Читать книгу Nicolae: An der Quelle - Band 7 - Aurelia L. Porter - Страница 14
ОглавлениеNATALIAS BRIEFE AN ZOE
Iaşi, 9. Januar 1893
Liebe Zoe,
wie schnell die Not einen beim Nacken packen kann. Heimtückisch und hinterrücks. Obwohl ich sie sich habe anpirschen sehen.
Mit einem mächtigen Satz hat sie zugeschlagen. Brutal und erbarmungslos. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und wir wären verhungert und erfroren.
Dorin hat eine Woche nach meinem letzten Brief endlich eine Anstellung bekommen, bei einem Leichenpräparator. Wenn er sich bewähre, würde man weiterschauen … Er sei sich nicht zu schade, ganz unten anzufangen, Hauptsache Arbeit, sagte Dorin und versuchte Zuversicht auszustrahlen. Es hat mir das Herz bluten lassen.
Bisher haben wir noch kein Geld gesehen. Lohn gäbe es erst Ende eines vollen, also dieses Monats. Noch nicht einmal den Anteil für die bereits im Dezember geleistete Arbeit wollten sie ihm im Voraus bezahlen. Wir hätten Weihnachten also am kalten Herd verbringen müssen.
Die Januarmiete jedoch wird am fünfzehnten fällig. Wenn wir bis dahin immer noch nicht zahlen können, sind wir obdachlos. Die alte Vettel wird kein Erbarmen kennen, das spüre ich. Sie wird uns trotz – oder sogar wegen – meines Zustandes auf die Straße setzen.
Meine mitgeschmuggelten Schmuckstücke habe ich längst versetzt, für die ersten beiden Monatsmieten und Lebensmittel. Alles bis auf die Perlenkette meiner Mutter, die mir Peter Cornelly einst schenkte. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie wegzugeben. Sie ist die einzige Schnur, die mich mit meiner leiblichen Mutter verbindet – und mit meinem Leben in England, das ich dieser Tage furchtbar vermisse. Ich habe nicht gewusst, was für eine glückliche Zeit mir dort beschieden war, obwohl sie mir damals keineswegs so vorkam. Aber das ist anscheinend das Los des Menschen, dass er sein Glück immer erst im Nachhinein erkennt.
Was blieb mir also anderes übrig, als mich vor Weihnachten heimlich auf die Suche nach Arbeit zu machen? Es bestand ja nun keine Gefahr mehr, dass ich Dorin dabei über den Weg laufen würde, wusste ich ihn doch in einem Leichenkeller.
So bin ich also tagelang durch die eisigen Straßen gelaufen und habe in allen Kontoren der Stadt nach Schreibarbeit gefragt. Immerhin bin ich des Maschineschreibens mächtig. Aber mit meiner Kugel, die sich beim besten Willen nicht mehr verbergen lässt, wollte mich keiner einstellen. Es bräuchte ja keine Festanstellung zu sein, nur für wenige Wochen, bis mein Kindchen da sei, bettelte ich. Darauf wollte sich erst recht keiner einlassen. Vielleicht hat aber auch mein walachischer Zungenschlag sie davon abgehalten.
Jeden Morgen studierte ich die Stellenanzeigen in den Zeitungen. Es werden vorwiegend Gouvernanten und Domestiken gesucht, aber dafür komme ich in meinem Zustand erst recht nicht infrage.
Zehn Tage vor Weihnachten war ich nahe am Verzweifeln. Dorin kam zu jener Zeit jeden Abend erschöpfter von der Arbeit zurück. Ich hatte ihm schon seit Tagen nichts anderes vorsetzen können als die immer gleiche Kohlsuppe, die ich jedes Mal mit mehr Wasser streckte. Brot hatten wir schon lange keines mehr gesehen. Wovon hätte ich es kaufen sollen? Das letzte bisschen Geld war für Feuerholz draufgegangen.
Es war ein eisiger Morgen, die Bürgersteige gefährlich glatt gefroren. Vorsichtig tastete ich mich zum Kiosk in unserer Nähe und las die Anschläge. Jemand suchte für seine erblindete Mutter eine Vorleserin/Gesellschafterin. Ich stellte mich umgehend vor.
Meine anderen Umstände seien kein Hindernis, versicherte mir das Hausmädchen, das mich einließ, denn die gnädige Frau würde ohnehin alle Gesellschafterinnen binnen einer Woche wieder vergraulen. Der Herr Sohn sei verzweifelt und kurz vorm Aufgeben.
