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Der letzte Spross (1) – Das Leben der Elke Hansen

Kürzlich fand ich beim Aufräumen einiger Schubladen die Reisenotizen meiner Mutter wieder. Sie hatte sie in ein dickes Heft geschrieben in ihrer mädchenhaft verspielten Schrift, ihre Punkte glichen kleinen Kringeln. Fast ist mir, als verströme das Papier noch immer den unschuldigen Geruch von Kaugummi und Zigarettenrauch – der Inbegriff der damals revoltierenden Rockabilly-Jugend, die noch keine Ahnung von der echten Jugendrevolte hatte, die nur wenige Jahre später über die westlichen Gesellschaften hinwegrollte und diese nachhaltig verändern sollte. Ob ausschließlich zum Besseren, darf bezweifelt werden. Die pastellige Doris-Day-Welt meiner Mutter jedenfalls wurde dabei brutal zerstört und durch schrille Flower-Power ersetzt. Sex & Drugs getarnt als Love & Peace. Erlaubt war alles außer Spießertum. Wie dieses definiert wurde, entschied eine einzige Generation und deren intellektuellen Unterstützer. In Deutschland stempelte diese die vorherige völlig undifferenziert zu Biedermännern, sprich Mitläufern, oder Nazis, sprich: Täter ab. Wer einen Gartenzwerg zwischen den Beeten stehen hatte und Volksmusik hörte, machte sich zwangsläufig verdächtig. Die Kohlroulade am Sonntag setzte dem Ganzen die Krone auf.

Meine Mutter war ein Kriegskind ohne Eltern, mit einem unbekannten Vater und einer Mutter, die plötzlich keine mehr war. So hatte es ihr eine auf einmal auftauchende Sippschaft verkündet. Meine Mutter wurde in mehrfacher Hinsicht komplett entwurzelt.

Eine Erbschaft rief sie damals, im Jahr 1961, von Deutschland nach England, wo ihr höchst Merkwürdiges widerfuhr. Ihre Erlebnisse hat sie in ihren Reisenotizen niedergeschrieben, die ich zu Beginn dieser Aufzeichnungen wortgetreu wiedergegeben habe.

Verwirrt reiste sie zurück nach Hamburg, die einzige Heimat, die sie bis dahin gekannt hatte. Nachdem ihre dort in dürftigen Verhältnissen lebende Ziehmutter ihr plötzlich die Tür wies, kam ihr ihre Heimatstadt mitten im heißen August plötzlich kalt und fremd vor. Sie schlüpfte vorübergehend bei ihrer Freundin Gisela unter, suchte sich eine Stelle als Stenotypistin bei einer großen Handelsfirma im Hafen, mietete eine muffige Bude mit Blick auf einen düsteren Hinterhof und ging sonntags zum Tanztee, in der Hoffnung … na, wie man eben damals meinte, sich einen Ehemann angeln zu können, um gemeinsam in eine vermeintlich bessere Zukunft zu segeln.

Es funktionierte nicht. In jedem jungen Mann, dem sie begegnete, suchte sie den von ihr offen gehassten und heimlich geliebten Percy. Diesen als bloße Urlaubsbekanntschaft zu bezeichnen wäre ein britisches Understatement. Sie vermisste seine meeresblauen Augen ebenso wie seine etwas dandyhaft nonchalante Art, den Duft seines teuren Rasierwassers ebenso wie sein Grübchen am Kinn.

Ein Teenie-Schwarm? Nein, eher ein Traumprinz, der wie eine Seifenblase zerplatzte, sobald sie ihn berührte. Zudem ihr Großcousin.

Mehr und mehr wurde ihr bewusst, dass er – sowie die noch inniger gehasste Tante Nelly – die einzigen Verwandten waren, zu denen sie hätte Kontakt aufnehmen können. Die andere Hälfte der Sippschaft lebte hinter dem Eisernen Vorhang. Fremde Leute, die aus einer fremden Kultur und einer fremden Kaste stammten.

Obwohl meine Mutter sich geschworen hatte, nie mehr nach England zurückzukehren, wo man ihr ihr ganzes bisheriges Leben gestohlen hatte, spürte sie mit Einzug des Herbstes so etwas wie eine unerklärliche Sehnsucht in ihrem Herzen. Sobald sie ihr düsteres Zimmer nach einem arbeitsreichen Tag betrat, kehrten ihre Gedanken zu dem Cottage zurück, in dem sie für ein paar herrlich zwanglose Sommertage mit Cola und Zigaretten gehaust hatte. Sie bestand immer auf den Ausdruck „gehaust“, will heißen: jenseits jeglicher Kontrolle und Benimmregeln.

Meine Mutter kehrte vorerst nicht dorthin zurück, denn wenige Monate später kam ich zur Welt. Wer eins plus eins zusammenzählen kann, braucht nicht mehr nach meiner Augenfarbe zu fragen.

Nicolae: An der Quelle - Band 7

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