, der auch die Gnade gegeben hat; aber das Gesetz sandte er durch einen Diener, mit der Gnade stieg er selbst hernieder. Und wie sind die Menschen unter das Gesetz gekommen? Dadurch, daß sie das Gesetz nicht erfüllten. Denn wer das Gesetz erfüllt, ist nicht unter dem Gesetze, sondern mit dem Gesetze; wer aber unter dem Gesetze ist, wird durch das Gesetzt nicht aufgerichtet, sondern gedrückt. Alle unter dem Gesetze stehenden Menschen also macht das Gesetz zu Schuldigen, und dazu ist es über ihrem Haupte, um die Sünden zu offenbaren, nicht sie hinwegzunehmen. Das Gesetz also befiehlt, der Geber des Gesetzes erbarmt sich in dem, was das Gesetz befiehlt. Indem die Menschen versuchten mit eigenen Kräften das zu erfüllen, was vom Gesetze vorgeschrieben ist, sind sie gerade durch ihr verwegenes und voreiliges Selbstvertrauen zu Fall gekommen und waren so nicht mit dem Gesetze, sondern sind unter das Gesetz geraten als Schuldige. Und weil sie mit eigenen Kräften das Gesetz nicht erfüllen konnten, haben sie, als Schuldige unter dem Gesetze stehend, die Hilfe des Befreiers angerufen; und die Anklage des Gesetzes bewirkte bei den Stolzen das Gefühl der Krankheit. Das Gefühl der Krankheit bei den Stolzen wurde zum Bekenntnis für die Demütigen. Schon bekennen die Kranken, daß sie krank sind; es möchte der Arzt kommen und die Kranken heilen.
3.
Wer ist der Arzt? Unser Herr Jesus Christus. Wer ist unser Herr Jesus Christus? Der, welcher auch von denen gesehen wurde, von welchen er gekreuzigt wurde; der, welcher ergriffen, mit Backenstreichen mißhandelt, gegeißelt, angespieen, mit Dornen gekrönt, ans Kreuz gehängt wurde, starb, mit einer Lanze verwundet, vom Kreuze abgenommen, ins Grab gelegt wurde. Eben der ist unser Herr Jesus Christus; eben der ist es, fürwahr, und er ist ganz der Arzt unserer Wunden, er, der Gekreuzigte, der verhöhnt wurde, bei dessen Kreuzigung die Verfolger das Haupt schüttelten und sagten: „Wenn er der Sohn Gottes ist, so steige er herab vom Kreuze“60; er ist ganz unser Arzt, er in der Tat. Warum hat er also den Spöttern nicht gezeigt, daß er der Sohn Gottes sei, um, wenn er sich auch am Kreuze erhöhen ließ, wenigstens bei den Worten: „Wenn er der Sohn Gottes ist, steige er herab vom Kreuze“, jetzt herabzusteigen und ihnen zu zeigen, daß er der wahre Sohn Gottes sei, den sie zu verhöhnen gewagt hatten? Er wollte nicht. Warum wollte er nicht? Etwa weil er nicht konnte? Er konnte sicher. Denn was ist mehr, vom Kreuze herabzusteigen oder vom Grabe auferstehen? Doch er hat die Spötter geduldet, denn er hat das Kreuz nicht zum Erweise der Macht, sondern zur Probe der Geduld auf sich genommen. Dort hat er deine Wunden geheilt, wo er die seinigen so lange ertrug; dort hat er dich vom ewigen Tode gerettet, wo er zeitlich61 zu sterben sich würdigte. Er starb, oder ist in ihm der Tod gestorben? Was ist das für ein Tod, der den Tod besiegte?
4.