Na, das ließ ja hoffen! Ich straffte die Schultern und machte mich auf die fürchterlichste Woche meines Lebens gefasst. Es war mir egal. Für einen Braten und eine Flasche Wein war ich bereit, alles über mich ergehen zu lassen. Etwas Entwürdigenderes, als nicht zu wissen, was man am Weihnachtstag auf den Tisch bringen soll, kann es wohl kaum geben.
Und wie es das gibt! Die ganz in Schwarz gewandete Patronin, die mit hochmütiger Miene auf einer Art Thron posierte, zerriss mich mit ihren blinden Augen in lauter Einzelteile, noch bevor ich ihren Salon richtig betreten hatte. Demonstrativ fächelte sie sich Luft zu, als das Mädchen mich zu ihr vorließ. Nachdem sie mich mit ausdrucksloser Stimme aufgefordert hatte näherzutreten, verzog sie angewidert das Gesicht und hielt sich ein Eau-de-Cologne-Tuch an die Nase, als würde ich stinken wie ein Fischweib. Bei aller Armut halten wir uns dennoch sauber, liebe Zoe, das kannst Du mir glauben. Auch wenn es statt Parfümseife nur noch Seifenflocken sind, die wir dem Wasser beimischen. Genauso sagte ich es ihr. Ihr anschließendes Entsetzen galt offenbar weniger meiner Dreistigkeit, unaufgefordert das Wort ergriffen zu haben, als vielmehr meinem Zungenschlag. Ja, sie habe ganz richtig gehört, versicherte ich ihr mit fester Stimme, ich sei Walachin und stolz, diesem Volk zu entstammen. Denn es sei aufrichtiger und arbeitsamer Natur, welches Handel und Händel meide, wie alles, was Habgier und Betrug mit sich bringe. Unsere Bauern und Hirten liebten Gott und ihren Heimatboden. Von ihnen sei niemals Böses ausgegangen, mit dem der Rest der Welt so gern herumstolziere.
Ihre wächsernen Züge, die unter der hohen Haube streng hervortraten, erstarrten nun vollends. Wie in Stein gemeißelt wirkten die senkrechten Furchen zu beiden Seiten ihrer markanten Nase, die in einem verkniffenen Mund endeten. Schwer hingen die dunkel umschatteten Lider über den getrübten Augen. Sie zeigte keinerlei Regung mehr. Fast zweifelte ich daran, einem menschlichen Wesen gegenüberzustehen.
Nachdem dies nun festgestellt sei, krächzte sie plötzlich in einer herben Stimmlage, ob ich nun vielleicht die Güte besäße, meinen Alphabetismus unter Beweis zu stellen.
Welche Lektüre auch immer, antwortete ich ihr.
Sie ließ es sich nicht nehmen, ein Heldenlied auf Ştefan den Großen auszuwählen, eine alte Schrift, die in Kyrillisch verfasst war. Herrisch wies sie mit ihrem Stock auf ihren gut bestückten Bücherschrank und beschrieb mir auf das Exakteste, an welcher Stelle sich das Werk befinde. Dann gab sie unter dreimaligem Klopfen ihres Stockes auf den Fußboden, wo sich bereits eine deutliche Kuhle im Parkett eingedrückt hatte, das Zeichen mit dem Lesen zu beginnen. Ihre ganze Pose zeugte von der Siegesgewissheit, mich mit dieser überaus anspruchsvollen Lektüre aus dem Rennen zu katapultieren. Aber unser Vater hat uns nicht umsonst eigenhändig die beste Bildung angedeihen lassen. Mühelos und mit der richtigen Intonation ließ ich Ştefan den Großen, Fürst der Moldau, auf- und hochleben. Die Gnädigste musste sich geschlagen geben.
Nun gut, sie wolle einen Versuch mit mir wagen, verkündete sie säuerlich, ich dürfe morgen wiederkommen.
Du kannst Dir meine Erleichterung nicht vorstellen, Zoe. Die Erleichterung darüber, eine Arbeit gefunden zu haben, vor allem aber, das Haus Basarab würdevoll vertreten zu haben, denn sie hat nicht mein Gesicht sehen können, während ich ein Loblied auf Ştefan den Großen und seine tapferen Bojaren sang. Bunic wäre stolz auf mich gewesen, dessen bin ich mir sicher.
