Читать книгу Nicolae: An der Quelle - Band 7 - Aurelia L. Porter - Страница 10

Оглавление

AUS JUDITHS TAGEBUCH

189 … ? (leider unleserlich, da die Tinte verwischt ist, doch offensichtlich zu einem deutlich späteren Zeitpunkt notiert als die Handlung)

Mein Weg zum Ziel war beschwerlich und schmerzhaft. Ein unüberwindbares Hindernis stand mir im Weg: ich selbst!

Nach Edwards Tod hatte ich den Drang verspürt, zu meiner Familie zurückzukehren. Doch es blieb mir zunächst verwehrt. Ich war zum ungünstigsten Zeitpunkt nach Rumänien zurückgekommen.

In Bukarest wurde ich in eine schicke möblierte Wohnung nahe dem Stadtpalast einquartiert, so lange die Stadtvilla für mich renoviert wurde. Dadurch blieb ich außen vor und bekam von den jüngsten Ereignissen und internen Familienangelegenheiten kaum etwas mit. Es kränkte mich, dass ich von allem ferngehalten wurde, als ginge es mich nichts mehr an, als wäre ich nur eine entfernte Verwandte, die zu Besuch gekommen war und irgendwo beherbergt werden musste – nach allem, was ich zusammen mit dieser Familie durchgestanden hatte.

Was blieb mir anderes übrig, als geduldig in meiner neuen Bleibe auszuharren? Immer mehr versank ich in Selbstzweifel. Sollte ich mich in allem so sehr getäuscht haben? Hatte ich mir die starken Bande nur eingebildet? War ich aus purer Trauer einer Träumerei erlegen oder einem Wunschbild aufgesessen? War ich, wie einst, einfach nur die englische Tante?

Wie hätte ich wissen sollen, wie es in seinem Herzen aussah?

Er führte mich gelegentlich aus, wirkte aber trotz seines charmanten Gebarens angespannt und mit den Gedanken woanders. Meinen Nachfragen wich er geschickt aus.

Meist verabschiedete er mich mit einem galanten Handkuss auf offener Straße. Im nächsten Augenblick sah ich nur noch seinem Schatten in der abfahrenden Kutsche hinterher. Wie sehr hätte ich mir zu jener Zeit gewünscht, dass er mich wenigstens einmal bis nach oben vor meine Wohnungstür begleitet …

Ich spürte keine Nähe mehr, keine Verbundenheit, was mein Gefühl von Verlorensein aufs Unermessliche steigerte. Völlig fremd kam mir diese Stadt vor, in der ich früher so viele Jahre gelebt hatte. Völlig fremd auch meine Familie, zu der ich nicht mehr richtig dazugehörte.

Erinnerungen an unser damaliges Familienleben, als die Kinder noch klein gewesen waren, stiegen in mir auf; Erinnerungen an intime Momente, die ich nicht zu würdigen gewusst, ja sogar ignoriert oder schlimmer: als lächerlich abgetan hatte.

Die entstandene Distanz versetzte meinem Herzen schmerzhafte Stiche, die zeitweise Panik in mir auslösten. Was tat ich hier? Was hatte ich, eine englische Wissenschaftlerin, hier zu suchen am anderen Ende Europas? Es erinnerte sich keiner mehr an mich. Und auch ich erinnerte mich an niemanden mehr.

Die Straßen waren bevölkerter als früher. Bauernkarren und elegante Kutschen gaben sich ein Stelldichein neben einem ausgebauten Liniennetz an Pferdebahnen. Schon da war im Gespräch, dass die Metropole eine Elektrische bekommen soll. Der Einzug moderner Zeiten wird hier wie immer hungrig begrüßt. Die Kehrseiten sind noch jenseits alles Vorstellbaren.

Die Tage bis zu unserem Wiedersehen versuchte ich so gut es ging mit Arbeit auszufüllen. Ich war wieder in die Administration mehrerer Krankenhäuser eingebunden und unterhielt Kontakte zur medizinischen Fakultät, die er für mich hergestellt hatte. Ich wusste meine Zeit also durchaus sinnvoll zu verbringen. Aber eigentlich war es nichts als Warten. Warten auf ihn!

Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus, fuhr zum Stadtpalast und sprach bei Elena vor. Ich gestand ihr meine Gefühle für ihren Vater. Sie erblasste. Mir war klar, dass sie fürchtete, ich könnte ihn ihr abspenstig machen, was absurd ist. Er ist derjenige, der entscheidet – sogar zwei Frauen gleichzeitig zu lieben.

Er würde sich nicht noch einmal zum Idioten machen lassen, sagte sie im anklagenden Ton, als hätte ich sie damals vor den Kopf gestoßen und nicht ihn.

Aber ja, ich verließ die Familie und damit auch sie. Ich hatte ihnen allen wehgetan mit meinem Fortgehen.

Wie sollte er annehmen, fuhr sie mit ungewohnt kaltem Blick fort, dass meine Empfindungen für ihn über all die vielen Jahre – Jahre der Abwesenheit! – plötzlich gewachsen seien? Meine privaten Umstände seien doch wohl hoffentlich nicht der einzige Grund …?

Sie müsste mich eigentlich besser kennen.

Nun, die seinen hätten sich jedenfalls geändert. Er habe sie vor fast fünf Jahren geehelicht und nunmehr zwei Kinder mit ihr. Und ja, sie sei endlich glücklich und hoffe es auch weiterhin zu bleiben!

Die Botschaft war angekommen.

Aus Judiths Tagebuch II

Ich will zurück in Eure Welt.

Ich stehe nur eine Armlänge von Ihnen entfernt, Mrs. Williams, Sie bräuchten nur einen einzigen Schritt zu tun.

Ich weiß nicht, wie!

Tun Sie ihn einfach.

Könntet Ihr mir nicht Eure Hand reichen?

Nein, ich habe sie oft genug nach Ihnen ausgestreckt. Ich will mir nicht den Vorwurf machen lassen, ich hätte Sie gegen Ihren Willen gezogen. Diesmal müssen Sie ganz allein eintreten. Die Türen stehen Ihnen offen – wie sie es stets getan haben.

Ich habe es getan. Ich bin eingetreten. In sein Reich. In ihn.

Aus Judiths Tagebuch III

So einfach, wie ich es niedergeschrieben habe, war es in Wahrheit nicht. Höchstens aus der verklärten Erinnerung. Die Qual – unser beider Qual – habe ich erfolgreich verdrängt. Wie so vieles, was sich in jenen Tagen zugetragen.

