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Der letzte Spross (6) – Die Versuchung

Was ist das, was ich hier in Händen halte? Ist es das Ende? Das Ende einer Familie? Einer Dynastie? Einer Welt? Oder doch nur eines Traums?

Diese Fragen schrieb ich in mein Tagebuch, nachdem meine Mutter mir die Briefe nach unserer Heimkehr aus England zu lesen gegeben hatte. Damals ahnte ich nicht, warum sie es tat. Ich vermutete darin eine Art Trostpflaster, weil wir meinen Vater nicht gefunden hatten. Sie weigerte sich jedoch, mit mir über deren Inhalt zu sprechen, geschweige denn zu erklären, wo sie die Briefe Natalias und Nicolaes so plötzlich herhatte. Wie gesagt, sie war Widder.

Ich hatte mir meinen eigenen Reim darauf gemacht. Ich war mir sicher, dass es mein Vater gewesen war, der ihr damals, nach so vielen Jahren, die verschwundenen Seiten aus Judiths Tagebuch per Einschreiben zugestellt hatte. Warum, ist nicht schwer zu erraten. Er wusste, dass sie kommen würde. Mit ihnen hat er sie damals geködert, und das dumme Ding hat sofort angebissen. Zu ihrer Entschuldigung muss gesagt werden, dass sie zu jener Zeit gerade mal sechsundzwanzig Jahre jung war und sich ziemlich freudlos durchs Leben schlug. Die politischen Protestbewegungen ihrer Generation gingen ihr auf gut Deutsch am Arsch vorbei. Sie kaufte sich die Single „All you need is love“ von den Beatles und kam sich mächtig revolutionär vor. Sie dudelte sie auf ihrem kleinen Kofferplattenspieler rauf und runter, bis die Nachbarin von nebenan mit dem Besenstiel gegen die Wand klopfte.

Später einmal sagte sie zu mir: Ich ging zurück an den Ort, wo ich meine Unschuld verlor und meine große Liebe zurückließ. Ich werde niemals wieder jemanden so lieben und zugleich hassen können wie ihn. Deshalb bin ich für diese Welt verloren.

Ich wusste nicht, dass sie tablettensüchtig war, diesen Begriff kannte man damals noch nicht. Man soff oder kiffte. Beides galt als hip und in gewissen Kreisen als gesellschaftsfähig. Tabletten warf man völlig unbedacht und bei jeder Gelegenheit ein. Man befreite sich halt von allem Unangenehmen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Schwangerschaften. Für Letzteres ging man sogar auf die Straße. Aber mit den Mein-Bauch-gehört-mir-Feministinnen hatte meine Mutter nichts am Hut. Es wäre ihr damals nie in den Sinn gekommen, mich abzutreiben, obwohl ich sie täglich an ihre Jugendsünde und Erblast, wie sie mich wenig schmeichelhaft titulierte, erinnerte.

Ob sie eine gute Mutter war, vermag ich nicht zu beurteilen. Sie war halt da und sicherte uns unser tägliches Brot. Ich war ein Schlüsselkind.

Ich neidete meinen wenigen Freundinnen ihre Hausfrauenmütter nicht, denn so hatte ich nach der Schule mehr Zeit für mich – für meine Malerei und meine Tagträume.

Ich habe viel geträumt als Kind, als Jugendliche noch mehr. Es waren viele Leben, die ich lebte. Meine Freundinnen kannten nur das eine.

Im Sommer 1967 – als meine Mutter nach England reiste, nachdem mein Vater sie mit der Zusendung der verschwundenen Tagebuchseiten dorthin gelockt hatte – habe sie die Bündel mit Nicolaes und Natalias Briefen aus dem Jahr 1893 im Cottage auf dem Küchentisch vorgefunden. Zwei Packen, jeweils zusammengebunden mit einer roten Schleife. Wie ein Geschenk, das dort die letzten sechs Jahre auf sie gewartet hatte.

Dies gestand sie mir sehr viel später in einem ihrer wehmütigen Momente, ohne daran zu denken, dass sie mir damit Blut zu lecken gab. So wie auch er kein Mittel unversucht gelassen hatte, das Erbe an sie weiterzureichen …

Die „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ fielen mir erst Jahre später in die Hände. Da hatte ich mein Erbe, ohne dass ich es gewusst hätte, bereits angetreten.

Nicolae: An der Quelle - Band 7

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