Mögen sie hier in Iaşi über noch so gute wissenschaftliche Fakultäten und Kulturkreise verfügen, wir stehen ihnen in Bukarest in nichts nach. Es ist damals, nachdem Cuza unsere beiden Fürstentümer vereint und zum Staat Rumänien proklamiert hatte, nicht umsonst nach nur einem Jahr zur Hauptstadt ernannt worden, was den Iaşiern immer noch ein Dorn im Auge zu sein scheint.
Gleichviel, ich kam also fünf Tage hintereinander in das Haus der blinden Patronin, um ihr vorzulesen. Die ersten beiden Tage für jeweils zwei Stunden am Vormittag. Währenddessen ließ sie sich Tee servieren und knabberte Früchte und Gebäck. Sie kam keineswegs auf die Idee, auch mir etwas anzubieten, schließlich war ich nicht mehr als eine Dienerin. Dabei knurrte mein Magen überlaut. Immerhin saß ich in einem vornehm möblierten und geheizten Zimmer. Kaum dass ich noch weiß, wie es ist, nicht zu frieren, trotz des kleinen Ofens, den ich ständig in mir herumtrage. Hin und wieder gab die Gnädigste ein leises Seufzen von sich. Schwer zu sagen, ob aus Wohlgefallen oder Missbehagen.
Am dritten Tag forderte sie mich auf, am Nachmittag wiederzukommen. Es gelüste ihr ein wenig nach Baudelaire. Ich sei doch wohl des Französischen mächtig?
Ich käme gerne, erklärte ich ihr, aber wir hätten noch nicht über das Finanzielle gesprochen.
Dafür sei ihr Sohn zuständig, winkte sie ab, mit solch profanen Dingen gebe sie sich nicht ab.
Ich wolle zumindest wissen, mit welchem Lohn ich rechnen könne, denn der Weg zu ihr sei weit. Zumindest am Nachmittag müsste ich mir eine Droschke für die Heimfahrt leisten können.
Ich brauchte pro Strecke eine gute halbe Stunde und das Laufen fiel mir von Tag zu Tag schwerer. Das sagte ich ihr natürlich nicht.
Sie gab ein empörtes Schnaufen von sich. Ob ich nicht über ein Paar gesunde Füße verfügen würde? Was so ein junges Weibsbild sich kutschieren lassen müsse wie eine Grand Dame?
Ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass ich hochschwanger war, dann wäre ich die Anstellung sofort wieder losgeworden. Das Hausmädchen hatte bisher dichtgehalten.
Ich sei doch wohl bei guter Gesundheit?
So, wie sie die Frage gestellt hatte, war es ratsam, dies umgehend zu bejahen.
Na, also! Ihr Sohn sei Arzt und würde meinen Gesundheitszustand am Ende meiner Probezeit überprüfen. Sie wolle sich schließlich keine Seuche dauerhaft ins Haus holen. Erst dann gebe es Geld.
Wie lange die Probezeit denn –
So lange, wie sie es für richtig erachte, schnitt sie mir rüde das Wort ab.
Das gehe leider ganz und gar nicht, konterte ich in Hinblick auf unsere desolate Situation. Spätestens zum Ende der Woche wolle ich entlohnt werden.
Ich pokerte hoch, aber noch hatte ich ja nichts zu verlieren.
Wieder schnaufte sie verdrießlich. Nun gut, sie würde es von meiner Aussprache des Französischen abhängig machen.
Also kam ich am Nachmittag wieder – zu Fuß. Denn wovon hätte ich eine Droschke bezahlen sollen?
Ausgerechnet Baudelaire! Das soll ja wohl ein Witz sein, dass sich die alte Schreckschraube etwas aus Les Fleurs du Mal macht, und dann auch noch die Brüsseler Ausgabe, welche die in Frankreich zensierten Gedichte enthält! Sie wollte mich damit gewiss nur testen.
Zähneknirschend ließ sie mich bestehen. Man sah ihr an, wie sehr es sie ärgerte, dass an meinem Französisch nichts auszusetzen war und ich noch nicht einmal über die erotischen Verse ins Stolpern geraten bin.
Naja, grummelte sie, immerhin besser als die Muttersprache, was allerdings ziemlich traurig sei!
Ich erinnerte sie an die Bezahlung. Wann der Herr Sohn –
Er komme erst spät am Abend aus seiner Praxis heim, dort herrsche wegen der zurzeit grassierenden Grippe Hochbetrieb. Außerdem hätte ich mich im Deutschen noch nicht unter Beweis gestellt. Kleist und Hölderlin fänden sich auch in den Regalen.
Du meine Güte, seufzte ich innerlich. Mir blieb aber auch gar nichts erspart!