Indes ist das unser* ganzer* Herr Jesus Christus, der gesehen, festgenommen und gekreuzigt wurde? Ist er ganz nur dies? Er ist es zwar, aber der Ganze ist nicht das, was die Juden sahen; dies ist nicht der ganze Christus. Und was ist er? „Im Anfang war das Wort“. In welchem Anfang? „Und das Wort war bei Gott“. Und wie beschaffen ist das Wort? „Und Gott war das Wort“. Ist etwa dieses Wort von Gott gemacht? Nein. Denn „dieses war im Anfang bei Gott“. Wie nun? Ist das andere, was Gott gemacht hat, nicht ähnlich dem Worte? Nein; denn „alles ist durch dasselbe geworden, und ohne dasselbe ist nichts geworden“. Wie ist durch dasselbe alles geworden? Weil „was geworden ist, in ihm Leben war“, und bevor es wurde, war es Leben. Was geworden ist, ist nicht Leben; allein in der Idee d. h. in der Weisheit Gottes war es, noch ehe es wurde, Leben. Was geworden ist, ist vergangen; was in der Weisheit Gottes ist, kann nicht vergehen. Leben also war in ihm, was geworden ist. Und was für ein Leben? Denn auch die Seele ist das Leben des Körpers; unser Leib hat sein Leben, und wenn er es verliert, ist dies der Tod des Leibes. War also jenes Leben so beschaffen? Nein; sondern „das Leben war das Licht der Menschen“. Etwa das Licht der Tiere? Denn dieses (gewöhnliche) Licht ist für Menschen und Tiere. Es gibt aber ein (besonderes) Licht der Menschen. Sehen wir zu, wie die Menschen von den Tieren sich unterscheiden, und dann werden wir einsehen, was das Licht der Menschen sei. Du unterscheidest dich vom Tiere nur durch den Verstand. Rühme dich in nichts anderem. Tust du dir etwas zugute auf deine Stärke? Du wirst von den Tieren übertroffen. Tust du dir etwas zugute auf Schnelligkeit? Du wirst von den Fliegen übertroffen. Tust du dir etwas zugute auf Schönheit? Wie schön sind die Pfauenfedern? Wodurch bist du also edler? Durch das Ebenbild Gottes. Wo ist das Ebenbild Gottes? Im Geiste, im Verstande. Wenn du also deshalb edler bist als das Tier, weil du einen Verstand hast, womit du erkennst, was das Tier nicht erkennen kann, dadurch aber Mensch, daß du edler bist als der Tier, so ist das Licht der Menschen das Licht der Geister. Das Licht der Geister ist über den Geistern und übertrifft alle Geister. Das war jenes Leben, durch welches alles geworden ist.
5.
Wo war es? Hier war es. War es etwa beim Vater und hier nicht? Oder, was der Wahrheit näher kommt, war es beim Vater und zugleich hier? Wenn es also hier war, warum wurde es nicht gesehen? Weil „das Licht in der Finsternis leuchtet, und die Finsternis hat es nicht begriffen“. O Menschen, seid doch nicht Finsternis, seid nicht ungläubig, ungerecht, frevelhaft, raubgierig, geizig, Liebhaber der Welt: denn* das* ist die Finsternis. Das Licht ist nicht abwesend, aber ihr seid abwesend vom Lichte. Der Blinde an der Sonne hat die Sonne gegenwärtig, aber er ist der Sonne abwesend. Seid also nicht Finsternis. Denn das ist eben die Gnade, von der ich reden will, daß wir nicht mehr Finsternis seien, und der Apostel zu uns sagen könne: „Ihr waret einst Finsternis, jetzt aber Licht im Herrn“62. Weil also das Licht der Menschen d. i. der Geister nicht gesehen wurde, war es nötig, daß ein Mensch von dem Lichte Zeugnis gab, nicht einer, der selbst Finsternis war, sondern ein erleuchteter Mensch. Aber wenn auch erleuchtet, war er doch nicht selbst das Licht, „sondern Zeugnis sollte er geben vom Lichte“. Denn „er war nicht das Licht“. Und welches war das Licht? „Es war das wahre Licht, welches jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt.“ Und wo war dieses? „Es war in dieser Welt“. Und wie „in dieser Welt“? Ist etwa, wie das Licht der Sonne, des Mondes, der Lampen, so auch jenes Licht in der Welt? Nein. Denn „die Welt ist durch ihn geworden, und die Welt hat ihn nicht erkannt“, d. h. „das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht begriffen“. Die Welt ist nämlich die Finsternis, denn die Liebhaber der Welt sind die Welt. Hat denn das Geschöpf seinen Schöpfer nicht anerkannt? Zeugnis gab der Himmel durch den Stern63; Zeugnis gab das Meer, es trug den Herrn, da er auf ihm wandelte64; Zeugnis gaben die Winde, sie ruhten auf sein Geheiß65; Zeugnis gab die Erde, sie ward erschüttert bei seiner Kreuzigung66. Wenn dies alles Zeugnis gab, wie soll dann die Welt ihn nicht erkannt haben, außer eben deshalb, weil unter der Welt die Liebhaber der Welt zu verstehen sind, die mit dem Herzen in der Welt wohnen? Und schlecht ist die Welt, weil die Bewohner der Welt schlecht sind, wie ein Haus schlecht ist, nicht die Wände, sondern die Bewohner.
6.
