Читать книгу Nicolae: An der Quelle - Band 7 - Aurelia L. Porter - Страница 15
ОглавлениеNICOLAES BRIEFE AN VIRGIL
Juni 1893
Lieber Virgil,
es gibt mich noch. Aber ich existiere mehr schlecht als recht.
Mein Vater hat mir etliche seiner Arbeiten übertragen, schließlich sei er damit beschäftigt, den Schlamassel aufzuräumen, den ich hinterlassen hätte.
Wäre es nicht eher meine Aufgabe?
Gott bewahre! Ich würde den Karren nur noch tiefer in den Dreck fahren …
Danke für dein Vertrauen, Papa!
Wahrscheinlich hat er recht. Nur wie soll ich so meine Schuld je abtragen? Papa hat mir jegliche Chance dazu genommen. Ich kann also nichts tun, noch nicht einmal bereuen, denn das habe ich bereits zur Genüge getan.
Kürzlich war mein Geburtstag, ich bin von zu Hause geflohen. Wie hätte ich mich feiern lassen sollen mit dieser Schuld, die auf mir lastet, mit dieser Schmach, die in mir brennt, sobald meine Familie mich anblickt?
Damit allerdings habe ich wohl noch die Letzten, die zu mir gehalten haben, beleidigt. Elena wird fruchtbar enttäuscht gewesen sein, meinen Platz an der Geburtstagstafel leer vorzufinden und mit Emily und den Kindern allein vor dem Gugelhupf zu sitzen.
Liviu ist wieder zu seinen Großeltern gezogen. Er hat es an meiner Seite nicht mehr ausgehalten, was ich ihm nicht verübeln kann. Es war Elenas Idee. Ich brachte ihn hin zu den Alten. Die momentane Atmosphäre im Schloss tue ihm nicht gut, erklärte ich ihnen, mein Sohn brauche eine heimelige Umgebung. Der Alte nickte bloß und legte seine schwielige Hand auf Livius Schulter. Liviu kommt allmählich in ein Alter, in der er eine feste Hand braucht, er wird im nächsten Monat zwölf. Ich kann sie ihm zurzeit nicht bieten.
Meine Touren durch unsere Ländereien haben mich einmal mehr zu Petrea geführt. Wortlos habe ich bei ihm Soden gestochen, Holz gespalten und Hühner gerupft. Er hat nicht gefragt, sondern mir nur ab und zu aufmunternd die Schulter geklopft und sich dann wieder seinen schmauchenden Meilern gewidmet.
Ich bin sogar mit der Dragomir-Bande durch die Gegend gezogen. Auf den Gütern nach dem Rechten zu sehen, gehört schließlich zu meinen Aufgaben. Also genieße ich, wie es üblich ist, für einige Tage die Gastfreundschaft der Bojaren, schlürfe Mokka, rauche mit ihnen im orientalischen Zimmer die Wasserpfeife und lasse meine Blicke träge vom Pridvor* ihrer Gutshäuser über das sommerliche Land schweifen. Ich lausche ihrem Palaver, wer mit wem und in welcher Angelegenheit bei der Regierung oder am Königshof mitmischt, die Seiten gewechselt hat, Intrigen spinnt oder Gerüchte verbreitet. Es kommen alle paar Tage andere hohe Besucher aus sämtlichen Teilen des Landes und der Zirkus geht von vorne los. Sie streiten und debattieren, spannen sich gegenseitig die weiblichen und männlichen Geliebten aus oder verführen deren Frauen und blutjunge Töchter, küssen sich zum Abschied und wünschen sich gegenseitig doch nur die Pest an den Hals. Es hat sich in all den Jahrhunderten nichts geändert. So soll es schon zu Zeiten meines Vorfahren gewesen sein.
Es stört mich nicht, ihre fetten Bäuche und gierigen Augen hervorquellen zu sehen. Sie werden schon bald aus allen Nähten platzen. Solange ich keine Missstände in ihrem Bezirk entdecke, kommen sie ungeschoren davon. Rieche ich eine Sauerei, schicke ich ihnen Dragomir und seine Männer zum Aufräumen vorbei.
Den Präfekten aber schaue ich besonders auf die Finger. Vor allem den Unterpräfekten, die bekanntermaßen allerlei unter der Hand betreiben, um sich die Taschen vollzustopfen. Ich ermittle, auf wessen Kosten, dann lasse ich Gnade walten oder eben auch nicht, je nachdem.
Ich gehe auch in die Hütten der Bauern und schaue mir an, wie sie leben. Kommt mir die jahrhundertealte Leier von Armut und Ausbeutung, frage ich, woher die blauen Flecken der Frau, das Geld für den Wein und die unnötig vielen Kinder kommen. Und wehe, ihnen fällt keine gute Geschichte dazu ein. Wer aber unschuldig an seinem Elend oder wem gar Unrecht widerfahren ist, dem schicke ich ebenfalls Dragomir und seine Leute vorbei, damit diese etwas von ihrem anderweitig Erbeuteten bei ihnen lassen.
So versuchen wir die Dinge ein klein wenig ins Lot zu bringen und den berühmten Tropfen auf dem heißen Stein zu versprenkeln.
Ich stelle fest, dass es immer weniger Ehrlichkeit und Anstand unter den Leuten gibt, gleich ob bei denen da oben oder bei denen da unten. Irgendwie sind alle ewig am Jammern und Klagen. Wenn sie nicht über irgendetwas zu schimpfen oder zu verzweifeln hätten, würde ihnen etwas fehlen. Schon erstaunlich, wie viele Intellektuelle aus gutem Hause sich neuerdings zu Nihilisten oder gar Anarchisten erklären, wie viele Salon-Kommunisten und Sozialisten es unter den Bojarensöhnen gibt, die niemals des Bauern Hand berührt haben, welche sie seit Lebzeiten ernährt. Die Arbeiter in den Städten werden dabei ebenso instrumentalisiert wie die Bauern auf dem Lande. Zugegeben, es ist eine Schande, wie sie hier wie dort leben müssen, sie gelten den Herrschenden nur als menschliches Material. Nach Verschleiß wird es kurzerhand ausgetauscht, ob in der Fabrik oder auf dem Feld, denn sie vermehren sich ja glücklicherweise wie die Karnickel. Den Reformern aber dienen sie lediglich als politische Waffe, die leicht zu zündeln ist. An dem Wohl der einfachen Leute sind sie nur vorgeblich interessiert. Lasst die Erneuerer, die meinen, das Rad neu erfunden zu haben, an die vollen Tröge und es wird doch nur wieder alles beim Alten bleiben.
Das arbeitsame Volk hat nichts von alledem verdient.
Aber wozu solche Gedanken? So geht es bereits seit Jahrhunderten, wahrscheinlich sogar seit Menschengedenken.
Wird es je anders sein? Kann es je anders werden?
Mein Vorfahr sagt Nein. Stets werden einige Skrupellose die leichtgläubige Masse manipulieren und für ihre Interessen ausnutzen, gleich wie sie sich nennen mögen, gleich welcher Religion oder Ideologie sie anhängen. Und selbst wenn sich die Zustände unter ihnen bessern sollten, wird das Jammern und Klagen nicht verstummen. Zufriedenheit gilt als Zeichen von Dummheit, denn bestimmt kann man noch ein bisschen mehr für sich herausholen, ob’s nottut oder nicht. Das gilt für alle Klassen. Genügsamkeit und Demut sind aus der Mode gekommen.
Fortschritt heißt das neue Zauberwort. Nur scheint jeder etwas anderes darunter zu verstehen. Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ist eines der erklärten Ziele, aber in welche Richtung und mit welcher Methode, darin sind sie sich uneins.