Um es vorweg zu nehmen, entgegnete ich, ich sei auch des Englischen mächtig. Falls ihr also der Sinn nach Shakespeare stehe …
So weit komme es noch!, prustete sie verächtlich – rein, weil der Vorschlag von mir stammte, versteht sich. Denn ich hatte sowohl Hamlet, Macbeth als auch den Kaufmann von Venedig im Regal stehen sehen.
Um es kurz zu machen, ich bediente sie auch am Folgetag sowohl am Vor- als auch am Nachmittag mit ausgesuchter Lektüre in allen möglichen Sprachen. Wieder erinnerte ich sie an die Bezahlung. Sie antwortete darauf nicht. Gedanklich sah ich uns Weihnachten bereits über der üblichen Schüssel wässriger Suppe sitzen.
Als die große Pendeluhr in der Halle fünf schlug, schlug ich laut Hölderlins Gedichtband zu und blieb auf meinem Stuhl sitzen.
Worauf ich noch warten würde, fragte die Gnädigste ungnädig.
Auf meinen Lohn, ich hätte jetzt bereits zwölf Stunden für sie gearbeitet.
Naja, Arbeit könne man das wohl kaum nennen, wich sie aus. Sie würde sich ohnehin fragen, wer hier wem einen Gefallen tue. Schließlich würde ich mir in ihrem gut geheizten Salon auf einem recht bequemen Stuhl die Füße ausruhen können und dabei auch noch in den Genuss geistig anregender Lektüre kommen, etwas, das man in Muntenia* – sie sprach es mit viel Verachtung aus – bestimmt vergebens suche.
Ich war drauf und dran ihr zu erzählen, dass ihr Bücherbestand einen lächerlichen Bruchteil dessen darstellte, was unsere Bibliothek daheim aufzuweisen hätte. Aber ich biss mir rechtzeitig auf die Zunge. Zu meinem Ärger knurrte mir in genau jenem Moment der Magen, und zwar überlaut und fordernd. Vor mir auf dem Tischchen stand eine silberne Schale mit süßen Waffeln, eine Kanne Kaffee verströmte ihren köstlichen Duft, und auch frisches Wasser und Konfitüre waren aufgetischt worden. Aber nichts von alledem war mir angeboten worden. Und auch jetzt machte die alte Hexe keinerlei Anstalten, mir in irgendeiner Weise entgegenzukommen.
Ich könne ruhig dort sitzen bleiben. Sie habe kein Geld im Haus, denn die Dienerschaft würde sich ihre Blindheit schamlos zunutze machen; die stählen wie die Raben.
Gut, erwiderte ich hochnäsig, da ich mit meiner Geduld am Ende war, dann solle sie ihren Sohn gefälligst bitten, etwas Geld für den nächsten Tag dazulassen, schließlich stehe Weihnachten vor der Tür. Oder ob sie sich den Ruf einer Mrs. Scrooge* erwerben wolle? Für den würde ich jedenfalls zu sorgen wissen, falls sie mich morgen wieder mit leeren Taschen fortschicke. Derartiger Tratsch fände in ihren Kreisen doch gewiss dankbare Abnehmer und Verbreiter.
Da sie nicht noch mehr erblassen oder versteinern konnte, hob sie ihren Stock und schlug damit mehrfach auf die Tischplatte, dass das Gedeck nur so klirrte und schepperte. Das Zimmermädchen kam hereingestürzt und rettete, was noch zu retten war. Sie schien an solche Ausfälle gewöhnt. Dennoch warf sie mir beim Hinausgehen einen strafenden Blick zu.
„Es liegt ganz bei Ihnen, Madame“, verabschiedete ich mich von der wutschnaubenden Patronin. „Sobald Sie mich anständig bezahlen, bin ich gerne bereit, weiterhin in Ihr Haus zu kommen und mich Ihren Gemeinheiten auszusetzen. Ansonsten: Adieu!“
„Halt!“, gebot sie mir mit donnernder Stimme. „Das letzte Wort ist in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen. A bientôt!“
Ich trat hart mit der Hacke meines Stiefels auf, bevor ich mich umwandte, um zu gehen. Sie schickte mir wüste Verwünschungen hinterher.