„Er kam in sein Eigentum“ d. i. er kam in das Seinige, „und die Seinigen nahmen ihn nicht auf“. Was für eine Hoffnung ist also vorhanden als die, daß er denen, „die ihn aufnahmen, die Macht gab, Kinder Gottes zu werden“. Wenn sie Kinder sind, werden sie geboren; wenn sie geboren werden, wie werden sie dann geboren? Nicht aus dem Fleische, „nicht aus dem Geblüte, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott sind sie geboren“. Sie mögen sich also freuen, daß sie aus Gott geboren sind; sie mögen sich rühmen, daß sie Gott angehören; sie mögen die Versicherung hinnehmen, daß sie aus Gott geboren sind: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Wenn das Wort nicht davor zurückschreckte, von einem Menschen geboren zu werden, sollen dann die Menschen erröten, von Gott geboren zu werden? Weil er aber dies tat, heilte er uns; weil er uns heilte, sehen wir. Denn daß „das Wort Fleisch geworden ist und unter und gewohnt hat“, ist für uns zum Heilmittel geworden, damit wir, die wir durch Erde geblendet wurden, mit Erde geheilt würden67, und geheilt, was sehen sollten? „Und wir haben“, sagt Johannes, „seine Herrlichkeit gesehen, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit“.
7.
„Johannes gibt Zeugnis von ihm, ruft und spricht: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Der nach mir kommt, ist mir zuvorgekommen.“ Er kam nach mir und ging mir voraus. Was heißt das: „Er ist mir zuvorgekommen“? Er ging mir voran; nicht: er ist geworden, bevor ich geworden bin, sondern er ist mir vorgesetzt worden;* das* heißt: er ist mir zuvorgekommen. Warum ist er dir zuvorgekommen, obwohl er nach dir kam? „Weil er vor mir war.“ Vor dir, o Johannes? Was soll das Großes sein, wenn er vor dir war? Gut, daß du ihm Zeugnis gibst. Hören wir ihn selbst, wie er sagt: „Ehe Abraham war, bin ich“68. Allein auch Abraham ist mitten im Menschengeschlecht geboren, viele waren vor ihm, viele nach ihm. Höre, was der Vater zum Sohne sagt: „Vor dem Morgenstern habe ich dich gezeugt“69. Der vor dem Morgenstern gezeugt ist, erleuchtet selbst alle. Es hieß nämlich einer „Morgenstern“, welcher fiel; denn er war ein Engel und ist ein Teufel geworden; von ihm sagt die Schrift: „Der Morgenstern, der frühe aufging, ist gefallen“70. Warum Morgenstern (lucifer)? Weil er, erleuchtet, hell war. Warum aber ist er dunkel geworden? Weil er in der Wahrheit nicht bestand71. Also jener war vor dem Morgenstern, vor jedem Erleuchteten, da ja vor jedem Erleuchteten der sein muß, von welchem alle erleuchtet werden, die erleuchtet werden können.
8.
Darum folgt: „Und von seiner Fülle haben wir alle empfangen“. Was habt ihr empfangen? „Und zwar Gnade um Gnade.“ So nämlich lauten die Worte des Evangeliums, wenn man sie mit den griechischen Abschriften vergleicht. Er sagt nicht: Und von seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade um Gnade, sondern er sagt so: „Und von seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade“ d. h. haben wir empfangen, als ob er gewollt hätte, wir sollten es so verstehen, daß wir irgend was von seiner Fülle empfangen hätten und überdies Gnade um Gnade. Wir haben nämlich von seiner Fülle erstens Gnade empfangen und dann wieder Gnade, eine Gnade nach der andern. Welche Gnade haben wir zuerst empfangen? Den Glauben. Im Glauben wandelnd wandeln wir in der Gnade. Denn woher sollen wir das verdient haben? Durch welche vorausgegangene Verdienste auf unserer Seite? Es mag sich einer nur nicht streicheln, sondern in sein Gewissen einkehren, die verborgenen Winkel seiner Gedanken durchsuchen, die Reihe seiner Handlungen betrachten; er schaue nicht hin auf das, was er ist, wenn er bereits etwas ist, sondern was er gewesen ist, um dann etwas zu sein, so wird er finden, daß er nur Strafe verdient habe. Wenn du also der Strafe würdig warst, und es kam jener, nicht um die Sünden zu bestrafen, sondern die Sünden zu vergeben, so ist dir Gnade verliehen, nicht Lohn vergolten worden. Woher hat die Gnade (gratia) ihren Namen? Weil sie umsonst (gratis) verliehen wird. Denn nicht durch vorausgegangene Verdienste hast du erkauft, was du empfangen hast. Diese Gnade also empfing der Sünder zuerst, daß ihm seine Sünden vergeben würden. Was hat er denn verdient? Er befrage die Gerechtigkeit, er findet Strafe; er befrage die Barmherzigkeit, er findet Gnade. Aber das hat Gott auch verheißen durch die Propheten; so nun hat er, da er kam zu geben, was er verheißen hatte, nicht bloß Gnade gegeben, sondern auch Wahrheit. Wie ist Wahrheit verliehen worden? Weil erfüllt wurde, was verheißen wurde.
9.