Eine erschreckende Blässe hatte sein Gesicht an jenem Abend überzogen. Ich konnte nicht einfach darüber hinwegsehen. Wir kamen von einer Gesellschaft und ich bat ihn um einen Spaziergang im Cişmigiu, bevor er mich wie immer unten vor meiner Wohnung absetzen würde. Ich hoffte, er würde sich mir dort, ohne lauschende Ohren um uns herum, endlich öffnen. Es war einer der ersten milden Abende. Es mag im April gewesen sein, so genau weiß ich es nicht mehr. Die Zeit zwischen meiner Ankunft in diesem Land und meiner tatsächlichen Rückkehr in die Familie ist von Nebel umhüllt, in dem sich nur ab und zu die Sicht auf kleine Episoden klärt. Das Wort ist eigentlich schon zu groß gewählt, es ist eher wie ein Aufblitzen von Eindrücken – Erinnerungsfetzen.

Wir blieben am Seeufer stehen und blickten den Ruderbooten mit den verliebten Pärchen hinterher, die traumwandlerisch durch das dunkle Wasser glitten. Die Laternen am Heck warfen warme Schimmer auf die romantische Szenerie. Ich erinnere mich an den intensiven Duft von Flieder, der den Park erfüllte. Still schlenderten wir weiter, ein wenig befangen von so viel spürbarer Liebe um uns herum. Im Geheimen verfluchte ich mich, dass ich hierher hatte ausgeführt werden wollen, denn es gab wohl kaum ein Paar, das nicht in Abständen eng umschlungen stehen blieb, sich in einer lauschigen Ecke heimlich küsste oder zumindest Hand in Hand … jedenfalls wurde es mir zu anstrengend, das allgegenwärtige Liebesgeflüster zu ignorieren, und so bat ich ihn, mich nach Hause zu bringen. Ich rechnete damit, wie immer vor der abfahrbereiten Kutsche verabschiedet zu werden, doch diesmal begleitete er mich hinauf. Natürlich bat ich ihn auf ein Getränk herein, allein der Anstand gebot es. Wie hätte ich annehmen sollen, dass er meiner Einladung Folge leisten würde, so gänzlich woanders er mit seinen Gedanken den Abend über gewesen war. Fraglich, ob er mich an seiner Seite überhaupt bemerkt hatte.

Ich schenkte ihm Armagnac ein, denn er sah so aus, als könnte er einen gebrauchen. Dankend nahm er das Glas entgegen, ließ sich auf dem Kanapee nieder und starrte geistesabwesend zum Ofen hin. Nachts wurde es immer noch klamm in den Räumen, weswegen ich Mable gebeten hatte, diesen am Brennen zu halten. Nachdem ich ein Scheit nachgelegt hatte, warf ich meine Mantille über den Sessel und setzte mich zu ihm. Er bemerkte es nicht einmal.

Es lag nicht in meiner Absicht, Euch aufzuhalten … stand ich im Begriff anzumerken, als er, die durch die Ofenklappe schimmernde Glut nicht aus den Augen lassend, erstmals den Mund auftat. Diesmal, um mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln herauszulassen.

„Sie hat mich verlassen …“, sagte er tonlos.

Verwirrt blickte ich zu ihm auf.

„Mein Engel, mein kleiner Engel …“ ergänzte er, das kummervolle Gesicht mir zuwendend. „Er hat mir kein Vertrauen mehr geschenkt … und nun ist er fort.“

Er nippte von seinem Armagnac und begann das Glas in seiner Hand zu drehen, den Blick nunmehr in die bernsteinfarbene Flüssigkeit versunken.

„Keiner hat ihn bisher gesichtet … keiner weiß, wohin er geflogen. Er weiß sich gut zu tarnen. Immerhin.“

„Exzellenz“, entfuhr es mir bestürzt, „sprecht Ihr etwa von …“

„Natalia.“

„Ich verstehe nicht, was heißt: sie ist fort? Ist sie etwa von zu Hause weggelaufen?“

„Schlimmer“, antwortete er, indem er sein Kinn ein wenig in meine Richtung hob. „Sie wurde vertrieben – von ihrem eigenen Bruder. Er schickte sie in die Verbannung. Sie floh in ein freiwilliges Exil, wo immer das auch sein mag. Ich kann sie nicht erreichen, sie hat, wie damals Nicolae, die Bande zu mir gekappt. Jetzt ist sie ganz auf sich allein gestellt.“

Es folgte ein stimmloser Seufzer, mit dem sämtliche Kraft aus ihm zu weichen schien.

„Sie fand keinen Rückhalt, denn ich war nicht da. Ich hatte einen langjährigen Freund zu betrauern … Doch selbst wenn ich zum fraglichen Zeitpunkt dagewesen wäre, hätte sie sich mir nicht anvertraut. So sehr fühlte sie sich von mir allein gelassen.“

Ich sah ihn schlucken, und als er seinen Blick endlich auf mich richtete, schimmerten seine Augen dunkler denn je.

„Seit wann …“, fragte ich mit versagender Stimme.

„Kurz vor Weihnachten“, kam die unglaubliche Antwort, worauf er tief Luft holte und sich beim Ausatmen übers Gesicht fuhr.

Fassungslos saß ich neben ihm und versuchte zu begreifen.

Das also waren die Familienangelegenheiten, mit denen sie mich nicht hatten belasten wollen … Die bleichen Gesichter kamen mir wieder in den Sinn, Elenas verweinte Augen, Nicolaes erstarrte Züge, des Grafen zorniges Funkeln, derweil ich Natalia bei Miss Farrell im Karpatenschloss glaubte. Keiner hatte mir etwas gesagt.

Die Hochzeit sei verschoben worden, hatte man mir kurz darauf mitgeteilt, Miss Farrell fühle sich seit geraumer Zeit nicht ganz wohl, was mir Nicolaes anschließenden und dauerhaften Aufenthalt im Karpatenschloss erklärte.

Erst jetzt erfuhr ich, dass der Graf ihn dorthin verbannt hatte.

Es sei übrigens nicht nur Natalia betroffen. Zuvor sei Dorin von Nicolae des Hauses verwiesen worden – ausgerechnet er!

„Dorin?“, wunderte ich mich. „Aber warum?“

„Weil die beiden Verschwundenen sich lieben.“

„Dorin und Natalia sind ein Liebespaar? Das habe ich nicht gewusst“, erklärte ich idiotischerweise, denn offenbar hatte es keiner gewusst. Obwohl, wenn ich heute so darüber nachdenke, hatte sich bereits zu Londoner Zeiten eine traute Zweisamkeit zwischen den beiden entwickelt. Allerdings hatte ich nie mehr darin gesehen als eine innige Beziehung zwischen Cousin und Cousine, die in ihrer jeweils eigentümlichen Art begründet lag.