Wenn ich mir die Weltgeschichte so anschaue, Virgil, meint jede Generation, tüchtig aufräumen zu müssen. Sie wähnen sich als Pioniere, als Helden unserer Tage – und da nehme ich Dich nicht aus, mein Lieber! Mehr Wohlstand und Gerechtigkeit wollten die Leute schon immer, zu jeder Zeit, in jeder Epoche. Noch nie waren sie zufrieden mit den herrschenden Zuständen.
Ist jemandem von den neuen Agitatoren und Brandstiftern schon mal der Gedanke gekommen, dass es ein Paradies auf Erden nie geben wird? Dass wir niemals alle glücklich und zufrieden miteinander leben werden? Es klappt ja noch nicht einmal innerhalb der eigenen Familie, wie soll es dann innerhalb eines ganzen Landes funktionieren? Geschweige denn auf der ganzen Welt? Was also soll das ganze Geschrei und Gezeter, die Rechthaberei und Kampfeslust?
Gesetzt den Fall, es gelänge tatsächlich, sozialen Frieden und Wohlstand für alle herzustellen, dann hätten sie nichts mehr zu jammern und ihnen wäre so unerträglich langweilig, dass sie einen anderen Grund fänden, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Glaub mir, Virgil, so würde es kommen, denn das, so fürchte ich, liegt in der Natur des Menschen begründet.
Und war es denn unter den Göttern der Antike groß anders? Nein! Auch dort herrschten Neid und Missgunst, Eifersüchteleien und blanker Hass. Kriege wurden vom Zaun gebrochen und über den Köpfen der Menschheit ausgetragen.
Damit ist eigentlich alles gesagt.
Mein Kampfgeist ist jedenfalls verflogen. Mir ist, als drehten wir uns ständig nur im Kreis und um die eigene Achse. Für wen lohnt es sich denn zu kämpfen, frage ich Dich? Ich kämpfe ja noch nicht einmal mehr für mich selbst, Virgil.
Brav komme ich den Aufgaben nach, wie mein Vater mir befohlen. Ich denke nicht mehr darüber nach, ob richtig oder falsch oder gar egal. Ich mache einfach. Und am Ende des Tages setze ich mir die Oblomowsche* Schlafmütze auf.
Schaue ich aber nach unseren Schutzbefohlenen, komme ich mir wie ein billiger Schmierenkomödiant vor. Sie halten mich für einen Engel. Die kleine Sorina aus der Schäferfamilie Dinescu, der damals so viele Gräuel widerfahren sind, hat ihr Seelenheil in einem Kloster gefunden. Sie hat die damaligen Schrecknisse nie verwunden und sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Zuletzt fand man sie nur noch betend vor der Ikone. Ich kam, um sie zur Mutter Oberin zu begleiten. Wird man sie dort denn überhaupt aufnehmen, fragte der Vater verzweifelt. Schließlich könne sie unserem Herrn im Himmel nicht mehr unbefleckt entgegentreten. Wer könne das schon, gab ich zurück. Außerdem gebe es wohl kaum eine reinere Seele als die seiner Sorina. So ließen sie das Kind ziehen, das mittlerweile siebenundzwanzig an Jahren zählt und der hiesigen Welt längst entsagt hat, und gaben es in Gottes Hand.
Ich habe sie kürzlich dort besucht. Die ständige Furcht ist aus ihrem Blick gewichen. Sorina arbeitet im Klostergarten und hat in der Gemeinschaft der Nonnen endlich ihren Frieden gefunden. Ein Lächeln stahl sich um ihre Lippen, als ich ihr das Märchen erzählte, welches sie damals ihre häuslichen Pflichten hatte vergessen lassen. Und auch jetzt wieder hätte sie beinahe die Abendmesse verpasst, obwohl die Toaca* deutlich zum Gebet rief. Ich schickte sie auf den Weg und entschwebte ihrer Zelle. Sie hat nicht gesehen, dass meine Flügel schwarz sind.
Und mein einstiges Sorgenkind Marian? Aus seinem Traum, wie einst sein Vater als Kapitän die Donau rauf und runter zu schippern, ist nichts geworden – sehr zur Erleichterung der Mutter und Großmutter; der alte Teodorescu hat vor drei Jahren das Zeitliche gesegnet. Marian hatte damals als Laufbursche in der Handelsfirma des Herrn Salomo ein wenig Geld zum Unterhalt der Familie hinzuverdient. Irgendwann fiel diesem auf, wie clever der Junge zu verhandeln verstand und nahm ihn nach Abschluss der Schule in die Lehre. Mittlerweile ist Marian als Handelsvertreter für den großen Herrn Salomo tätig. Insofern ist er nun doch ab und zu auf der Donau unterwegs. Während dieser Handelsreisen kennt er neben seinen Aufträgen nur ein Ziel: seinen Vater ausfindig zu machen, so wie er es als kleiner Bengel schon gewollt hatte. Aber nicht mehr, um ihn seiner Mutter zurückzubringen – denn diese ist inzwischen wieder verheiratet, und zwar gut und glücklich –, sondern um ihm zu zeigen, dass man auch mit Hummeln im Hintern der Familie treu bleiben kann.
Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, dass er noch einmal auf die schiefe Bahn gerät, denn er verdient gutes Geld und hat mit seiner charmanten Schlitzohrigkeit bei den Frauen großen Erfolg. Wenn er eines Tages seinen Vater ausfindig machen sollte, hätte er alles erreicht, was er sich vom Leben erhofft hat. Denn ein „gewiefter“ Geschäftsmann ist er inzwischen tatsächlich geworden.
Ich bin einigermaßen stolz auf den Jungen und bilde mir ein, meinen Teil dazu beigetragen zu haben. Wenigstens das bitte ich mir zu lassen, Virgil.
Für ihn war ich kein Engel, sondern ein Wolf. Und in der Tat habe ich damals für ihn gekämpft wie ein solcher.
Marian tat diesmal auch etwas für mich, denn er sah mir meinen Kummer an. Wie damals verwies er mich an Meister Elias, der noch immer in demselben Dachstübchen im Hafenviertel haust. Die Teodorescus aber sind längst in einen besseren Stadtbezirk gezogen, was Marian nicht davon abhält, seinem einstigen Meister dann und wann einen Besuch abzustatten und ihm etwas Geld zuzustecken.
Kürzlich schlürfte auch ich mit dem Rheumakranken ein Schälchen Salep, während ich ihm den Vorhang zu meiner Seele diesmal bereitwillig öffnete. Der Alte grunzte schwer und kratzte sich unter der mottenzerfressenen Zipfelmütze die graue Schläfe.
Zieh mit mir hinaus in die Wälder, mein lieber Junge, denn allein kann ich es nicht mehr, war seine Antwort.
So machten wir uns also auf den Weg. Frate führte ich am Zügel. Hin und wieder ließ ich den Alten aufsitzen, denn an manchen Tagen fiel ihm das Gehen schwer.
Während der ersten drei Tage unserer Wanderschaft sprachen wir kaum ein Wort. Abends in den Herbergen ließen wir es uns gutgehen und hörten den Erzählungen der Durchreisenden zu.
Am Ende des vierten Tages rasteten wir an einem Bachlauf und brachen das Brot zu Schafskäse und Zwiebeln. Ich führte einen guten Wein in meinem Schlauch, der rege zwischen uns hin und her ging.
Nun, was rätst du mir, Väterchen? Wie kann ich meine Schuld begleichen? Denn mit zu Kreuze kriechen ist es diesmal nicht getan.