Im Flur sank mir das Herz zu Boden ob unserer verzweifelten Lage. Warum nur konnte ich nicht demütig den Kopf beugen und schweigen, der Patronin die Rechte küssen und mich ihrer Gnade unterwerfen, wie es mir all unsere Untertanen von frühester Kindheit an vorgelebt hatten? Mein Stolz brachte uns nun an den Hungerstab und demnächst auch noch um ein Dach über dem Kopf. Wenn wir doch bloß jemanden kennen würden in dieser verdammten Stadt!, dachte ich.
Noch vor Verlassen des Hauses, verlor ich die Fassung. Da fing mich das Hausmädchen ab, packte mich am Ärmel und zog mich eilig in die Küche. „Essen Sie!“, gebot sie mir und setzte mir einen Teller frisch gekochter Hühnersuppe vor. „Und halten Sie durch, ich beschwöre Sie! Bisher hat jede der Bewerberinnen spätestens am dritten Tage heulend das Haus verlassen, Sie sind die Erste, die –“
„Erst am vierten Tag heulend das Haus verlässt?“, fiel ich ihr ins Wort.
Bekümmert blickte sie mir ins Gesicht. „Kommen Sie auf jeden Fall morgen wieder“, beschwor sie mich flüsternd und schenkte mir einen zuversichtlichen Blick. Sie werde mit dem Herrn Sohn sprechen, sobald er nach Hause komme.
Was ihr daran liege, dass ich bliebe, verlangte ich zu wissen.
Ganz einfach, die Zeit, die ich mit der Gnädigsten verbrächte, sei die einzige, in der diese nicht auf ihr herumhacken könne.
Ich war verblüfft über diese ehrliche Antwort. Wir sahen uns stumm in die Augen, dann kicherten wir beide los.
„Psst!“, rügte sie mich, „nicht so laut! Die Gnädigste mag blind sein, aber ihr Gehör funktioniert umso besser.“
Und tatsächlich hörte ich die Patronin ungehalten nach Maria klingeln. Ich löffelte derweil in Ruhe meinen Teller leer und stopfte mir die Taschen mit dem zugeschobenen Brot voll.
Ich wollte mich gerade aus dem Haus schleichen, während Maria von ihrer Gnädigsten im Salon herumgescheucht wurde, als die Tür auf der anderen Seite des Flures aufging und ein Herr mit zerzauster Mähne in ihr erschien. Ich weiß nicht, warum, vielleicht weil sein unerwarteter Anblick mich erschreckte, oder weil ich mich wie ein Dieb auf frischer Tat ertappt fühlte mit meinen Taschen voll fremden Brotes, jedenfalls blieb ich wie angewurzelt stehen. Langsam kam er auf mich zu und wurde, je mehr er sich mir näherte, in seinen Schritten verhaltener, als glaubte er, ein Gespenst vor sich zu sehen, welches er fürchtete, zu verscheuchen. Und auch ich starrte ihn an, als wäre er ein Geist, unfähig zu irgendeiner Handlung oder gar einem Wort.
Wieso überraschte mich die Anwesenheit einer weiteren Person, die kein Dienstbote war, so sehr? Wieso war ich in dem Glauben gewesen, die alte blinde Frau schalte und walte allein in diesem Hause? Vielleicht weil niemand anderes als der stets abwesende Arzt-Sohn bisher Erwähnung gefunden hatte.
Inzwischen stand der zerzauste Kauz direkt vor mir und musterte mich mit schief gelegtem Kopf, während er sich den krausen Bart kraulte. Dann hob er seine Rechte und fuhr mit ihr langsam Millimeter für Millimeter in der Luft meine Kontur entlang, als überlegte er, ob ich wohl durch die Haustür passte. Sein Blick erfasste meine Gestalt jedoch nur am Rande, als nähme er mich gar nicht richtig wahr, als wäre ich nur eine Erscheinung, durch die man hindurchgreifen könnte. Schließlich ließ er die Hand wieder sinken und räusperte sich. Da erwachte auch ich aus meiner Starre, murmelte eine Entschuldigung und wollte mich zum Gehen umwenden.
„Nicht bewegen!“, gebot er mir streng. „Bleiben Sie, bleiben Sie genau so!“ Er rannte zurück in den Raum, aus dem er gekommen war. Ich hörte ihn wie wild darin hantieren. Nach einer Weile kam er mit einem Stativ zurück und baute es vor mir auf. „Ich bitte Sie, junge Frau, erlauben Sie mir, Sie abzulichten.“
„Ich muss gehen“, flüsterte ich, „ich dürfte schon längst nicht mehr hier sein. Die Gnädige –“
Jaja, er wisse schon, unterbrach er mich mit einer wegwerfenden Geste, aber es müsse sein. Er werde sich beeilen.