„Ich habe es gewusst“, erwiderte er.

Überrascht blickte ich zu ihm auf.

Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und ließ ihn langsam die Kehle hinunterlaufen.

„Ich wusste, wie es in Natalias Herzen aussah, seit sie damals nach dem Angriff auf Dorin nicht mehr von seiner Seite hatte weichen wollen; seit Dorin die Flucht nach Wien ergriffen hatte, sobald er wieder zu Kräften gekommen war, um sie sich aus den Kopf zu schlagen; und seit er das ganze letzte Jahr vor lauter Nervosität das Zittern bekam, sobald er mich sah, weil er sich zu sehr fürchtete, bei mir um ihre Hand anzuhalten. – Ich hätte ihm entgegenkommen können, aber ich wollte, dass er sich überwindet; dass er um meine Tochter kämpft; dass er seinen Mann steht … Wie hätte ich all das absehen können, wie hätte ich ahnen sollen, dass Nicolae derart überreagiert?“

Mich traf sein verzweifelter Blick.

„Der schlimmste Schlag jedoch ist nicht einmal Nicolaes Verhalten, der immer mehr unserem Vorfahren nachkommt, ohne dass ich es zu verhindern wüsste, sondern der Brief Dorins und Natalias, der mich kurz vor Weihnachten erreichte und in dem meine Tochter mir ihr Vertrauen entzog. Ihre Worte erschüttern mich noch immer, und doch muss ich zugeben, dass … aus ihrer Sicht …“

Seine Stimme versagte, ich sah ihn um Fassung ringen.

Bestürzt saß ich neben dem geschlagenen Vater, dem ohnmächtigen Grafen, dem flügellahmen Engel, der so kläglich am Boden flatterte, dass ich es kaum ertragen konnte. Tröstend hob ich meine Hand, um sie ihm auf die Schulter zu legen, ließ sie aber wieder sinken. In mein anfängliches Mitleid mischte sich helle Empörung.

Über ein Vierteljahr lang, stieß ich atemlos hervor, habe er diesen Kummer mit sich herumgetragen und gemeint, ihn ganz allein stemmen zu müssen? Warum ich ihm nicht wie früher zur Seite stehen dürfe? Warum er diese Last nicht mit mir teile? Ob ich keinerlei Recht mehr dazu besäße? Ob ich nicht mehr zur Familie gehörte, ob ich in seinen Augen denn gar nicht mehr zählte …

Und im selben Maße, wie sich nun meine Tränen an die Oberfläche drängten, stockten die seinen. Überrascht schaute er mir ins Gesicht. Dann durchfuhr ihn ein jäher Schmerz und mir war, als ob er sich mir von einer Sekunde zur nächsten wieder verschließe.

Enttäuscht wandte ich mich ab. Er sagte sekundenlang nichts, dann reichte er mir wortlos sein Taschentuch. Ich nahm es mit geflüstertem Dank entgegen und knetete es in meinen Händen. Der aufsteigende Duft – sein Duft – entfachte die Sehnsucht in mir. Behutsam trocknete ich mir damit die Wangen. Dann räusperte ich mich und bat ihn um Verzeihung. Es sei äußerst unpassend von mir, in dieser Situation die Gekränkte zu spielen. Wir sollten lieber überlegen, was zu tun sei.

„Aber ich habe Sie gekränkt, Mrs. Williams“, erwiderte er und steckte das tränenfeuchte Tuch ein. Er erhob sich, um nun mir einen Armagnac einzuschenken. Als er mir das Glas reichte, zitterten meine Hände derart, dass ich es nicht entgegennehmen konnte.

„Sehen Sie?“, sagte er und stellte es auf dem Tischchen neben mir ab. „Genau das habe ich vermeiden wollen. Sie sind noch in Trauer, Mrs. Williams, Sie haben die Selbsttötung Ihres Gatten und die fragwürdigen Umstände noch nicht überwunden.“

Es sei morgen auf den Tag genau ein Jahr her, rief ich ungehalten. Viel schlimmer als das Ende meines bisherigen Lebens, sei, dass ich mein neues nicht antreten dürfe. Ich hätte gehofft … Weiter wagte ich nicht zu sprechen.

„Nehmen Sie einen Schluck, Mrs. Williams.“

„Ich will aber keine Mrs. Williams mehr sein!“, schrie ich ihm ins Gesicht, während ich ihm das dargebotene Glas aus der Hand schlug. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, dass ich derart die Beherrschung verlor. Beschämt sah ich zu, wie er sich die Flüssigkeit vom Revers seines Rockes tupfte.

„Ich werde wohl besser gehen“, murmelte er daraufhin.

„Nein! Das will ich erst recht nicht.“ Es mag zwar besänftigt, aber dafür ziemlich verzweifelt geklungen haben.

„Was wollen Sie denn?“

„Ich will zurück in Eure Welt.“

„Ich stehe nur eine Armlänge von Ihnen entfernt, Mrs. Williams, Sie bräuchten nur einen einzigen Schritt zu tun.“

„Ich weiß nicht, wie.“

„Tun Sie ihn einfach!“

„Könntet Ihr mir nicht Eure Hand reichen?“

„Nein, ich habe sie oft genug nach Ihnen ausgestreckt. Ich will mir nicht den Vorwurf machen lassen, ich hätte Sie gegen Ihren Willen gezogen. Diesmal müssen Sie ganz allein eintreten. Die Türen stehen Ihnen offen, wie sie es stets getan haben …“

Mit diesen Worten erhob er sich und ging.

Ich heulte die ganze Nacht, zerrte mir an den Gliedern und riss mir an den Haaren. Ich glaube, ich war niemals zuvor so verzweifelt in meinem Leben wie in jener Nacht. Mable, die ich mit meinem Getobe immer wieder aus dem Schlaf riss, hatte ihre liebe Not.

Er hatte mich fernhalten wollen von seinem Leid, weswegen ich ihm zürnte. Da begriff ich, dass er mich hatte schonen wollen, weil er wusste, dass sein Leid auch mein Leid war, welches er mir nicht zusätzlich hatte aufbürden wollen. Da endlich begriff ich alles.

Der Schock darüber war so groß, dass ich mich einer Ohnmacht nahe fühlte. Aber dann triumphierte die Wut über mich selbst. Wieder einmal hatte ich es nicht vermocht, über meinen Schatten zu springen.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit einer heftigen Migräne. Das ganze Leid meiner Familie und mein eigenes zerrten an mir.