Das käme auf einen Versuch an, nicht wahr?, krächzte der Alte. Doch das Allerwichtigste scheint mir zu sein, dass du dein Gleichgewicht wiederfindest. Erst wenn du dich selbst wieder zu schätzen gelernt hast, du wieder zufrieden mit dir bist, wird auch die Freude zu dir zurückkehren, eine Freude, die du mit anderen teilen kannst.
Ja, aber wie, Meister, wie stelle ich es an?
Indem du Nachsicht mit dir übst. Du musst dir erst einmal selbst verzeihen, bevor du es von anderen erwarten kannst. – Und nun hilf mir auf, Jungchen, wir haben noch eine weite Wegstrecke vor uns.
Langsam, aber zielstrebig schlugen wir uns durch den dichten Wald bis zur nächsten Lichtung und kamen schon bald zu Ursulas Herberge, wo sich sämtliche Wege kreuzen.
Am Abend des siebten Tages brachte ich den alten Mann zurück in seine Dachkammer. Meister Elias, sprach ich ernst, lange könnt Ihr nicht mehr so allein hier hausen.
Ich solle ohne Sorge sein, erwiderte er, während er sich ächzend auf sein Bett fallen ließ, Marian würde regelmäßig nach ihm sehen. Darüber hinaus habe sein Lieblingsneffe Levy, der journalistisch viel auf Achse sei, ihm ein Quartier in seinem Haus in Wien angeboten, wo noch weitere Verwandte lebten. Er wohne dort mit seiner lieben Frau und einem entzückenden Töchterchen ganz in Donaunähe. Denn ohne diesen verdammten Fluss vor der Tür, kicherte der Alte mit wässrigen Augen, halte er es nirgends aus.
So verließ ich den weisen Mann, erfreut, auf diesem Wege etwas über Klein-Levy in Erfahrung gebracht zu haben, und machte mich auf den Heimweg. Er führte mich schnurstracks zu Radas Hütte. Diesmal wurde ich nicht vom Klappern ihrer Schreibmaschine empfangen. Ich fand Rada hinter dem Haus, wo sie sich einen Gemüsegarten angelegt hatte und ein paar Hühner hielt. Sie jätete gerade das Unkraut zwischen Reihen von Paprika und Tomaten und sah verschwitzt zu mir auf. Misstrauisch wie immer blinzelte sie mir entgegen und verzog entzückt die Lippen, als sie mich erkannte.
Schau an, Blauauge beehrt mich mit seinem Besuch. Na, dann stell man deinen Gaul in den Unterstand dort, und pass auf, dass er mir mit seinem Schweif nicht meine Töpferwaren zerschlägt.
Da entdeckte ich in der geöffneten Schuppentür eine Töpferscheibe und auf den Brettern entlang der Schuppenwand etliche Rohlinge aufgereiht. Neben dem Schuppen stand ein Brennofen, der Teil der Sommerküche war. Und in dem erweiterten Unterstand, wo Frate einen Wassertrog und ein schattiges Plätzchen fand, standen auf frisch gezimmerten Regalen bunt lasierte Schalen und Krüge in traditionellen Mustern. Beeindruckt nahm ich einzelne zur Hand und begutachtete sie.
So, von dieser Kunst verstehst du also auch etwas, rief ich ihr zu. Du steckst voller Überraschungen, Rada.
Von deinen Schmeicheleien, Euer Hochwohlgeboren, kann ich mir nichts kaufen, entgegnete sie schroff wie immer. Also Finger weg, wenn du mir nicht eine Kiste voll davon abkaufen willst!
Ich tat, als ließe ich versehentlich einen Krug fallen und fing ihn knapp über dem Erdboden wieder auf. Da drohte sie mir mit dem Grubber.
Zum ersten Mal seit Langem wurde mir etwas leichter ums Herz. Es machte mich irgendwie froh, Rada bei Tätigkeiten wie Gärtnern und Töpfern zu sehen und dass sie aus ihrer elenden Hütte mehr und mehr ein heimeliges Zuhause machte. Denn ja, erstmals zierten bunte Sommerblumen in selbst getöpferten Kübeln die umlaufende Veranda. Und hatte die Hütte nicht sogar einen frischen Anstrich bekommen?
Ich staubte meine Kleidung ab, da rief mir Rada zu, ich solle den Waschzuber vorbereiten, auch sie sei verschwitzt.
So tat ich, mit einem unwillkürlichen Grinsen im Gesicht, und sah, dass das schlaue Weib sich vom nahen Bachlauf eine Zuleitung auf den Hof gelegt hatte, die in einem Auffangbecken mündete, sodass ich den Zuber unter dem Walnussbaum im Nu gefüllt bekam. Und dadurch, dass sich das darin stehende warme Wasser mit dem frischen mischte, war das Bad wohltemperiert und die reinste Wonne. Ich tauchte darin ein, noch bevor Rada ihre Gartenarbeit beendet hatte. Als sie um die Ecke kam, ließ ich sie aus meiner Satteltasche ein Stück Seife holen. Genüsslich seifte sie mir damit Rücken und Brust, und ich versprach, ihr die gleiche Wohltat angedeihen zu lassen.
Ich kann Dir gar nicht sagen, teurer Freund, wie erquicklich das Bad mir war. Als hätten die geschickten Finger dieser derben Schönheit sämtliche Schuld von mir gewaschen. Erstmalig nahm ich neben dem Duft der Seife auch den der Blüten wahr, lauschte dem Summen der Insekten, die über den sonnendurchfluteten Platz schwirrten, spürte die lauen Lüfte auf meiner noch feuchten Haut und merkte, wie sich all meine Sinne nach und nach wieder zu öffnen begannen. Und als ich später in einem frischen Hemd auf der Veranda eine Zigarette rauchte, während Rada bereits fröhlich vor sich hin summend mit den Töpfen am Herd klapperte, war ich erstmals nach sehr langer Zeit wieder voller Frieden und Freude.
Doch dieses Weib hat zu lange Männer bedient, um nicht zu bemerken, dass mir irgendwo der Schuh drückte. Wie damals schnitten wir schweigend Seite an Seite Gemüse, als sie plötzlich das Messer aus der Hand legte und mich auf einen Stuhl drückte. Sie zog sich einen Schemel heran und setzte sich geradewegs mir gegenüber. Abwartend sah sie mir in die Augen. Da gestand ich. Gestand ihr wie einem Beichtvater all meine Verfehlungen. Sogar noch gründlicher als diesem, weil ich genau wusste, dass ich von Rada keine Gnade zu erwarten hatte. Sie ist schonungslos. Außerdem ist sie an Beichten sämtlicher Art gewöhnt. Die Männer kämen nicht nur, um sich körperlich zu erleichtern, hatte sie mir schon damals erklärt, denn nicht alles sei für die Ohren des Popen geeignet und für die des Eheweibs erst recht nicht. Und den Saufkumpanen könne man schon gar nicht trauen, wer wisse schon, was diese im nüchternen Zustand alles ausplauderten … In der Art gingen damals ihre Reden.
Nun war es also an mir, mich bei ihr zu erleichtern, und ich tat es gründlich, auch im Hinblick auf meine Schuld an Cosmin, an dem ich beinahe achtlos vorübergegangen wäre, als ich kürzlich in Sinaia aus der Kirche trat. Er war ja nur einer von vielen, die dort an der Pforte hockten und die Hand aufhielten. Wie hätte ich in dem bettelnden Kriegsversehrten meinen einstigen Schulkameraden aus Hermannstädter Zeiten wiedererkennen sollen, den ich längst als Patent-Inhaber eine Professorenstelle innezuhaben glaubte? Erst als er mich mit Namen anrief, merkte ich auf und konnte nicht fassen, dass unser „Physiker“ im Staub gelandet war, um den Reichen und Vornehmen die Hände zu küssen und um Almosen zu betteln. Ich war geradezu schockiert und hätte beinahe unsere Bekanntschaft geleugnet. Doch dann half ich ihm auf sein verbliebenes Bein und fuhr mit ihm in eine Gastwirtschaft, wo wir gemeinsam zu Mittag speisten. Währenddessen erzählte er mir sein Schicksal. Ähnlich wie ich hatte auch er sich damals in den Tagen vor Ausbruch des Krieges vom Kampffieber anstecken lassen. Immer wieder seien ihm dabei meine Worte durch den Kopf gegangen, die ich zu Schulzeiten zu ihnen gesprochen hätte: dass es nämlich an der Zeit für uns Rumänen sei, endlich die Köpfe zu heben und uns zur Wehr zu setzen.