Was ist also das: „Gnade um Gnade“? Durch den Glauben verdienen wir Gott, und da wir nicht würdig waren, daß uns die Sünden vergeben würden, so heißt es Gnade deshalb, weil wir ein so großes Geschenk unverdienterweise empfangen haben. Was ist Gnade? Was umsonst verliehen wird. Was heißt „umsonst verliehen“? Was geschenkt, nicht vergolten wird. Wenn es geschuldet wurde, ist Lohn vergolten, nicht Gnade geschenkt worden; wenn es aber wahrhaft geschuldet wurde, dann bist du gut gewesen; wenn du aber wie es wahr ist, schlecht gewesen bist, jedoch an den geglaubt hast, der den Ungerechten rechtfertigt72 (was heißt, er rechtfertigt den Ungerechten? er macht den Ungerechten gerecht), so bedenke, was dir durch das Gesetz bevorstehen mußte, und was du durch die Gnade erlangt hast. Im Besitze der Gnade des Glaubens aber wirst du gerecht sein aus dem Glauben, denn „der Gerechte lebt aus dem Glauben“73, und wirst durch ein Leben nach dem Glauben Gott verdienen. Wenn du aber durch ein Leben nach dem Glauben Gott verdient hast, wirst du als Lohn die Unsterblichkeit und das ewige Leben empfangen. Auch das ist Gnade. Denn für welches Verdienst empfängst du das ewige Leben? Für die Gnade. Denn wenn der Glaube Gnade ist, und das ewige Leben gleichsam der Lohn des Glaubens ist, so scheint zwar Gott das ewige Leben als etwas Schuldiges zu erstatten (wem schuldig? dem Gläubigen, weil er es durch den Glauben verdient hat), allein weil der Glaube selbst Gnade ist, so ist auch das ewige Leben Gnade um Gnade.
10.
Höre den Apostel Paulus, wo er die Gnade bekennt und hernach den Lohn begehrt. Welches ist das Bekenntnis der Gnade bei Paulus? „Früher war ich ein Lästerer, Verfolger und Schmäher; aber ich habe“, sagt er, „Barmherzigkeit erlangt“74. Unwürdig nennt er sich, die Gnade zu erlangen, dennoch habe er sie erlangt, nicht durch seine Verdienste, sondern durch die Barmherzigkeit Gottes. Höre ihn, wo er bereits den Lohn fordert, obwohl er zuerst die Gnade unverdient empfangen hatte: „Denn ich“, sagt er, „ werde bereits geopfert, und die Zeit meiner Auflösung steht bevor. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt; im übrigen ist mir die Krone der Gerechtigkeit hinterlegt“. Schon begehrt er den Lohn, schon verlangt er das ihm Gebührende. Denn siehe nur das Folgende: „Die mir der Herr geben wird an jenem Tage, der gerechte Richter“75. Um vorher die Gnade zu erlangen, hatte er den barmherzigen Vater nötig, um den Lohn der Gnade zu erhalten, den gerechten Richter. Der den Gottlosen nicht verdammte, wird der den Gläubigen verdammen? Und doch, wenn du wohl überlegst, so hat Gott zuerst den Glauben gegeben, womit du ihn (Gott) verdientest; denn nicht durch das Deinige hast du verdient, daß dir etwas gebührte. Wenn er also nachher den Lohn der Unsterblichkeit erteilt, so krönt er seine Gaben, nicht deine Verdienste. Also Brüder, „wir alle haben von seiner Fülle empfangen“; von der Fülle seiner Barmherzigkeit, von dem Überflusse seiner Güte haben wir empfangen. Was? Nachlassung der Sünden, damit wir gerechtfertigt würden aus dem Glauben. Und was weiter noch? „Gnade um Gnade“, d. h. für die Gnade, in welcher wir aus dem Glauben leben, sollen wir eine andere erhalten, jedoch eben nur Gnade. Denn wenn ich sage, auch das sei geschuldet, so schreibe ich mir etwas zu, als ob ich ein Recht darauf hätte. Der Herr krönt aber in uns nur die Gaben seiner Barmherzigkeit, jedoch nur, wenn wir in der Gnade, die wir zuerst empfangen haben, beharrlich wandeln.
11.
„Das Gesetz nämlich ist durch Moses gegeben worden“, jenes Gesetz, welches die Schuldigen festhielt. Denn was sagt der Apostel? „Das Gesetz kam dazwischen, daß die Sünde zunehme“76. Dies war für die Stolzen von Nutzen, daß die Sünde zunahm; denn viel maßen sie sich bei und schrieben gleichsam ihren Kräften viel zu; und sie hätten die Gerechtigkeit nicht erfüllen können, wenn sie der nicht unterstützt hätte, der den Befehl gegeben. Da Gott ihren Stolz bändigen wollte, gab er das Gesetz, als wollte er sagen: Sehet, erfüllet es, damit ihr nicht glaubet, es gebe keinen Befehlenden. Es fehlt nicht der Befehlende, sondern es fehlt der Vollzieher.