Wie egoistisch ich gewesen war, nur an das meine zu denken, wo er mir gerade das seine im vollen Ausmaße offenbart hatte; wo ich seinem Schmerz direkt ins Antlitz geblickt hatte.

Mable musterte mich mit ängstlichen Blicken. Sie schien sich an die Zeit direkt nach Edwards Tod zu erinnern, in der ich kurz davor stand, den Verstand zu verlieren. Sie erinnerte sich glücklicherweise auch daran, dass der Graf allein es vermocht hatte, mich zu retten.

Die folgenden Tage musste ich das Bett hüten, von heftigen Kopfschmerzen und fruchtbaren Träumen geplagt. Ein Schüttelfieber gesellte sich dazu, wie immer wenn meine Gefühle für ihn mit im Spiel waren. Seltsam, erst da erkannte ich es. So spät.

Meine Mable hat Cupido gespielt. Nicht absichtlich, sondern weil sie sich keinen anderen Rat wusste zwischen all meinen selbstzerstörerischen Tränen und Träumen, die nicht enden wollten.

Mir war klar, dass, wenn ich von irgendeinem Nutzen für meine Familie sein wollte, ich mich wieder in den Griff bekommen musste; wusste, dass er wieder einen Fels in der Brandung brauchte, da er selbst am Boden zerstört war – ebenso wie der vom Vater ins Höhennest verbannte Nicolae; ebenso wie Natalia und Dorin, die fernab der Familie in einer für sie fremden und diesen Wesen feindlich gesinnten Welt ums Überleben kämpften; ebenso wie die arme Miss Farrell, deren Hochzeit geplatzt war wie eine schillernde Seifenblase, der Bräutigam in Ungnade, die einzige Freundin und Schwägerin in spe im Exil …

Aller Träume hatten sich von jetzt auf gleich in Nichts aufgelöst. Und ich lag da, wälzte mich auf tränen- und fieberfeuchtem Laken und bedauerte mich selbst. Scham überkam mich, sodass ich mich am liebsten in den dunkelsten Winkel der Welt verkrochen hätte, um nie mehr daraus hervorzukommen. Und diese Scham entfachte ein Fieber in mir, dass ich glaubte, daran zu verglühen.

Wie schon einmal vor vielen Jahren saß er plötzlich an meinem Bett. Draußen war es bereits dunkel. Seine kühle Hand auf meiner heißen Stirn tat gut. Besorgt blickte er mir ins Gesicht.

„Es ist meine Schuld“, sagte er geknickt und tauchte einen Schwamm in die nebenstehende Wasserschüssel. „Ich hätte Ihnen das nicht zumuten dürfen. Bitte verzeihen Sie mir.“

Behutsam tupfte er mir die Stirn. Sein bleiches Gesicht war, obwohl von Kummer gezeichnet, immer noch schön. Wie gern ich meine Hand danach ausgestreckt hätte, um es zu berühren, oder um die dunkle Haarsträhne, die ihm beim Vorbeugen ins Gesicht gefallen war, wieder hinter sein Ohr zu streifen. Sie war von etlichen grauen Haaren mehr durchzogen als damals.

„Es ist meine eigene Schuld, Exzellenz“, erwiderte ich mit fiebertrockenem Mund, „weil ich es immer noch nicht vermag, mein selbst angelegtes Korsett zu sprengen, obwohl ich mit der festen Absicht herkam, dies zu tun.“

„Werden Sie gesund, Judith, dann sehen wir weiter …“

Er erhob sich und gab Mable irgendwelche Anweisungen, bevor er ging. Sie schien erleichtert. Ich war es auch.

Aus Judiths Tagebuch IV

Vor der Zufriedenheit kam die Lust. Sie ist die Voraussetzung für Zufriedenheit. Nicht für die oberflächliche Zufriedenheit, die man auf die Frage „Wie geht’s“ antwortet, nur um den Fragenden zufriedenzustellen. Sondern für die tiefe, tatsächliche Zufriedenheit, die einen durch und durch erfüllt, sofern der Lust Genüge getan wurde.

Während die Zufriedenheit gesellschaftsfähig ist, man sich getrost zu ihr bekennen darf, ist die Lust etwas Verwerfliches. Sie unterstellt dem Menschen etwas Triebhaftes. In seiner Gier danach tut er Böses, um zu bekommen, was er sonst erst im Tod erreichen kann – Erlösung. Ich erfahre sie bereits auf Erden, denn ich bin eine Auserwählte. Das gibt es wirklich! Ich setze Glück an.

Früher aß ich lediglich, um meinen Hunger zu stillen. Ich aß nur so viel, bis ich gesättigt war und mein Körper mir signalisierte, dass er genug hatte. Die Mahlzeit diente einem puren Zweck. Jetzt esse ich über diesen Moment hinaus – aus purer Lust. Einer sinnlichen, aber nicht maßlosen Lust, die zu genießen er mich gelehrt hat.

So wie er mich gelehrt hat, meinen Körper zu genießen, ihn mit Freude zu erleben. Früher war mein Körper lediglich ein Werkzeug meines Geistes und wurde ausschließlich für die Arbeit eingesetzt. Genuss kannte er nicht. Wenn ich meinen geplagten Leib zu Bett legte, meinte ich so etwas wie Zufriedenheit zu verspüren, die meine Glieder durchfuhr. Der nachlassende Schmerz war mir Lob eines arbeitsreichen Tages.

Er hat mich Lust gelehrt. Lust, die vor der Zufriedenheit kommt, sie bedingt. Lust am Wahrnehmen, um Genuss überhaupt erst zu empfinden. Er hat all meine Sinne zum Leben erweckt. Nicht im sündigen Sinne, sondern im gottgefälligen.

Ich genieße echte Glücksmomente. Seine Liebe geht in die Tiefe, ist allumfassend. Mein Herz ist voll von ihm und voll von Glück.

Kaum vorzustellen, dass ich je ohne ihn war.

Er nennt mich Judiţa. Wie zärtlich das im Rumänischen klingt!

Judiţa hat nichts mit der alten Judith gemein. Sie ist eine völlig andere Frau. Judiţa ist vor allem eine Frau!

Aus Judiths Tagebuch V

Wir machen Spazierfahrten auf der Kiseleff. Wie verändert mir die Stadt plötzlich vorkommt. So vornehm, so mondän. Es sind in den letzten Jahren viele neue Gebäude vorwiegend im französischen Stil entstanden. Schicke Hotels und Paläste sowie öffentliche Gebäude.