Da erinnerte ich mich wieder daran, dass mir das demütige Verhalten meiner rumänischen Mitschüler trotz offenkundigen Unrechts, das ihnen widerfuhr, mächtig gegen den Strich gegangen war. Kaum dass ich es hatte ertragen können, dass sie auch noch die andere Wange hinhielten. Mein Vater hatte mir beigebracht, dass wir Rumänen kein kämpferisches Volk seien, aber wenn wir unseren Siedepunkt erreicht hätten, gebe es kein Halten mehr, unser Todesmut sei legendär, denn so soll es schon zu Zeiten der Daker unter Decebalus Rex gewesen sein. Da jedoch auch ein Anteil keltisches Blut durch meine Adern fließt, war meine Kampfbereitschaft eher erreicht.
Wie hätte ich ahnen sollen, dass meine als Schulknabe gesprochenen Worte solch einen bleibenden Eindruck hinterlassen würden? Ich hatte Cosmin damit quasi eine Grille ins Ohr gesetzt, die erst Jahre später zu zirpen begonnen hatte. Daher hatte er sich partout geweigert, weiter zur Schule zu gehen, er wolle fürs Vaterland kämpfen, für das rumänische Land auf der anderen Seite der Berge, hatte er seinen fassungslosen Eltern eröffnet. – Sein Vater war kurze Zeit später gestorben, die Brüder im Krieg gefallen, er selbst als Invalide zurückgekehrt. Fortan habe er allein für die Mutter sorgen müssen, aber nur selten Arbeit gefunden, ohne Schulabschluss und mit nur einem Bein. Ohne die vielen Anverwandten wären sie verhungert. Im Winter 1882 sei die Mutter an Diphterie gestorben und er bei einem Onkel untergekrochen, dem er äußerst lästig falle. Darum ziehe er es vor, außer Haus sein Dasein zu fristen, auf der Straße, bei den anderen, die im Kampf fürs Vaterland einen oder gleich mehrere Körperteile verloren hätten und anschließend am Bettelstab gelandet seien. Es wäre besser gewesen, wie seine Brüder aus dem Krieg nicht mehr heimzukehren, hatte er verbittert in seinen verfilzten Bart gemurmelt. Die Almosen, die er von der Regierung bekäme, reichten nicht einmal für eine eigene Unterkunft …
Je mehr er mir von seiner aussichtslosen Lage berichtete, desto größer wurde die Scham, die mich überkam. Und als er später auf seinen Krücken davonhumpelte, würgte mir die Schuld derart im Hals, dass ich meinte, daran zu ersticken.
Nachdem ich mit meinen diversen Beichten fertig war, schwieg Rada für eine ganze Weile. Schließlich erhob sie sich und kam mit einer Flasche Ţuica* zurück. Das will erstmal verdaut sein, sagte sie und nahm einen kräftigen Schluck, bevor sie sich ohne ein weiteres Wort wieder an den Herd stellte. Auch ich bediente mich vom flüssigen Obst, blieb aber auf meinem Platz sitzen und wartete.
Sie kippte Öl in den Topf, briet Fleisch mit Zwiebeln darin an und rührte zwischendurch hoch konzentriert die Mămăliga*, als ob sie meine Beichte bereits vergessen hätte. Dann endlich, nachdem sie das Gemüse zum Fleisch hinzufügt und das Ganze mit einem kräftigen Schwung Wein abgelöscht hatte, fing sie mit Bedacht an zu sprechen:
Jedes Wort, das du jemandem sagst, Blauauge, sei es Drohung oder Verheißung, mag diesen zu einem Schritt bewegen, der ihn ins Verderben führt. Doch selbst wenn du jemandem befehlen solltest, sich im See zu ertränken, und er es dann tatsächlich täte, wäre es dann deine Schuld? Hat nicht ein jeder die Verantwortung für sich selbst zu tragen und allein vor Gott Rechenschaft abzulegen? Denn schau, mein schwarzer Engel, vom Gehörten bis zur Handlung ist es ein weiter Weg, auf dem viel passieren kann. Eigene Gedanken können dazwischengeraten, Zweifel aufkommen, Auswege sich auftun, Hoffnung aufkeimen … Du kannst dir nicht die Schuld der ganzen Welt aufladen, Blauauge, denn das hat bereits ein anderer vor dir getan. Er ist dafür ans Kreuz genagelt worden.
Bist du denn eine Gläubige, Rada?
Muss ich Atheistin sein, nur weil ich die Welt so sehe, wie sie ist? Glaubst du etwa, ich komme in die Hölle, weil ich mein Leben als Dorfhure bestritten habe? Oder weil ich mich damals geweigert hatte, die Kröte taufen zu lassen? Sie lebt ja jetzt im Pfarrhaus, Gott hat sie sich nicht nehmen lassen. Und was meine Wenigkeit anbelangt, habe ich vielen Männern Freude geschenkt und deren Frauen vielleicht sogar noch mehr, da sie hernach von ihren Kerlen in Ruhe gelassen wurden. Mein Beruf mag in den Augen der Öffentlichkeit verwerflich sein, aber es gibt wohl kaum eine andere Tätigkeit, bei der man so wenig Schaden anrichten kann.
Du bist also mit dir im Reinen?
Und das solltest du auch sein, Niculiţa. Denn du bist nicht allein für euer familiäres Zerwürfnis verantwortlich, hast allenfalls einen tüchtigen Anteil daran. Es gibt darin noch andere Protagonisten, die Entscheidungen fällten. Auch sie sind zur Verantwortung zu ziehen. Gewiss trägst du eine Mitschuld, dass sich Schwester und Vetter nun in Gefahr befinden, davon kannst du dich nicht reinwaschen. Aber auch sie selbst tragen Schuld daran. Du hast noch nicht einmal den ersten Anstoß hierzu gegeben, denn der ist weit vorher erfolgt. Dein jähzorniger Ausbruch deiner Schwester gegenüber bleibt mir allerdings unbegreiflich, der tätliche Angriff auf deinen Cousin erst recht – ganz zu schweigen von deinem Gefasel von Besudelung der Familienehre. Ich habe zwar immer schon geahnt, dass ihr Hochwohlgeborenen diesbezüglich etwas verschroben seid, aber das ist mir der Theatralik und Bigotterie zu viel. Zumal du mit deinem Liebhaber dort hineingeplatzt bist, während deine Braut daheim auf dich wartete. Auch dein Schneewittchen ist keineswegs ein Unschuldslamm, das sich hat verführen lassen. Sie ist ein reifes Frauenzimmer von fünfundzwanzig Jahren, das ihre Wahl getroffen hat. Was bitte schön empört dich daran? Weil sie es ohne deinen Segen tat? Weil du davon nichts wusstest, ja nicht einmal ahntest? Fühltest dich wahrscheinlich in deiner Eitelkeit verletzt, weil du es eigentlich hättest wissen sollen, wenn du ihr gegenüber aufmerksamer gewesen wärest, oder wenn sie genug Vertrauen in dich gehabt hätte, sich dir zu offenbaren.