12.
Wenn also der Vollzieher fehlt, warum vollzieht er es nicht? Weil er geboren ist mit dem Ableger (tradux) der Sünde und des Todes. Von Adam geboren, ging auf ihn über, was dort empfangen wurde. Der erste Mensch fiel, und alle, welche von ihm geboren sind, zogen sich durch ihn die Begierlichkeit des Fleisches zu. Es mußte ein anderer Mensch geboren werden, der keine Begierlichkeit an sich hatte. Mensch und Mensch, der eine zum Tod, der andere zum Leben. So sagt der Apostel: „Weil durch einen Menschen der Tod, darum auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten“. Durch welchen Menschen der Tod, und durch welchen Menschen die Auferstehung der Toten? Übereile nichts! Er fährt fort und sagt: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden“77. Wer gehört zu Adam? Alle, welche von Adam geboren sind. Welche zu Christus? Alle, welche durch Christus geboren sind. Warum sind alle in der Sünde? Weil keiner geboren ist außerhalb Adams. Daß sie aber aus Adam geboren wurden, geschah notwendig infolge der Verurteilung; durch Christus geboren werden, hängt vom Willen und der Gnade ab. Nicht gezwungen werden die Menschen, durch Christus geboren zu werden; dagegen nicht weil sie wollten, sind sie aus Adam geboren. Alle jedoch, die aus Adam geboren werden, sind mit Sünde behaftete Sünder; alle, die durch Christus geboren werden, sind gerechtfertigt und gerecht, nicht in sich, sondern in jenem. Denn in sich, wenn du fragst, gehören sie zu Adam; in jenem, wenn du fragst, gehören sie zu Christus78. Warum? Weil dieser, das Haupt, unser Herr Jesus Christus, nicht mit dem Ableger der Sünde kam, wenn er auch mit sterblichem Fleische kam.
13.
Der Tod war die Strafe der Sünden; beim Herrn war er eine Gabe der Barmherzigkeit, keine Strafe der Sünde. Denn der Herr hatte nichts, weshalb er zu sterben verdiente. Er selbst sagt: „Siehe, es kommt der Fürst dieser Welt, und er findet an mir nichts“. Warum also stirbst du? Aber „damit alle wissen, daß ich den Willen meines Vaters tue, so stehet auf, lasset uns von hinnen gehen“79. Er hatte nichts, weshalb er sterben sollte, und er ist doch gestorben; du hast Grund zu sterben, und weigerst dich zu sterben? Weigere dich nicht im Hinblick auf deine Schuld das zu erdulden, was jener zu erdulden sich würdigte, um dich vom ewigen Tode zu befreien. Ein Mensch und ein Mensch; doch jener nur Mensch, dieser Gottmensch; jener ein Mensch der Sünde, dieser ein Mensch der Gerechtigkeit. Du bist in Adam gestorben, stehe auf in Christus; denn beides bist du schuldig. Schon glaubst du an Christus, doch mußt du noch bezahlen, was du schuldig bist von Adam her. Aber nicht für immer wird dich das Band der Sünde fesseln, denn deinen ewigen Tod hat der zeitliche Tod deines Herrn vernichtet. Das ist Gnade, meine Brüder, das ist auch Wahrheit, weil sie verheißen und gewährt ward.
14.
Diese (die Gnade) gab es nicht im Alten Bunde80, weil das Gesetz drohte, nicht half; befahl, nicht heilte; die Krankheit zeigte, nicht wegnahm; aber es bereitete vor auf den Arzt, der mit Gnade und Wahrheit kommen sollte, gleichwie ein Arzt zu einem, den er heilen will, zuerst seinen Diener schickt, damit er jenen gebunden finde. Er war nicht gesund, er wollte nicht geheilt werden, und damit er nicht geheilt würde, rühmte er sich, er sei gesund. Das Gesetz wurde geschickt, es band ihn; er findet sich schuldig, schon schreit er wegen des Bandes. Es kommt der Herr, er heilt mit etwas bitteren und scharfen Arzneimitteln; er sagt nämlich zum Kranken: trage; er sagt: dulde; er sagt: liebe nicht die Welt, habe Geduld; es heile dich das Feuer der Enthaltsamkeit, das Schwert der Verfolgungen sollen deine Wunden aushalten. Du entsetztest dich, obwohl gebunden; jener, frei und ungebunden, trinkt, was er dir gab; er litt zuerst, um dich zu trösten, als wollte er sagen: Was du für dich zu leiden fürchtest, das leide ich zuerst für dich. Das ist Gnade und zwar große Gnade. Wer preist sie gebührend?
15.