Es lebt sich gut in Klein-Paris, wie es dieser Tage genannt wird. Sogar einen Triumphbogen haben wir seit unserer Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich, wenn auch nur aus Holz.

Daneben werden auch viele neue Häuser im neo-rumänischen Stil gebaut, worauf Vitalie mich regelmäßig hinweist. Hier stehe Ost neben West, fügt er augenzwinkernd hinzu, während wir Hand in Hand in der offenen Kalesche die prächtigen Villen an uns vorüberziehen lassen. Man kann zwischen all dem grünen Blattwerk nur hier und da einen kurzen Blick auf sie erhaschen, so dicht sind die Kronen der Straßenbäume entlang der Chausseen. Dann aber kitzelt das Auge ein verspieltes Detail nach dem anderen aus Stuck, Schmiedeeisen oder buntem Glas. Es gibt wohl kaum eine Stadt, in der mehr antike Götter und Sagengestalten bemüht werden, verzierte Söller und Balkone zu tragen, prächtige Portale zu bewachen oder hinter Rundkuppeln versteckt die Wege der Menschen zu beobachten. Während dort noch eine Putte mit Amors Pfeil auf einen Passanten zielt, grinst demselben die dämonische Fratze eines Satyrs vom gegenüberliegenden Erker hinterher. Die Vorübergehenden ahnen nicht einmal, wer ihre Geschicke lenkt.

Gelegentlich führt uns unser Weg in die Casa Capşa. Die Ananastörtchen dort sind ein Traum! Man trifft auf wichtige Männer aus Kultur und Politik, manchmal sogar mitsamt ihrem schmückenden Beiwerk, zu dem ich mich jetzt ebenfalls zählen darf.

Seltsam, dass es mir gar nichts ausmacht.

An seiner Seite zu sein, ist mehr als genug. Es ist eine Ehre. Die ich endlich zu schätzen weiß.

Zuweilen habe ich Angst. Angst vor dem Erwachen. Es ist schön in seinem Traum zu leben. Erfüllend.

Am Abend sprechen wir über das Erlebte. Er lässt mich hinter die Kulissen schauen, zeigt mir die wahren Gesichter. Es sind nicht alle hässlich und von Habsucht oder Geltungsdrang verzerrt. Es gibt noch Menschliches aus Fleisch und Blut unter den Mächtigen, wenn auch selten. Diese gilt es zu stärken. Diesen gilt es zu den richtigen Kontakten zu verhelfen, damit sie ihre Kräfte bündeln können.

Unser König ist übrigens eine Marionette. Die Strippenzieher sitzen im Café Capşa oder im Grand Hotel Broft – Aristokraten, Diplomaten und Militärs aller Herren Länder.

Dort, in der Podul Mogoşoaiei – die jetzt Calea Victoriei heißt, seit 1878 der Siegeszug nach dem gewonnenen Unabhängigkeitskrieg hindurchführte –, wird die Zukunft gebraut: beim Mittagessen, beim Fünfuhrtee oder beim Souper; auf Kostümbällen, im Kasino, im Schwitzbad und sonstigen Etablissements dieser Stadt. Man weiß sich beim Schicksalspielen zu vergnügen. Fürs leibliche Wohl ist in Europas politischer Schmiede gesorgt. Wie viele Agenten und Spione sich wohl in der Stadt tummeln? Und erst im Königspalast?!

Meine teure Freundin, Königin Elisabeta, lebt in der Verbannung. Sie hat sich in ihre Heimat Deutschland zu ihrer gestrengen Frau Mama an den Rhein zurückgezogen, erzählt man sich. Elisabeta soll leidend sein.

Eine überaus peinliche Affäre ging dem Ganzen voraus. Ich kann kaum glauben, dass sie, die ich als äußerst verständige und pragmatische Frau kennengelernt habe, sich derart von einem kleinen Hoffräulein hat manipulieren lassen. Sie muss völlig vernarrt in diese gewesen sein, sie vielleicht als heimliche Tochter angesehen haben, die sie selbst nicht mehr hat und doch so schmerzlich vermisst. Wie traurig …

Was für eine emotionale Kälte muss am Hofe herrschen?

König Carol, der sich sonst von eiserner preußischer Disziplin zeigt, habe im letzten Jahr mehr als einmal die Beherrschung in Bezug auf seine Gattin verloren. Die Skandalblätter sollen brühwarm berichtet haben. Doch seit im Januar Kronprinz Ferdinand mit der überaus schönen, aber noch sehr jungen Maria – Enkelin Königin Victorias und Zar Alexanders II. – vermählt wurde, scheint Gras über die Sache zu wachsen. Die Gefahr für den rumänischen Thron ist beseitigt. Er ist wieder fest in europäischer Hand.

Nichts fürchten die Rumänen so sehr wie sich selbst.

Wie es Nicolae wohl geht? Ich sehe kaum noch etwas von ihm.

Er kann von Glück sagen, dass sein Vater ihn rechtzeitig in Sicherheit brachte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten uns alle ausgelöscht. Alle wie wir da sind. Also auch mich.

Einem erneuten „Erdbeben“ sind wir nur knapp entkommen.

Sie vermögen uns immer dann aufzuspüren, wenn wir Schwäche zeigen, wenn die Familie nicht intakt ist. Weil wir nur als Ganzes funktionieren wie ein einziger lebender Organismus, der alle seine Gliedmaßen benötigt, um sich im Kampf zu behaupten, selbst den kleinen Zeh. Ja, ich beziehe mich mittlerweile mit ein, denn ich gehöre untrennbar zu ihnen, auch wenn es fast ein Leben lang brauchte, um dies zu begreifen.

Es ist wie einst in jener magischen Nacht beim „Auge des Herrn“, als ich scheinbar allein und von allem befreit ins Nichts eintauchte, und erst hinterher gewahrte, dass wir alle zugleich aus demselben Traum wieder aufgetaucht waren, einer einzigen Träne gleich, die an Seinem Wimpernrand hängen geblieben war. Mein Alleinsein war nur Trug gewesen. Ich stand gleich dem Gestirn im festen Verbund mit ihnen. Die Familie umgab mich schützend wie jeden einzelnen von uns. Nie zuvor hatte ich so viel Glückseligkeit empfunden wie damals auf der nächtlichen Picknickwiese, als Hansemann unterm Sternenhimmel Eminescu* rezitierte und Nicolae und Sergej ihren psychedelischen Tanz darboten, der selbst Maître Jacques, Meister des Tanzes, in Begeisterung versetzt hatte. Es war eine Nacht voller Zauber – verstörend klar und wirr zugleich.