Eine Locke hatte sich aus Radas Haarknoten gelöst und war auf ihre bloße Schulter gefallen, die ihre verrutschte Bauernbluse freigab. Und während sie mich auf diese Weise rügte, rührte sie mit solch sinnlichen Bewegungen den Maisbrei im Topf, dass mir das Wasser im Mund zusammenlief.
Hast du dich jetzt genug als tragischen Helden gefeiert, Blauauge? Können wir jetzt wieder zur Tagesordnung übergehen?
So einfach ist das?
So einfach. Bei Zamolxis*, dein Vater wird’s schon richten!
Der Blick, den sie mir dabei zuwarf, ließ mich nicht daran zweifeln, dass sie eine Eingeweihte ist. Schließlich steht sie nicht von ungefähr unter unserem Schutz.
Und du, Rada?, sagte ich nach einer Minute des Schweigens. Warum ist deine Schreibmaschine verstummt?
Es ist alles niedergeschrieben. Mehr gibt es nicht zu sagen. Es sind sieben Hefte aus der Reihe „Die Waldhure“ entstanden, welche der Phantasie der Männer Flügel wachsen lassen. Mein Vermächtnis an die Nachwelt. Damit ziehe ich mich auf mein Altenteil zurück.
Das soll wohl ein Witz sein, lachte ich. Wie alt bist du, Rada, sag!
Alt genug, um mich die mir verbleibende Zeit zu schonen. Ich färbe mir schon seit Jahren das Haar und salbe allabendlich das Dekolleté.
Und wie hältst du deine Brüste so straff?
Das verrate ich dir nach dem Nachtisch, Frechling!
Wir haben es nicht bis zum Dessert geschafft. Sie hatte seit Monaten keinen Mann empfangen, und auch ich habe in letzter Zeit abstinent gelebt. Daher habe ich dieses kecke Weib genossen wie eine Süßspeise, von der man nicht genug bekommen kann. Sie war sehr freigiebig mit ihrem Nachschlag.
Für mich ist sie keine „keusche Hure“, als welche sie sich selbst gern bezeichnet, seit sie ihrer Profession nicht mehr nachgeht. Dazu hat der zarte Stoff ihrer Bluse zu viel durchblicken lassen sowie ihre wiegenden Hüften, während sie am Herd hantierte … Aber ich gerate ins Schwärmen.
Drei Tage blieb ich bei ihr und ließ mich bekochen und bezirzen. Und ob Du’s glaubst oder nicht, Virgil, es lag absolut nichts Frivoles darin. Die einzige Schamlosigkeit habe ich mir geleistet, indem ich ihre erotische Literatur zu illustrieren begann. Es sind bestimmt ein Dutzend pikante Skizzen entstanden, die uns beide befeuerten und die ich ihr als Andenken daließ. Wusstest Du, dass entblößte Hinterteile – sowohl weibliche als auch männliche – weitaus anregender sein können als Vorderansichten?
Ich schäme mich, wenn ich an meine Moralpredigten zurückdenke, die ich ihr als blauäugiger Knabe hielt – als Milchbart, wie sie mich damals titulierte. Und wie es mich empörte, dass sie meinen Vater in ihr Bett lockte und er sich dieses ohne mit der Wimper zu zucken auch noch gefallen ließ. Nur die Art, wie sie Gigi damals behandelt hatte, verzeihe ich ihr bis heute nicht.
Ich hätte nicht die blasseste Ahnung, wischte sie meinen Tadel beiseite. Und dann erfuhr ich, dass sie jeden Sonntag nach der Messe für Gigi kocht. Auch an jenem Sonntag brachte Rada ihre Tochter aus dem Pfarrhaus mit zu sich nach Hause, und ich staunte über die hübsche junge Frau, deren weiter Rock die verkrüppelten Extremitäten verbarg. Gigi strahlte über das ganze Gesicht, als sie mich erblickte, streckte ihre muskulösen Arme nach mir aus und rief lachend: Tanzen! Und so hob ich sie aus ihrem Rollwagen und schwang sie im Kreise über den Hof, während ich laut eine Walzermelodie nach der anderen dazu lallte. Und Rada stand in der offenen Tür und trug im Gesicht den Stolz einer Mutter.
Ich habe ihr Geld für eine Kiste voll Töpferwaren dagelassen.
Komm bald wieder, mein trauriger Engel, sagte sie und küsste mich zum Abschied auf den Mund.
Seit ich mir die Absolution dieser Waldhure abgeholt habe, geht es mir deutlich besser. Ich kann mir inzwischen manches verzeihen – gerade so, wie Meister Elias es von mir forderte. Er ist ohne Zweifel ein weiser Mann, denn sein Rat trägt bereits Früchte.
Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe, aber ich verdamme mich auch nicht mehr dafür. Über mich darf ohnehin nur einer richten, das hatte mir Preot Ştefan bereits mehrfach versichert, als ich die erste Zeit mehr in unserer Dorfkirche als daheim verbrachte. Das wilde Weib hat mich bezähmt – welch Ironie!
18. Juli 1893
Lieber Virgil,
seit Tagen schon laufe ich kopflos durch die Gegend. Mein Vater hat seine Ankunft im Karpatenschloss angekündigt, zusammen mit Tante Judith. Das hat etwas Förmliches, etwas Offizielles. Mir klopft das Herz bei dem Gedanken, was er in Iaşi alles zu bereinigen hatte. Die Gefahr scheint gebannt, sonst würde er nicht heimkehren. Doch zu welchem Preis?
Es war dieser widerliche Marquis G., meines Vaters Zwillingsbruder, der dort sein Unwesen trieb. Schon letztes Jahr im Şuţu-Palast* hatte er Natalia und Dorin im Visier gehabt. Ich erinnere mich, wie sehr Dorin bei seinem Anblick erblasste sowie an die Worte meines Vaters, dass er ihn nicht bekämpfen könne, ohne sich selbst zu schwächen. Welchen Preis also hat mein Vater zahlen müssen für die Befreiung der beiden aus dessen Gewalt?
Wie sollte ich mich da nicht schuldig fühlen? Es ist über ein dreiviertel Jahr her, seit ich die Kerbe in unsere Familie schlug. Es wird höchste Zeit für eine Reparatur, damit wir wehrhaft bleiben.
Ich möchte endlich um Vergebung bitten. Ich möchte endlich, dass mir vergeben wird! Wie Rada so richtig sagte, bin ich nicht der Einzige, der zu diesem Zerwürfnis beigetragen hat, auch andere haben sich Verfehlungen vorzuhalten.
In meiner Gehirnschale strudelt alles durcheinander. Ich kann kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Ich habe Sorge, dass verkehrte Worte meinen Mund verlassen.
Es ist Victor, der mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter legt und mich zum Essen auffordert. Ich müsse bei Kräften bleiben.
„Hier, trink einen Schluck Wein, Nene*, damit du ruhiger schlafen kannst.“ Erstaunt blicke ich mein Brüderchen an. Woher will er wissen, dass ich unruhig schlafe? Woran will er das erkannt haben?
Jetzt schenkt er mir sogar ein aufmunterndes Lächeln!
Was ist mit ihm? Seit wann nimmt er Anteil?