Von der Niedrigkeit Christi rede ich, meine Brüder. Die Hoheit Christi und die Gottheit Christi ― wer kann sie aussprechen? Um von der Erniedrigung Christi in der Erklärung und Darlegung auf jede Weise zu sprechen, reichen unsere Kräfte nicht aus, ja wir sind zu schwach; wir überlassen das Ganze den Denkenden, denen, die bloß hören, können wir es nicht genügend darlegen. Bedenket die Erniedrigung Christi. Aber wer, fragst du, kann sie uns erklären, wenn du es nicht sagst? Er soll es dir innerlich sagen. Besser sagt das der, welcher innen wohnt, als der, welcher außerhalb spricht. Der möge euch die Gnade seiner Erniedrigung zeigen, der in euren Herzen zu wohnen angefangen hat. Wenn wir nun schon zur Erklärung und Darstellung seiner Niedrigkeit nicht stark genug sind, wer mag dann seine Hoheit darlegen? Wenn „das Fleisch gewordene Wort“ uns in Verwirrung bringt, wer wird dann erklären: „Im Anfang war das Wort“. Bewahret also, Brüder, einen festen Glauben.
16.
„Das Gesetz ward durch Moses gegeben, Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Durch einen Diener ist das Gesetz gegeben worden, es erzeugte Schuldige; durch den Herrscher ist die Verzeihung gewährt worden, er hat die Schuldigen befreit. „Das Gesetz ist durch Moses gegeben worden.“ Es schreibe sich der Diener nicht mehr zu, als was durch ihn geschah. Erwählt zu einem hohen Amte, als getreu im Hause, aber doch nur ein Diener, kann er gemäß dem Gesetze handeln, von der Schuld des Gesetzes kann er nicht lösen. Also „das Gesetz ward durch Moses gegeben, Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“
17.
Und damit nicht etwa einer sage: Ist nicht auch Gnade und Wahrheit geworden durch Moses, der Gott gesehen hat? fügte er sogleich hinzu: „Gott hat niemand je gesehen.“ Und wie wurde dem Moses Gott bekannt? Weil der Herr sich seinem Diener offenbarte. Welcher Herr? Christus selbst, der das Gesetz durch einen Diener vorausgeschickt hat, um dann selbst zu kommen mit Gnade und Wahrheit. Denn „Gott hat niemand je gesehen“. Und wie ist er jenem Diener, soweit er es fassen konnte, erschienen? Aber „der eingeborene Sohn, heißt es, der im Busen des Vaters ist, der hat es kundgetan“. Was heißt das: „Im Busen des Vaters“? Im Verborgenen des Vaters. Denn Gott hat nicht einen Busen81, wie wir an den Kleidern einen solchen haben, noch auch darf man meinen, er sitze so wie wir, noch ist er etwa umgürtet, daß er einen Busen hat, sondern weil unser Busen inwendig ist, so heißt das Verborgene des Vaters der Busen des Vaters. Der den Vater im Verborgenen des Vaters kennt, der hat es kundgetan. Denn „Gott hat niemand je gesehen“. Er also kam und tat kund, was er gesehen hat. Was sah Moses? Moses sah eine Wolke, er sah einen Engel, er sah Feuer82; das sind lauter Geschöpfe; sie waren ein Bild ihres Herrn, gewährten aber nicht die Gegenwart des Herrn selbst. Denn deutlich heißt es im Gesetze: „Und es sprach Moses mit dem Herrn von Angesicht zu Angesicht wie ein Freund mit seinem Freunde“. Du fährst weiter in der Schrift und findest, wie Moses sagt: „Wenn ich Gnade gefunden habe vor deinem Angesichte, so zeige dich mir offen, damit ich dich sehe“. Und es genügt nicht, daß er so redete, er erhielt auch die Antwort: „Du kannst mein Angesicht nicht sehen“83. Es sprach also, meine Brüder, mit Moses ein Engel, der das Bild des Herrn trug, und all das, was dort durch den Engel geschah, verhieß die zukünftige Gnade und Wahrheit. Die das Gesetz recht erforschen, wissen es, und da es am Platze ist, daß auch wir etwas davon reden, so viel der Herr offenbart, so wollen wir es eurer Liebe nicht verschweigen.
18.