„Es geht wirklich nicht, mein Herr, ich werde zu Hause erwartet. Wenn mein Mann –“
Er bitte nur um einen winzigen Moment Geduld, der allein der Kunst geschuldet sei.
Es gehe leider nicht. Aber ich käme morgen wieder.
„Nein!“ Hektisch fuhr er sich durchs Haar. „Denn sehen Sie, dieser Augenblick ist einmalig. Dieses Licht … das Licht wird morgen nicht so sein wie heute. Nichts wird so sein wie heute, so wie jetzt.“
Dieser Moment sei einzigartig, fuhr er eindringlich fort, dieses Schattenspiel auf meinem Haupte, dieser verzweifelte Ausdruck in meinem Gesicht, die gleichsam wilde Entschlossenheit in meinem Blick, der Stolz in meiner Haltung … Mein Gott, ich müsse ihm einfach erlauben, eine Fotografie von mir anzufertigen, er würde mich auch gut bezahlen.
Augenblicklich wurde ich hellhörig. Ja, ich gebe es zu, Zoe, der Gedanke an Geld ließ all meine Grundsätze in einer einzigen Sekunde zu einem Häufchen Nichts zusammenschmelzen.
„Wie viel Geld?“, hörte ich mich bereits mit einer gewissen Gier in der Stimme fragen, vor der ich selbst erschrak.
„Sehr viel“, antwortete er.
„Und wann?“ Ich ließe mich auf keinerlei Handel mehr ein, die Patronin habe mich bereits um meinen Lohn geprellt, und in drei Tagen sei Weihnachten. Ich wolle sofort bezahlt werden.
Er habe kaum Geld im Haus, stotterte er ungeduldig, sein Bruder halte ihn knapp, aber er gebe mir alles, was er dahabe, wenn ich nur noch einen kleinen Augenblick warten könne … Damit lief er abermals zurück in sein Zimmer und ich hörte ihn hektisch verschiedene Laden aufziehen und darin herumkramen.
Alles wäre besser als nichts, ging es mir unterdessen durch den Kopf, selbst wenn es nur für einen Hühnerschenkel reichen sollte.
Ich ließ ihn sein Foto machen. Und danach noch eins. Die Patronin blieb in ihrem Salon und bekam von alldem nichts mit, dafür sorgte Maria, die auf die Szene aufmerksam geworden war, als sie das Teetablett hatte hinaustragen wollen. Sie hatte es kurzerhand auf einer Anrichte im Flur abgestellt und war zurück in den Salon geeilt, um der Gnädigsten den seltsamen Trichterapparat anzustellen, aus dem kurz darauf schrachelnde Töne kamen.
Maria sei die gute Fee im Haus, zwinkerte mir der Fotografen-Sohn zu. Ohne sie, ohne seine Maria … schüttelte er schelmisch den Kopf, während er an seinen Gerätschaften herumnestelte.
Als das Dienstmädchen kurz darauf erneut an uns vorbeihuschte, sah ich beide Blicke wechseln. Da konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Oh nein, nein, winkte er ab, es sei keineswegs so, wie ich dächte.
Wie dächte ich denn?
Hüstelnd winkte er ab und brachte meinen Kopf in ein seitliches Profil. Dann hob er sacht mein Kinn. Welch außergewöhnliche Eleganz, murmelte er unterdessen, welch amazonenhafter Reiz … Ach, es seien der Aus- und Eindrücke einfach zu viele. Der Herrgott müsse mich ihm geschickt haben! Er bitte mich inständig, am nächsten Tag wiederzukommen, er sei noch lange nicht fertig mit mir. Mein Gott, was für eine Erscheinung!
„Aber die Erscheinung muss sich dennoch ernähren“, erinnerte ich ihn.
„Sofort, Madame, sofort!“
Als er zurückkam drückte er mir einen Bündel Scheine in die Hand. „Bis morgen, Verehrteste“, flüsterte er, „bis morgen“, und schob mich unversehens zur Haustür hinaus.
„Aber …“ Erschrocken starrte ich auf den Batzen Geld in meiner Hand. Kein Wunder, dass sein Bruder ihn knapphält, die Zahlen auf den Banknoten scheinen ihm nichts zu sagen.
„Aber das ist viel zu viel“, rief ich ihm noch hinterher, doch da hatte er die Haustür schon zugeworfen.