Als ob er erwacht wäre aus seinem ewigen Dämmerschlaf. Es begann schon damals im Stadtpalast, als das furchtbare Donnerwetter über Elena und mich hereinbrach, kurz nachdem wir unserem Vater eröffnen mussten, dass Natalia mit Dorin verschwunden war. Wir hatten Tante Judith außen vor gelassen, sie war kaum angekommen und noch nicht in der Verfassung, so etwas mitzutragen. Aber gerade sie hätte mit ihrer besonnenen Art manches beisammengehalten, hätte uns wie Perlen wieder auf eine Schnur gefädelt, wie Elena meinte. Jetzt liegen wir in allen Ecken verstreut. Jemand muss uns aufsammeln und wieder zusammenfügen. Ich hege die Hoffnung, dass Tante Judith inzwischen so weit ist, diese Herkulesaufgabe zu bewältigen. Sie ist die Schnur, die uns zusammenhält. Das bekamen wir schon damals zu spüren, als sie plötzlich aus unserem Leben verschwunden war. Ohne sie war es nie mehr wie früher.
Inmitten dieser neuerlichen Krise, in der jeder einzelne von uns von der Schnur rutschte und ins Haltlose fiel und keine Kraft mehr fand, sich um den anderen zu kümmern, da trat plötzlich Victor vor und nahm die weinende Leonora auf seinen Arm. Jetzt fällt es mir wieder ein. Es muss der Tag gewesen sein, an dem er erwachte.
In diesem Augenblick sitzt er auf der Hofmauer und schaut unseren Jüngsten beim Spielen zu. Sein Blick ist konzentriert auf sie gerichtet, als würde er sie studieren, als wären sie Mäuse in einem Labor, deren Verhalten er beobachtet. Es fehlte nur noch, dass er sich Notizen macht.
Die kleine Julie ruft ihn, sie möchte auf das Fahrrad gesetzt werden, das ich Liviu letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt habe.
Es ist ganz einfach, antwortet Elena, als ich mich bei ihr nach ihrem Sohn erkundige. Victor ist erwachsen geworden. Sieh ihn an!
Natürlich ist er das. Er wird übermorgen achtzehn Jahre alt. Was allerdings nichts zu sagen hat. Übrigens ist er unserem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. So muss Papa in sehr jungen Jahren ausgesehen haben.
Victor trägt sein Haar schulterlang. Er will es so, obwohl es nicht der gängigen Mode entspricht. Während andere Jünglinge stolz ihre Manneszierde zur Schau tragen, rasiert Victor sich sorgfältig Wangen, Kinn und Oberlippe. Er legt Wert auf sein Äußeres, ist geradezu pingelig, was die Sauberkeit seiner Kleidung angeht. Er braucht dringend einen eigenen Kammerdiener.
Seine epileptischen Anfälle sind so gut wie zum Stillstand gekommen. Er scheint endlich in unserer Welt angekommen zu sein. Oft sehe ich ihn in den Annalen und Chroniken blättern. Ihm fehlt der alte Mihai, der ihm die Geschichte unserer Familie hätte näherbringen können. Elena führt die Chronik zwar sorgsam weiter, aber sie ist keine Verbliebene, sie hat nicht die Kenntnisse aus alten Zeiten, die Mihai mitbrachte, obwohl er ihr vieles in mündlicher Form überliefert hat.
Erstaunlich, mit welcher Geduld Victor Julie dabei hilft, auf dem Fahrrad das Gleichgewicht zu halten. Er läuft nebenher, um sie notfalls aufzufangen. So viel Aufmerksamkeit, so viel Fürsorge, so viel Einfühlungsvermögen – wo kommen sie nur so plötzlich her?
Sie sind ihm gekommen, während sie dir abhandenkamen, lieber Bruder, antwortet mir Elena, als wäre dies eine unumstößliche Tatsache. Einer muss ja auf uns achtgeben, fügt sie hinzu. Victor kam zu mir, als ich Tage und Wochen weinend daniederlag. Und er kümmerte sich um Leo, weil ich es nicht konnte. Bis dahin hatte er keinen Sinn frei für seine Mitmenschen, er studierte jahrelang die Natur auf Erden, dann die Gestirne am Himmel. Nun ist er bei den Menschen angekommen. Er sagt, wir seien das schwierigste Studienobjekt.
Da musste ich schmunzeln. Das sind wir also für ihn! Ich hatte mich schon gefragt, ob er sich nicht Notizen machen will.
Das tut er, erwidert Elena. Aber nur in seinem Kopf. Er verwahrt all seine Beobachtungen und Erkenntnisse darin.
Es müssen ungeheure Mengen sein. Wird man ihm sein Wissen je entlocken können?
Niemals. Sein Gehirn ist wie eine Schatztruhe, deren Schlüssel nur er selbst besitzt. Keiner sonst kann sie öffnen.
Was wird er mit seinem Wissen anfangen?
Das steht in den Sternen, lacht sie und reicht mir einen Löffel mit Bitterkirschkonfitüre und ein Glas Wasser. Ioana schaut lächelnd zu uns her, sie fühlt sich an alte Tage erinnert.
Cătălina sitzt neben ihrer Mutter und hilft ihr beim Entstrippen der Johannisbeeren. Ab und zu geht ihr Blick zu ihrem Spielkameraden aus Kindertagen. Es ist das erste Mal, dass ich sehe, dass Victor ihn erwidert.
Wenige Tage später
Lieber Virgil,
fast wäre mir das Herz stehen geblieben, als unsere Kutsche im Hof einfuhr. Ihr entstiegen nicht nur Papa und Tante Judith, sondern auch Natalia und Dorin! Elena stand neben mir und drückte mir die erkaltete Hand.
Ich vermochte der Begegnung kaum standzuhalten, Virgil.
Als Natalias Augen mich trafen, sprach der blanke Hass aus ihnen. Wortlos ging sie an mir vorbei und presste schützend ihr Kind ans Herz. Dorin nickte mir immerhin zu, bevor er meiner Schwester ins Haus folgte.
Wir sollten ihnen Zeit lassen, meinte mein Vater mit trockener Stimme und räusperte sich. Dann reichte er meiner Tante den Arm.
Ich blieb wie ein begossener Pudel im Hof stehen, zu keiner Regung fähig. Bis Victor mich ins Haus holte.
Man hat ihnen einen Salon nebst Boudoir in einem bisher ungenutzten Teil des Schlosses hergerichtet, der weit von meinen Gemächern entfernt liegt. Über eine Wendeltreppe gelangen sie in ihr gemeinsames Schlafzimmer, in das man die von Heinrich gezimmerte Wiege gestellt hat, in der Victor bereits lag.
Es sei nicht angemessen, stellt Elena klar, dass Natalia wieder ihr Jungmädchenzimmer bezieht. Das sei nun ebenso wie das angrenzende Spielzimmer zu Leonoras geworden.
Man vernimmt laute Jubeltöne daraus. Immer wieder hüpft das Kind freudig ihrer Mutter um die Beine. Und das Puppenhaus, ist das jetzt auch meins?
Es wird nach wie vor deiner Tante Nana gehören und später der kleinen Sofia. Aber gewiss wirst du in der Zwischenzeit damit spielen dürfen. Also gehe sorgsam damit um!
Leo kann ihr Glück kaum fassen.
Und auch Dorin habe nichts mehr im Gästezimmer verloren, er gehöre jetzt endgültig zur Familie, ob es mir nun gefalle oder nicht.
So gehen Elenas Worte, die während meiner häufigen Abwesenheit vom Hof die Renovierung der Zimmer veranlasst und beaufsichtigt hat. Denn sie ist die Domniţa*. Ich habe verstanden.
Ich ziehe es dieser Tage vor zu schweigen. Allein meine Anwesenheit scheint Provokation genug zu sein.