Dies aber sollt ihr wissen, daß alles, was körperlich gesehen wurde, nicht die Substanz Gottes war. Denn jenes sehen wir mit den Augen des Fleisches, wie aber wird die Substanz Gottes gesehen? Frage das Evangelium: „Selig sind, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott anschauen“84. Es gab Menschen85, welche, durch die Eitelkeit ihres Herzens getäuscht, sagten, der Vater sei unsichtbar, der Sohn aber sichtbar. Wie sichtbar? Wenn durch das Fleisch, da er Fleisch annahm, so ist es ganz klar. Denn von jenen, welche das Fleisch Christi sahen, haben die einen an ihn geglaubt, die anderen ihn gekreuzigt, und die an ihn geglaubt haben, wurden nach seiner Kreuzigung schwankend, und wenn sie nach der Auferstehung das Fleisch nicht berührt hätten, so würde der Glaube nicht zu ihnen zurückgekehrt sein. Wenn also der Sohn wegen des Fleisches sichtbar ist, so geben auch wir das zu, wie es denn katholischer Glaube ist; wenn aber vor dem Fleische, wie jene sagen, d. h. vor seiner Menschwerdung, so reden sie sehr albern und irren sehr. Denn jene sichtbaren Dinge sind geschehen auf körperliche Weise durch das Geschöpf, damit in ihnen ein Sinnbild gezeigt würde; gewiß wurde nicht die Substanz (Gottes) selbst gezeigt und kundgegeben. Möge eure Liebe als bescheidenen Beweis dies beachten: Die Weisheit Gottes kann mit Augen nicht gesehen werden. Brüder, wenn Christus die Weisheit Gottes und die Kraft Gottes ist86, wenn Christus das Wort Gottes ist, das Wort des Menschen aber87 mit Augen nicht gesehen werden kann, kann dann das Wort Gottes so gesehen werden?
19.
Vertreibet also aus euren Herzen fleischliche Gedanken, damit ihr in Wahrheit unter der Gnade seid, damit ihr zum Neuen Testamente gehöret. Deshalb wird das ewige Leben verheißen im Neuen Bunde. Leset das Alte Testament und sehet, wie dem noch fleischlichen Volke dasselbe befohlen wurde wie uns. Denn einen Gott zu verehren wird auch uns geboten. „Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht eitel nennen“ wird auch uns geboten ― das zweite Gebot. „Du sollst den Sabbat beobachten“ wird uns noch mehr geboten, weil uns die geistige Beobachtung geboten wird. Denn die Juden beobachteten den Tag des Sabbats knechtisch, zur Schwelgerei, zur Trunkenheit. Um wieviel besser würden ihre Frauen Wollarbeit verrichten, als auf den Söllern tanzen. Es sei ferne, Brüder, daß wir sagen, sie beobachteten den Sabbat. Geistig beobachtet den Sabbat der Christ, indem er sich von knechtlicher Arbeit enthält. Denn was heißt sich von knechtlicher Arbeit enthalten? Von der Sünde sich enthalten. Wie beweisen wir das? Frage den Herrn: „Jeder, der Sünde tut, ist ein Knecht der Sünde“88. Also wird uns auch geistig die Beobachtung des Sabbats geboten. Ferner werden alle anderen Gebote uns noch mehr befohlen und deren Vollziehung uns eingeschärft: „Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, ehre Vater und Mutter, du sollst deines Nächsten Gut nicht begehren, du sollst deines Nächsten Weib nicht begehren“89. Werden alle diese Dinge nicht auch uns geboten? Doch frage nach dem Lohne und du wirst finden, daß es dort heißt: „Damit die Feinde vertrieben werden vor deinem Angesichte und ihr das Land erhaltet, welches Gott euren Vätern verheißen hat“90. Weil sie das Unsichtbare nicht fassen konnten, wurden sie durch Sichtbares gehalten. Warum wurden sie gehalten? Damit sie nicht gänzlich zugrunde gingen und zu den Götzen abfielen. Denn sie taten dies wirklich, meine Brüder, wie zu lesen ist, uneingedenk der so großen Wunder, welche Gott vor ihren Augen wirkte. Das Meer teilte sich; ein Weg entstand mitten in den Fluten, ihre nachfolgenden Feinde wurden durch dieselben Gewässer begraben, durch welche sie hindurchgingen91, und als Moses, der Mann Gottes, aus ihren Augen weggegangen war, verlangten sie ein Götzenbild und sagten: „Mach uns Götter, die uns vorangehen, denn jener Mann hat uns verlassen“92. Ihre ganze Hoffnung beruhte auf einem Menschen, nicht auf Gott. Siehe, der Mann starb; ist etwa auch Gott gestorben, der sie aus dem Lande Ägypten befreit hatte? Und als sie sich das Bild eines Kalbes gemacht hatten, beteten sie es an und sagten: „ Das sind deine Götter, Israel, welche dich aus dem Lande Ägypten befreit haben“. Wie schnell haben sie eine so offenbare Gnade vergessen? Durch welche Mittel also sollte ein solches Volk gehalten werden, als eben durch fleischliche Verheißungen?
20.