Es war spät geworden, und ich hatte Sorge, dass Dorin vor mir zu Hause eintreffen könnte, darum leistete ich mir den unerhörten Luxus einer Droschke für den Heimweg – zumal meine Beine noch schwächer geworden waren nach diesem absonderlichen Erlebnis.
12. Januar 1893
Liebe Zoe,
erst heute komme ich zum Weiterschreiben. Die letzten Tage waren anstrengend. Immer häufiger zwingt mich bleierne Müdigkeit in die Knie, sodass ich mich über die Mittagszeit hinlegen muss.
Nach wie vor gehe ich am Vormittag für zwei Stunden zur blinden Patronin und lese ihr vor. Inzwischen habe ich tatsächlich Geld dafür bekommen, wenn auch nur wenig. Sie schob es mir diskret in einem Umschlag zu, was bei der Summe ziemlich lächerlich wirkte. Aber dies ist ohnehin nicht mehr der Grund, warum ich komme, das Vorlesen ist nur ein kleiner Nebenerwerb, bei dem ich mich – wie die Gnädigste gern betont – aufwärmen und ausruhen kann. Die Nachmittage habe ich auf eine Stunde verkürzt, die restliche Zeit gehört ihrem Sohn Ludovic, ohne dass sie davon wüsste.
Nachdem ich mich von ihr verabschiedet habe, werde ich von Maria hinausgeleitet, nur um – nach einem deutlichen Zufallen der Haustür – in Herrn Ludovics Atelier zurückzuschleichen. Ich sitze, stehe und liege ihm Modell für eine Portraitreihe. Meinen „Charakterkopf“ hat er bereits in allen möglichen Positionen abgelichtet.
Es sei ihm schon lange ein Anliegen, eine Schwangere zu fotografieren. Die meisten jedoch hätten Furcht, ihr Ungeborenes könne Schaden nehmen und seelenlos zur Welt kommen. Der Aberglaube, man stehle dem abgelichteten Körper die Seele, sitze tief in der einfachen Bevölkerung. Und gebildete Frauen – ich möge verzeihen – würden sich normalerweise für so etwas nicht hergeben. Modell zu sitzen, flüsterte er mir zu, habe stets etwas Anrüchiges.
Ich errötete bei diesen Worten. Noch bevor sich der Gedanke, eine moralische Grenze überschritten zu haben, meiner bemächtigen konnte, brach er in helles Entzücken aus.
Nein, diese schamhafte Unschuld verkörpert in einer werdenden Mutter habe geradezu etwas Heiliges! Ach, könne er die Fotografien doch nur farbig herstellen. So bleibe ihm nichts weiter übrig, als sie im Nachhinein zu kolorieren. Ein Hauch Rötel auf meinen Wangen werde gewiss Wunder wirken.
Diese Verehrung ging mir etwas zu weit. Und doch schützte sie mich vor der intimen Nähe in seinem Atelier. Der Künstler und sein Modell – das hat die Leute schon immer zu erotischen Phantasien angeregt. Aber Herr Ludo, wie ich ihn nennen darf, steht über solchen Dingen, er ist durch und durch ein Ästhet.
Ich wunderte mich laut, dass er kein Maler geworden sei.
„Ich war, mein liebes Kind, ich war!“ Jedoch habe niemand seine Bilder gewollt, gestand er leutselig. Er sei nicht modern genug, lege keinen Wert auf Grobes oder Gebrochenes, Geometrisches oder Gepunktetes. Er liebe klare Konturen, starke Kontraste, das Spiel mit Licht und Schatten als verstärkendes Element. Das unverhüllte Gesicht etwa, mit all seinen Nuancen, es selbst erzähle eine Geschichte; die gekräuselte Stirn, die geschürzten Lippen, die geweiteten Pupillen oder der halb gesenkte Wimpernkranz, all das lasse einen tiefen Blick in die Seele des Abgebildeten zu.
So?, fragte ich ein wenig kokett. Und was lese der Meister in der meinen?
Das sei es ja gerade, in der meinen finde er Alles und Nichts. Etwas Göttliches schimmere in ihr, etwas der Welt längst Entschwundenes, gleich der Wiedergeburt einer antiken Gestalt; der Persephone etwa oder der Hestia.