Natalia koste es eine unglaubliche Überwindung, dasselbe Dach mit mir zu teilen, ließ auch meine Tante mich wissen. Sie schenkte mir immerhin einen mitleidigen Blick, während Elena nach wie vor hart mit mir ins Gericht geht, seit Tante Judith hier ist sogar noch mehr. Sie kann mir einfach nicht verzeihen, dass ich sie damals nicht einweihte und über ihren Kopf hinweg entschied. Das rächt sich jetzt. In der Beziehung ist sie nachtragend, obwohl sie ernsthaft versucht, mir zur Seite zu stehen. Doch seit Natalia da ist, kippt die Stimmung zu meinen Ungunsten. Ich solle Rücksicht nehmen und Begegnungen meiden, das Schloss sei schließlich groß genug, raunte sie mir vorhin im Vorbeigehen zu.
Sind wir dafür alle hier versammelt? Um uns möglichst aus dem Weg zu gehen?, rief ich ihr hinterher. Sie stockte. Keine Sorge, das große Powwow wird eher stattfinden, als dir lieb ist, warf sie mir über die Schulter hinweg zu.
Ich würde also bald vor Gericht stehen, mit einer Horde von Anklägern mir gegenüber. Gibt es überhaupt noch eine Seele in diesem Haus, die zu mir hält? Oder wird Natalia restlos alle auf ihre Seite ziehen, wie sie es ganz offenbar bereits getan hat?
Auf die erste gemeinsame Mahlzeit wollte ich weise verzichten, aber mein Vater bestand darauf, dass die Familie vollzählig zu Tisch erscheine. Ich hätte mich dem zu stellen und es auszuhalten, das würde er auch von allen anderen erwarten.
Also löffelten wir stocksteif und schweigend unsere Suppe. Ich spürte ihre ätzenden Blicke auf mir. Beim Aufschauen begegnete ich den verächtlichen Natalias, den gekänkten Dorins, den strafenden meines Vaters, den betroffenen Elenas, den mitleidigen meiner Tante, den verständnislosen Leonoras und den beobachtenden Victors. Nach einer Weile legte ich den Löffel zur Seite und erhob mich. Ich bekam nicht den kleinsten Schluck mehr hinunter.
Es tut mir leid, Vater, aber Ihr müsst mich bitte entschuldigen. Wenn Ihr es wünscht, ziehe ich mich jetzt schon in den Kerker zurück, vielleicht können dann alle anderen endlich aufatmen und die Mahlzeit genießen.
Bevor mein Vater darauf reagieren konnte, sah ich Natalia entnervt die Augen verdrehen. Eine unbändige Wut stieg in mir hoch, und ehe ich mich zügeln konnte, schlug ich mit der Faust auf den Tisch. Dann verließ ich, ohne jemanden eines weiteren Blickes zu würdigen, den Speisesaal.
Zwei Tage später
Lieber Vigil,
am Nachmittag des nächsten Tages wurde ich zu meinem Vater zitiert. Als ich sein Arbeitszimmer betrat, waren dort schon alle versammelt. Elena saß zu seiner Rechten, Tante Judith zu seiner Linken. Vor ihnen auf einer Stuhlreihe nebeneinander saßen Dorin, Natalia und Victor. Letzter sah zu mir auf, als ich auf dem noch freien Stuhl neben ihm Platz nahm, die anderen beiden ignorierten mich. Ihre Blicke waren nach vorne gerichtet, auf den Richter mit seinen beiden Beisitzerinnen. Ich wunderte mich, dass ich nicht auf einer separaten Anklagebank Platz nehmen oder gar stehend den Verlauf des Prozesses über mich ergehen lassen musste.
Um es ein für alle Mal klarzustellen, begann mein Vater ohne weitere Einleitung, Elena hat während meiner Abwesenheit über sämtliche häusliche sowie familiäre Angelegenheiten die Entscheidungsgewalt. Sowohl du, Natalia, als auch du, Nicolae, habt sie übergangen und eigenmächtig gehandelt. Was dabei herausgekommen ist, wissen wir und brauchen es hier nicht zu vertiefen. Die von euch beiden in der Hitze des Gefechts getroffenen Entscheidungen haben zu einem gravierenden Einschnitt in unserer Familie geführt, der uns geschwächt und damit unnötiger Gefahr ausgesetzt hat. – Nein, Natalia, ich möchte keinerlei Rechtfertigungen von dir hören, fuhr er meiner Schwester über den Mund, bevor sie ihn überhaupt hatte öffnen können. Ihr beide werdet Elena um Vergebung bitten und gefälligst ihre Position fortan respektieren. Ich habe sie nicht ohne Grund zur Domniţa ernannt. Auch das Gesinde untersteht ihrer direkten Befehlsgewalt und nicht deiner, Nicolae!
Das war eine Anspielung auf die personellen Veränderungen, die ich damals ohne Rücksprache mit Elena am Hof vorgenommen hatte. Ich hätte Florin nicht ohne ihre Genehmigung zum Stallmeister befördern dürfen. Auch in anderen Angelegenheiten hatte ich mich über sie hinweggesetzt.
Ich senkte den Kopf. Ich muss zugeben, dass mir Elena – so sehr sie mir als Knabe eine enge Vertraute war und ich sie später als meine große Schwester heiß und innig liebte – in den letzten Jahren aus dem Blickfeld geraten ist, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass ich oft woanders weilte. Überhaupt war ich häufig auf mich allein gestellt – sowie Natalia im Übrigen auch –, sodass wir es längst gewohnt waren, in sämtlichen Belangen unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Erst durch meines Vaters Rüge wurde mir klar, dass ich neben ihm auch Elena zu gehorchen habe.
Nachdem mein Vater uns unter seinem tadelnden Blick eine Weile hatte zappeln lassen, kam er zum nächsten Punkt.
Zu meiner großen Freude kann ich euch heute verkünden, dass eure Tante endgültig in den Schoß der Familie zurückgekehrt ist. Sie wird uns, so wie schon damals, in allen Bereichen zur Seite stehen, und darüber hinaus. Doch dazu später. Ich bedaure zutiefst, dass ihre Rückkehr von derart unerhörten Feindseligkeiten unter euch Geschwistern – Victor ausgenommen – überschattet ist. Schon aus Rücksicht auf eure Tante erwarte ich von euch beiden, dass ihr euren Zwist unverzüglich beilegt und euch künftig mit der zu Gebote stehenden gegenseitigen Achtung begegnet.
Während dieser Worte breitete sich Bitterkeit in meinem Mund aus, ich sah quasi vor mir, wie Natalia kampfbereit die Hände zu Fäusten ballte. Die Waffen zu strecken, käme für sie nicht infrage, sie musste siegreich aus der Schlacht hervorgehen. Selbst wenn der Befehl unseres Vaters anders lautete.
Ich werde sie wohl auf ewig zur Feindin haben, Virgil.
Des Weiteren, so teilte mein Vater uns mit, haben sich Dorin und Natalia in Iaşi vermählt. Ich erkenne ihren Ehestand an, betonte er mit einem scharfen Blick in meine Richtung, und heiße meinen Neffen Dorin nunmehr als Schwiegersohn in der Familie herzlich willkommen. Ich wünsche beiden alles Glück der Welt. Wie ihr bereits sehen konntet, wurde ihre Liebe vor vier Monaten mit einem Töchterchen gekrönt, das vor ihrer Geburt unverschuldet zum Zankapfel geraten war. Ich wünsche, dass die Hochzeit sowie die Taufe der kleinen Sofia in unserer Welt nachgeholt wird, damit es der Familie vergönnt ist, an diesen beiden besonderen Ereignissen im Nachhinein teilzuhaben. Preot Ştefan steht jederzeit bereit. – Es hat mein Vaterherz zutiefst verletzt, dass du mir all dies vorenthalten hast, Natalia, und zwar nur aus dem einzigen Grunde, weil du ungefragt voreilige Schlüsse gezogen hattest. Wisse, mein Engel, dass ich längst in Erwartung gewesen bin, dass Dorin um deine Hand anhält, und mehr als bereit war, euch meinen Segen zu erteilen. Und um dem Ganzen einen glaubhaften Siegel aufzudrücken, Dorin, werde ich in Kürze bei unserem ehrwürdigen Vorfahren um deine Weihe bitten.