Dasselbe wird dort im Dekalog des Gesetzes befohlen wie auch uns, aber es wird nicht dasselbe verheißen wie uns. Was wird uns verheißen? Das ewige Leben. „Dies ist das ewige Leben, daß sie dich erkennen, den einzigen wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus“93. Die Erkenntnis Gottes wird verheißen; das ist Gnade um Gnade. Brüder, jetzt glauben wir, nicht schauen wir; der Lohn für diesen Glauben wird sein, daß wir schauen, was wir glauben. Das wußten die Propheten, aber es war verborgen, bevor es kam. Denn ein seufzender Liebhaber sagt in den Psalmen: „Eines hab’ ich vom Herrn begehrt, das will ich suchen“. Du fragst, was er begehrt. Denn vielleicht begehrt er ein Land, das von Milch und Honig fließt in fleischlichem Sinne, obwohl es geistig zu suchen und zu verlangen ist; oder er begehrt vielleicht die Unterwerfung seiner Feinde oder den Tod seiner Widersacher oder Reiche und Güter dieser Welt. Er brennt ja vor Liebe und seufzt viel und glüht und schmachtet. Sehen wir zu, was er begehrt. „Eines hab’ ich vom Herrn begehrt, das will ich suchen.“ Was ist das, was er sucht? „Daß ich wohne“, sagt er, „im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens.“ Und denke dir, du wohnest wirklich im Haus des Herrn, worin wird dort deine Freude bestehen: „Daß ich betrachte“, sagt er, „die Wonne des Herrn“94.
21.
Meine Brüder, warum rufet ihr, warum frohlocket ihr95, warum liebet ihr, als weil dort der Lichtquell dieser Liebe ist? Was ersehnt ihr, frag’ ich euch? Kann es mit Augen gesehen werden, kann es berührt werden? Ist es eine Schönheit, welche die Augen ergötzt? Sind nicht die Märtyrer in hohem Grade geliebt worden, und wenn wir ihrer gedenken, brennen wir nicht vor Liebe? Was lieben wir an ihnen, Brüder? Die von den vielen Tieren zerfleischten Glieder? Was ist häßlicher, wenn du die Augen des Fleisches fragst? was schöner, wenn du die Augen des Herzens fragst? Was hältst du von einem sehr schönen Jüngling, der ein Dieb ist? Wie entsetzen sich deine Augen? Entsetzen sich etwa die Augen des Fleisches? Wenn du sie fragst, nichts ist schöner gebaut, nichts regelmäßiger als jener Leib; das Ebenmaß der Glieder und der Schmelz der Farbe reizt die Augen; und doch, wenn du hörst, daß er ein Dieb ist, bebst du im Geiste vor dem Menschen zurück. Du siehst anderseits einen gebückten Greis, der sich auf einen Stock stützt, sich kaum bewegen kann, von Runzeln überall durchfurcht ist; was siehst du da, was das Auge erfreuen könnte? Du hörst aber, daß er gerecht ist; die liebst ihn, du schätzest ihn hoch. Solche Belohnungen sind uns verheißen, meine Brüder; so etwas liebet, nach einem solchen Reiche verlanget, nach einem solchen Vaterlande sehnet euch, wenn ihr zu dem gelangen wollt, womit unser Herr kam, d. i. zu Gnade und Wahrheit. Wenn du aber körperliche Belohnungen von Gott begehrst, dann bist du noch unter dem Gesetze und darum wirst du eben dieses Gesetz nicht erfüllen. Denn wenn du siehst, daß diese zeitlichen Güter in Überfluß vorhanden sind bei jenen, die Gott beleidigen, dann werden deine Schritte unsicher und du sagst dir: Siehe, ich verehre Gott, täglich gehe ich in die Kirche, die Knie sind mir abgerieben vom Beten, und ich bin immer krank; andere morden, rauben, und sie frohlocken und leben im Überfluß, es geht ihnen gut. Solche Dinge also begehrtest du von Gott? Du gehörtest doch sicherlich zur Gnade. Wenn Gott dir die Gnade deshalb gab, weil er sie umsonst gab, so liebe ihn auch umsonst. Liebe Gott nicht um Lohn, er selbst sei dein Lohn. Es spreche deine Seele: „Eines habe ich vom Herrn begehrt, dies will ich suchen, daß ich wohne im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens, zu betrachten die Wonne des Herrn“. Fürchte nicht, daß du Überdruß daran bekommst; die Wonne an jener Schönheit wird von solcher Art sein, daß sie dir immer gegenwärtig ist und du nie satt wirst, oder vielmehr, daß du immer satt bist und niemals satt wirst. Denn sage ich, daß du nicht statt wirst, dann wird Hunger eintreten; sage ich aber, daß du satt wirst, dann muß ich Überdruß befürchten. Wo nun aber weder Überfluß noch Hunger sein wird, wie soll ich das nennen? Ich weiß es nicht; aber Gott hat, was er denjenigen verleiht, die nicht wissen, wie sie es nennen sollen, und glauben, daß sie es erlangen.