Ich bin jungfräulich in die Ehe gegangen, so unglaublich das auch klingen mag. Er hat es mir in der Hochzeitsnacht von den Augen abgelesen und konnte es kaum fassen. Ich muss wohl schlotternd auf der Bettkante gesessen haben wie ein einfältiges Kind, das zum ersten Mal einem Manne in seiner ganzen Leibhaftigkeit begegnet – als wäre ich nicht jahrelang mit Edward verheiratet gewesen.

Offiziell war ich Mrs. Williams, das ist amtlich, so steht es in den Kirchenbüchern. Aber wir haben die Ehe nie vollzogen. Das heißt nicht, dass wir einander nicht zugetan gewesen wären. Es war eine durchaus zärtlich zu nennende Verbindung, die mich voll und ganz befriedigte. Mir mangelte es an nichts. Es war auch keineswegs so, dass mir Edward in unserer Hochzeitnacht nicht hätte näherkommen wollen. Nur war er ein sehr rücksichtsvoller Mensch. Vielleicht zu rücksichtsvoll. Niemals hätte er mir wehtun können, nicht einmal auf diese offiziell erlaubte, gesetzlich wie kirchlich abgesegnete Weise. Schließlich waren wir keine jungen Leute mehr, welche die Neugierde des bisher Verbotenen trieb. Kurz und gut, Edward hat mich heil gelassen. Wir machten uns beide nicht viel aus körperlichen Dingen, es waren mehr die geistigen Triebe, die uns verbanden.

„Echte Viktorianer“, flüsterte mein jetziger und einzig wahrer Gatte ungläubig und löste mein Nachtkleid. „Ich will dich ganz, Judiţa“, sagte er, während er seine Blicke zärtlich über meinen unberührten Leib gleiten ließ, „mit Leib und Seele, denn beides gehört untrennbar zu dir und nunmehr auch zu mir. Gib dich mir hin, mein unschuldiges Herz, so werde auch ich mich dir heute Nacht hingeben. Verliere dich in mir und wandle mit mir zusammen durch mein Reich, das kein Sterblicher bisher zu sehen bekam.“

Es war kein romantisches Liebesgeflüster, es war eine Einladung, die Welt unserer Vorfahren zu erkunden. Und so taten wir die folgenden drei Nächte …

Aus Judiths Tagebuch VI

Mein Gott, wie lange es gebraucht hat, diesen Sprung zu tun! Den Sprung über den eigenen Schatten. Den Sprung in ihn.

Mable stieß mich. Sie könne die selbst bereiteten Qualen der Herrschaften nicht länger ertragen. Man sollte mich mit ihm in ein Turmzimmer sperren und erst wieder herauslassen, wenn …, grummelte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. Worauf ich noch warten würde? Mehr Gelegenheiten könne ein Mann seiner Angebeteten doch wohl kaum bieten.

Nur, dass ich diese mal wieder alle übersehen hatte.

Aber wäre es nicht an ihm, sich mir zu erklären?, wandte ich ein.

Ob er das nicht schon genug getan hätte mit seinen täglichen Besuchen? – Es war die Zeit, nachdem er mir von Natalias und Dorins Verschwinden erzählt hatte und ich fiebernd zu Bett lag. – Und all die Blumen, das viele Obst, die teuren Pralinen, ganz zu schweigen von den Blicken! Von solchen könnten sie daheim in England doch nur träumen. Jeder Blinde sehe, dass er mich anbete.

Ich glaube, ich wurde tatsächlich rot.

Ich malte mir tausend und eine Situation aus, doch sobald sie Realität zu werden drohte, wurde ich wieder zu einer Gefangenen meiner selbst. Hinterher verfluchte ich mich dafür. Ich wusste ja, dass ich nur einen einzigen Schritt zu tun brauchte. Nur einen!

Je mehr Mable mich drängte, je mehr ich mich selbst nötigte, desto unmöglicher erschien es mir. Bis ich in eine völlige Starre verfiel, sobald er in meiner Nähe war.

Eines späten Abends Anfang Mai – ich hatte mich inzwischen von meinem Fieber erholt und er führte mich regelmäßig zu kleinen Spaziergängen aus, bei denen wir nebeneinander auf der Parkbank saßen, sodass sich zumindest unsere Kleidung berührte oder sich unsere Hände beim Aufstehen zufällig streiften, bevor wir sittsam eingehakt den Parksee umrundeten – kam er in meine Wohnung gestürmt. Gestürmt ist das richtige Wort, denn Mable wich ängstlich vor ihm zurück, nachdem sie ihm die Tür geöffnet hatte, wie sie mir hinterher berichtete. Er stand mit sichtbar gehendem Brustkorb im Flur, drückte ihr – ohne ihr wie sonst ein Zwinkern zu schenken – Stock und Hut in die Hand und verschaffte sich, ohne sich anmelden zu lassen, Zutritt in mein Schlafgemach, wo ich mich gerade für die Nacht zurechtmachte. Erschrocken fuhr ich von meiner Frisierkommode hoch und griff nach meinem Schultertuch.

„Exzellenz“, stieß ich überrascht aus, doch er ließ sämtliche Anstandsregeln fallen und wedelte ohne ein Wort der Begrüßung mit einem Brief vor meiner Nase. Noch nie zuvor hatte ich ihn in einem solch aufgewühlten Zustand erlebt.

„Endlich …“ keuchte er atemlos. „Er wurde mir vor einer halben Stunde zugestellt.“

„Ist er etwa von –“

„Dorin!“ Er war derart erregt, dass er kaum einen Satz herausbrachte. „Lesen Sie selbst, Judith!“, drängte er mich, was ich tat.

Unterdessen schritt er unruhig im Zimmer auf und ab.

„Wissen Sie, was das bedeutet?“, fragte er ungeduldig, während ich noch in die Zeilen vertieft war. „Begreifen Sie das Ausmaß?“

Nach Beendigung der Lektüre starrte ich ihn fassungslos an. Eine Hochstimmung schien von ihm Besitz ergriffen zu haben. Aber Dorins Zeilen gaben alles andere als Anlass dazu, im Gegenteil, sie versetzen mich in Angst und Schrecken. Zwar begriff ich nicht die Zusammenhänge, aber doch so viel, als dass sich beide in furchtbarer Gefahr befanden. Mit anderen Worten: Dorin rief um Hilfe!

Er stockte, als er meinen Ausdruck gewahrte.

„Aber begreifen Sie denn nicht, Judith?“, wiederholte er sich, während er mir das Schreiben förmlich aus der Hand riss.