Ich hörte Natalias Atem stocken. Dann war es vorbei mit ihrer gestrengen Haltung. Sie fasste nach Dorins Hand, dem längst ob der wohlwollenden Worte meines Vaters stille Tränen von den Wangen tropften.
Mir hingegen hatte es gänzlich den Atem verschlagen, sodass ich nur noch verschwommen mitbekam, wie plötzlich alles in Bewegung geriet. Natalia lag auf einmal zu Elenas Füßen und tat Abbitte, die diese ihr unter Freudentränen gewährte und sie anschließend in ihre schwesterlichen Arme schloss, während Dorin vor meinem Vater kniete und ihm ergriffen die Hand küsste. Daraufhin wurde Tante Judith unter heißen Tränenströmen umarmt.
Es war ein einziger Reue-, Vergebungs- und Freudentaumel. Nur ich, der ich so sehr auf Vergebung gehofft hatte, saß unbeachtet auf meinem Platz und sah dem Spektakel wie ein Theaterzuschauer zu.
Doch es war kein Theater, Virgil. Sämtliche Ventile, die über so lange Zeit sorgsam verschlossen gehalten worden waren, schienen sich auf einen Schlag geöffnet zu haben und mit einem gewaltigen Zischen einen Strom zurückgehaltener Gefühle freizusetzen. Alle wurden davon mitgerissen. Nur ich blieb außen vor, als gehörte ich gar nicht mehr dazu.
Die Bitterkeit schnürte mir die Kehle. Gerade als ich beschloss, mich davonzuschleichen, legte sich eine Hand auf mein Knie. Es war diejenige Victors, der ebenso wie ich nur ein stiller Beobachter war. Wir waren beide nicht Teil dieses Szenarios.
Die Heilung beginnt, sagte er, mit Blick auf Natalia.
Diese hatte sich derweil an die Brust unseres Vaters geworfen, für den sie bereits wieder ein Engel war, und küsste ihn unter Freudentränen wieder und wieder. Sie hatte ihr Ziel erreicht – mit brachialer Gewalt, die ihr verziehen wurde.
Damit wieder zusammenwachsen kann, was durchtrennt wurde, hörte ich Victor eindringlich fortfahren. Damit unsere Familie wieder heil und ganz wird, Nenea Nicu. Nur so können wir überleben.
Wusstest du, Vicky, erwiderte ich mit trockenem Mund, dass mir unser Vater einst prophezeite, dass du mich eines Tages besiegen würdest?
Bin ich denn dein Feind?
Nein, aber der Sohn, der nie hätte geboren werden dürfen.
Damit ließ ich ihn sitzen und meine Familie sich selbst feiern.
Irgendwann später
Lieber Virgil,
ob ich womöglich unter Paranoia leide, fragte mich Tante Judith allen Ernstes. Wie sonst könne es angehen, dass ich überall Feinde vermute, sogar in der eigenen Familie.
Warum hat man mich dann so ausgiebig vor ihnen gewarnt? Und das von Anfang an! Mein Vorfahr war der Erste, der es tat. Ich solle niemandem trauen, so lauteten seine Worte. Meine Feinde lauerten überall, sogar in der eigenen Familie. Ich wusste mir damals keinen Reim darauf zu machen. Später erklärte mir Vater am Altar – auf dem mein totes Brüderchen Géza aufgebahrt lag, welches meine Stiefmutter Marcela nur wenige Tage zuvor geboren hatte –, dass mein wahrer Feind Victor sei. Denn er würde durch sein Dasein die Prophezeiung durchkreuzen und den Sieg davontragen – Nomen est omen! Und dann kam Dorin mit seiner Sage, die davon berichtete, dass nur einer der beiden darin beschriebenen Brüder, die sehr genau auf uns beide passten, überleben würde, und seine Tante ihm damals versichert habe, dass er derjenige sein werde.
Das kommt dabei heraus, wenn man Märchen studiert, antwortete meine Tante tonlos. Sie werden einem irgendwann zur Realität. Das gleiche Phänomen habe sie damals an Dr. Farrell festgestellt.
Damit erhob sie sich und verließ traurig den Raum, als hätte sie mich aufgegeben wie einen hoffnungslosen Fall.
Warum speiste man mich dann all die Jahre mit diesem Irrsinn?
Viel später, ich weiß nicht, wann
Lieber Virgil,
Ich fühle mich zerschlagen und zermalmt. Alles an mir fühlt sich taub an. Es ist wie ein immer wiederkehrender Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Ich möchte, dass er endlich vorbei ist!
Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, was wahr ist und was nicht. Ich bin wieder da angekommen, wo ich schon einmal vor vielen Jahren stand, als wenn ich mich ewig nur im Kreis gedreht hätte. Ich bin dessen so müde. Ich will nur noch schlafen. Doch selbst der Schlaf lässt mich nicht in Ruhe und schickt mir üble Träume.
Tante Judith hat mich anscheinend doch nicht aufgegeben. Sie sitzt an meiner Bettseite. Die Türen sind geschlossen. Mach, dass es aufhört, bettele ich wie ein kleines Kind.
Nicht mehr lange, verspricht sie mir und streichelt mir liebevoll übers Haupt. Sie strahlt Ruhe und Zuversicht aus. Als wüsste sie. Als wüsste sie, wie alles enden wird.
Sie trägt keine Schwesterntracht mehr. Auch keinen Arztkittel. Sie wirkt gelassen und sieht sehr jung aus. Wie frisch verliebt.
Bist du glücklich, Tante Judith?
Ja, sehr!
Ich freue mich für sie. Sie hat es verdient, glücklich zu sein.
Weißt du, wie es enden wird?
Sie nickt.
Woher weißt du es? Hast du es geträumt?
Er hat es mir verraten.
Verrätst du es mir auch?
Besser nicht …
Wir sind wieder in unserem alten Traumraum, nicht wahr?
Du hast dich schon als Knabe stets dorthin zurückgezogen, wenn du dich verletzt fühltest. Oft war ich an deiner Seite, um deinen Schmerz zu lindern.
So wie jetzt?
Jetzt sitzt jemand anderes dort.
Wer?
Du wirst ihn erkennen, sobald du ihn in dein Herz lässt.
Und wenn ich nicht will?
Du musst!
Warum?
Damit wir weiterexistieren können. Es braucht nur einen einzigen Menschen, der an uns glaubt. Nur einen, dem du deine Geschichte erzählen kannst …
Ihre Züge verschwimmen, ich sehe ihr Gesicht sich verwandeln, doch vermag ich es nicht zu erfassen. Mal glaube ich, Liviu darin zu erkennen, dann ist es Rose und zwischendurch auch Emily – zuletzt sogar meine Mutter.
Solcher Art sind meine Träume, von denen ich nicht einmal weiß, ob sie überhaupt welche sind. Vielleicht halluziniere ich auch, weil mich ein Nervenfieber ereilt hat. Oder ich liege in tiefer Ohnmacht und höre Stimmen aus einer Welt, die ich längst verlassen habe, während ich in einer anderen feststecke. Vielleicht ist das alles hier nur Wahn. Und falls es so ist, bist auch Du nur eine Fantasie, mein teurer Freund …
Adieu, Virgil, und gedenke mein! Vielleicht kann ich dann leben, denn es bedarf nur eines Menschen, der an mich glaubt …
In brüderlicher Liebe, Dein Freund Nicolae