„Dass wir um beider Wohlergehen bangen müssen?“

„Dass wir endlich wissen, wo sie stecken! – Jetzt kann ich ihrer habhaft werden, jetzt endlich kann ich Kontakt zu meinem kleinen Engel aufnehmen, der sich jämmerlich verflogen hat und dem Vogelfänger in die Falle zu gehen droht.“

„Diese entsetzliche Gefahr löst einen Freudentaumel in Euch aus?“, vergewisserte ich mich verständnislos.

„Aber ja! Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, wie es heißt.“

„Und dass Dorin Euch in seinem Schreiben anfleht, Natalia gegenüber Stillschweigen zu wahren …“

„Werde ich selbstverständlich beherzigen. Dafür kenne ich meine Tochter gut genug. Sie würde es fertigbringen, auf immer mit ihm zu brechen, wenn sie herausfände, dass Dorin sich in seiner Not an mich gewandt hat. Da kennt sie kein Pardon, Liebe hin, Liebe her. Wer einmal ihr Vertrauen missbraucht, hat es für immer verloren.“

„So wie Ihr ihr Vertrauen verloren habt?“

Das war ein derber Schlag ins Gesicht, für den ich mich augenblicklich schämte. Ich weiß nicht, warum er mir entglitt. Etwas von der alten Judith brach in mir durch, die ich für immer hatte hinter mir lassen wollen. „Bitte verzeiht, Exzellenz!“, warf ich erschrocken hinterher. „Das habt Ihr nicht verdient. Ich weiß sehr wohl, dass Ihr Natalias Vertrauen niemals missbraucht habt, auch wenn sie an Eurer Liebe zweifelt. Ich weiß, dass sie keinen Grund dazu hat.“

Und dann dankte ich ihm, dass er mich sofort ins Vertrauen gezogen hatte. Zeigte es mir doch, dass er mich wieder an seine Seite holte – weil er mich brauchte.

Über genau diesen Ausdruck gerieten wir späterhin in einen Streit. Brauchen tue er niemanden, konstatierte er. Er habe mich wieder an seiner Seite gewünscht, weil er mich liebe, das sei der einzige Grund und habe nichts mit irgendeiner Notwendigkeit zu tun.

Ich fühlte mich tüchtig gerügt.

Als er erst nach Ablauf von zwei Wochen wieder bei mir vorsprach, nahm ich das Schlimmste an, so aschfahl waren seine Züge, so todtraurig der Blick.

„Was ist? Ist den beiden etwas geschehen? So sprecht doch!“

Geschlagen nahm er Platz und vergrub den Kopf in den Händen. Was er mir dann eröffnete, wäre unter normalen Umständen Anlass zum Jubel gewesen, doch der Keil, den es ihm ins Herz getrieben hatte, nahm ihm jegliche Freude und hinterließ nichts als eine klaffende Wunde.

Sein Bericht war konfus, irrwitzig und absurd. Und so konnte ich seinen Worten zunächst nichts weiter entnehmen, als dass Dorin fast in die Fänge eines Vampirs geraten sei. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass er genau diesen Ausdruck gebrauchte, denn ich hatte extra nachgefragt, weil ich glaubte, mich verhört zu haben. Hatte er zuvor nicht von einem Vogelfänger gesprochen? Nein, es sei ein weitaus übleres Subjekt gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Dorin wäre für immer verloren gewesen, denn gegen das Gift dieses Bösen sei kein Kraut gewachsen.

Ich wagte nicht zu widersprechen. Dorin war also gerettet, entnahm ich den Worten, und somit auch Natalia. Das war die Hauptsache.

Nur dass sie rein gar nichts davon ahne, entgegnete er mir mit verzagtem Blick. Und der Kampf sei noch längst nicht entschieden, sondern beginne erst!

Ich begriff nichts von alledem, bis ich endlich erfasste, dass er den Kampf um seine Tochter gemeint hatte, die ihrem Vater unversöhnlich gegenübergetreten war. Sie werde auf keinen Fall zurückkehren, ihr Zuhause sei jetzt dort, bei Dorin, in seiner Heimat, in Iaşi. Und selbst wenn sie für den Rest ihres Daseins in ärmlichen Verhältnissen leben müssten, so sei dies allemal besser, als ohne jegliches Recht auf Selbstbestimmung von der Familie drangsaliert und missachtet zu werden. Die Unzufriedenheit ihres Bruders mit sich selbst habe eine Bestie aus diesem gemacht, die Strenge ihres Vaters sie auf immer vergrault.

„Du meine Güte, welch Dramatik!“, entfuhr es mir bei den wiedergegebenen Worten, die so gar nicht zu meiner Nichte passen wollten. Da wusste ich noch nicht, was dem Ganzen vorausgegangen war – ebenso wenig wie ihr Vater es bis dahin gewusst hatte –, denn sowohl Elena als auch Nicolae hatten ihm etwas Wesentliches verschwiegen.

Er war bestürzt, seine Tochter so kalt und abweisend anzutreffen. Nicht einmal Dorins beschwichtigende Worte hätten ihre Haltung zu mildern vermocht.

Aber mehr noch als das habe es ihn erschüttert, sie anderntags mit einem Säugling an der Brust vorzufinden. Dorin sei es gewesen, der ihm die Kleine hernach in die Arme gelegt habe. Da habe er weinen müssen, was Natalia reglos zur Kenntnis genommen habe.

Das Kind, habe sie mit harter Stimme erklärt, welches ihn jetzt zu Tränen rühre, sei dasselbe Kind, welches Nicolae ihr aus dem Leib habe reißen wollen.

Das sei ihr einziger Kommentar gewesen, der ihn ungläubig zurückgelassen habe. Erst auf Dorins Drängen hin habe sie ihm geschildert, was damals in der Stadtvilla vorgefallen war.

Über ein Vierteljahr lang habe sie Dorin entbehren müssen, um mich – ihre alte Tante – aufzufangen, deren Leben in England gerade in Tausend Stücke zerbrochen war. Und dann, als sie ihre Sehnsucht nach ihrem Geliebten endlich habe stillen und ihm bei jenem heimlichen Stelldichein in der Stadtvilla die frohe Botschaft habe verkünden wollen, sei Nicolae in ihr kleines Idyll eingebrochen und habe alles zerschmettert. Halb tot habe er ihren armen Dorin geprügelt und sie als Gefangene abgeführt. In den Stadtpalast habe er sie gesperrt, unter strenge Aufsicht gestellt und Dorin fortan als persona non grata erklärt und des Palastes verwiesen.

Ich konnte kaum fassen, was der Graf mir da wiedergab. Was war bloß in Nicolae gefahren? Wie hatte er eine solche Entwicklung nehmen können? Wie konnte er es wagen, über das Leben seiner Schwester dermaßen zu bestimmen und ihr Glück zu zerstören?

Vergeblich suchte ich nach irgendeiner Erklärung.

„Was hättet Ihr getan, wenn Ihr Natalia in dieser verfänglichen Situation angetroffen hättet? Wäret Ihr nicht auch wütend geworden? Hättet Ihr sie nicht auch bestraft? Nicolae stand allein davor.“

„Ganz bestimmt hätte ich beiden eine gehörige Abreibung verpasst für all ihre Geheimnistuerei. Aber danach, Judith, hätte ich ihnen meinen Segen erteilt. Denn etwas Besseres, als Dorin gänzlich in unsere Familie einzubinden und damit der Gefahr, die von ihm ausgehen soll, ein für alle Mal Herr zu werden, hätte uns gar nicht passieren können. Es hätte uns alle glücklich gemacht. – Dennoch muss ich mir einen Teil der Schuld anrechnen, denn ich war es, der Nicolae einst die Verantwortung für seinen Cousin übertrug. Ich sagte ihm damals, dass er für den Rest seines Lebens auf diesen achtzugeben habe und ich Dorin töten würde, falls dieser ihm entglitte. Aber das war zu einer Zeit, wo sich beide im Jünglingsalter befanden und mit ihren besonderen Kräften noch nicht maßzuhalten wussten, da sie unreif und unerfahren waren; und Nicolae seinen Cousin in Dinge eingeweiht hatte, die uns alle in Gefahr hätten bringen können. Inzwischen ist Dorin längst einer von uns, er ist mir wie ein weiterer Sohn. Anfänglich war er labil, ich musste mehr als einmal einschreiten – man denke an die Sache in Berlin und später in Paris. Aber in den letzten Jahren hat er seinen Weg gefunden und ihn unbeirrt fortgesetzt. Ich bin stolz auf ihn. – Einen einfühlsameren und fürsorglicheren Ehemann hätte ich mir für meinen kleinen Engel gar nicht wünschen können. Und ein anderer käme für sie höchstwahrscheinlich auch gar nicht infrage. Er ist das einzige Wesen auf Erden, das imstande ist, meine Tochter mit all ihren Ecken und ihrer oft schroffen Art zu lieben – und umgekehrt. Wer sonst wäre in der Lage, Dorins eigenartiges Wesen anzunehmen und innige Gefühle für ihn zu entwickeln? Nein, beide sind füreinander geschaffen. Und verdammt noch mal, Judith, ich will beide zurück! Wie kann Nicolae es wagen, unsere Familie derart auseinanderzureißen? Hat er vergessen, wie angreifbar wir dadurch sind? Was bewiesen wäre durch die Gefahr, die ich in Iaşi beseitigen musste.“

„Ich verstehe nur nicht, warum sich Natalia so unversöhnlich zeigt, wenn Ihr all das zu ihr gesprochen habt, um sie von Eurer Liebe zu ihr zu überzeugen.“

Ein trauriges Lächeln huschte um seine Lippen. „Dazu kam ich gar nicht erst, Judith. Einzig Dorin hatte ein offenes Ohr für mich und dankte mir insgeheim für meine Hilfe. Natalia darf nicht erfahren, dass er mich gerufen hat, sie würde es ihm nie verzeihen. Ich musste Notlügen erfinden, um zu erklären, wie ich sie aufgespürt hatte. – Beide samt meinem Enkelkind dort zurückzulassen, mich wieder von ihnen, die ich gerade erst gefunden hatte, zu trennen …“

Ich konnte sehen, wie sehr es ihn schmerzte. Ergriffen legte ich meine Hand auf die seine. Er nahm sie auf und küsste sie, wie er es wohl schon Hunderte Mal zuvor getan hatte – und doch so gänzlich anders. Tief sah er mir in die Augen. Ob ich wohl die Güte besäße, ob ich mir vorstellen könnte …

Selbstverständlich würde ich die beiden aufsuchen und versuchen, auf Natalia einzuwirken, um sie umzustimmen, erwiderte ich. Unser aller Glück hinge schließlich davon ab.

Die Not vereinte uns. Wir hatten wieder ein gemeinsames Ziel!

Noch bevor er meine Hand wieder freigab, wusste ich, dass nun der Augenblick gekommen war. Unwillkürlich begann ich zu zittern. Da nahm er mich fest in seine Arme. Und als wir uns voneinander lösten, war es, als erblickten wir uns das erste Mal. Ungläubig erkundeten wir einander, uns zaghaft berührend. Taumelig suchten unsere Lippen nach einander, und als sie sich fanden, wich aller Widerstand in mir und ich zerschmolz an seiner Brust. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren. Es war nur noch pures Sein in einem einzigen Moment – kein Gestern mehr, kein Morgen. Sämtliche physikalischen Gesetze schienen aufgehoben. Und während alles in mir und an mir zu ihm hinstrebte, fiel mir nur dieses eine verdammte Wort ein: Affinität – das Bestreben zweier Stoffe, eine Bindung einzugehen …

Er presste mich an sich, weil ich selbst keinen Halt mehr fand. Und als seine Lippen sich neuerlich an die meinen schmiegten und ich ihm klopfenden Herzens Zugang zu meinem Inneren gewährte, da spürte ich ein bisher nicht gekanntes, alles verzehrendes Feuer in mir auflodern, das mir jegliche Sinne nahm. Ich hörte mich seufzen, während meine Beine nachgaben. Ich hätte mich ihm in jenem Moment wohl vollends hingegeben, zu lange hatte ich die Glut in mir auf kleinster Flamme gehalten, sodass sie jetzt jäh aufloderte und alles in Brand setzte. Doch er zügelte sich, nahm Haltung an und brachte mich wieder in eine würdevolle Position. „Wir müssen nicht in einer Nacht nachholen, was wir über all die Jahre hinweg versäumt haben, Judiţa. Wir haben noch eine Ewigkeit vor uns“, flüsterte er mir ins Ohr, und allein sein Atem auf meiner Haut und sein Duft in meiner Nase ließen mich erbeben. Schmunzelnd entließ er mich aus seinen Armen und zupfte meine Kleidung zurecht.

„Ihr wollt mich doch wohl jetzt nicht allein lassen in meinem Gefühlschaos!“

„Oh doch, Liebste. Das muss leider sein.“

Nicolae: An der Quelle - Band 7

Подняться наверх