„Hestia“, lachte ich auf und blickte auf meinen Bauch. „Nun, für die ewige Jungfrau ist es jetzt wohl etwas zu spät.“
„Ach, ihr Frauen wollt alle immer nur eine Aphrodite sein“, klagte er. „Wer aber sorgt dann für Ordnung in der Unterwelt?“
In ihm sei übrigens in den letzten Tagen der Wunsch entstanden, mich zu malen, nur so für sich, für sich ganz allein. Nachdem er die Fotoreihe mit mir abgeschlossen habe, verstehe sich, denn dies sei nun einmal sein Hauptgeschäft. Man müsse auch in der Kunst mit der Zeit gehen und sich des Fortschritts bedienen, um en vogue zu sein. Die malende Zunft habe ihn damals verschmäht. Mich in Öl auf Leinwand zu bannen, damit wolle er sich lediglich einen ganz persönlichen Wunsch erfüllen.
Herr Ludo hat also noch einiges mit mir vor, Zoe. Aber die Zeit drängt. Lange werde ich ihm nicht mehr sitzen können!
Auf jeden Fall hat er unser Weihnachtsfest gerettet. Ich konnte uns von dem Geld, das er mir beim ersten Mal so zerstreut in die Hand gedrückt hatte, einen herrlichen Braten und eine teure Flasche Wein kaufen, von der ich vorgab, sie ganz günstig erstanden zu haben. Es reichte sogar noch für ein Geschenk. So kaufte ich für Dorin einen neuen Kragen samt Binder und war überglücklich, ihn damit überraschen zu können.
Er war gerührt, als ich vorgab, dafür meine Strumpfbänder aus Brüsseler Spitze versetzt zu haben, und beschämt, weil er mir kein Geschenk hatte kaufen können. Erinnere Dich, Zoe, dass er zu jenem Zeitpunkt vergebens um einen Lohnvorschuss gebeten hatte.
Was dies zähle?, beschwichtigte ich ihn. Hauptsache sei doch, dass wir beide unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest in Zweisamkeit …
Da fiel er vor mir auf die Knie und beugte sein Haupt. Zitternd griff er nach meinen Händen.
„Taliţa, mein Herz“, flüsterte er und sah mir verzagt in die Augen auf. „Taliţa, willst du hier und heute meine Frau werden?“
Ich musste lachen. „Aber Dodo, bin ich das nicht schon längst? Trage ich denn nicht dein Kind unter meinem Herzen? Wird die Frucht unserer Liebe nicht bereits in wenigen Wochen das Licht dieser Welt erblicken?“
„Im Geiste, gewiss, gewiss …“, murmelte er, „aber ist es nicht an der Zeit, bevor unser Kindchen kommt, unser Ehegelöbnis auch vor Gott zu bekunden?“
Und dann, Zoe, streifte er mir einen Ehering über den Finger, geflochten aus einer Strähne seines Haares, als Stellvertreter für den goldenen mit Brillanten besetzten, der folgen sollte, sobald …
Weiter kam er nicht. Weinend rutschte ich ihm in die Arme.
„Was sollen mir Gold und Edelsteine, wenn ich das Wertvollste bereits besitze?“, fragte ich ihn unter heißen Küssen. Und dann liebten wir uns so leidenschaftlich, wie es mein Umfang noch zuließ.
Er habe einen Popen bestellt, verkündete er mir hinterher, während er sich eine meiner Locken um den Finger wickelte. In dem Bezirk, in dem er aufgewachsen sei. Dieser habe ihn in den Kirchenbüchern ermitteln können und sei gewillt, uns auch ohne Papiere –
„Doch gewiss nicht ohne Geld!“, fiel ich ihm erschrocken ins Wort.
„Nun, das allerdings nicht …“
„Woher nehmen, wenn nicht stehlen, Liebster?“
Ich solle ohne Sorge sein, ein Kollege habe ihm ausgeholfen und etwas Geld vorgestreckt. Dieser sei von seinem Vorhaben derart gerührt gewesen …
Ich mache es kurz, Zoe. Wir sind seit Weihnachten offiziell Mann und Frau mit dem Segen der Kirche. Und den Haarring trage ich mit größerem Stolz als jeden Vierzehnkaräter.
Es war ein so feierlicher Augenblick, als wir anderntags zusammen mit seinem Kollegen und dessen Frau in einer Schlittenkutsche hinaus zum ehemaligen Anwesen seines Vaters fuhren, wo alles für die Hochzeit bereitet war. Frau Ileana hatte mir ihr Hochzeitsgewand zur Verfügung gestellt, Dorin trug dasjenige seines Kollegen Manuel. Und dann wurden wir nach altem Brauch in der kleinen Kapelle getraut. Ileana und Manuel hielten uns die Kerzen, während der Pope uns die Hochzeitskrone auf die Häupter setzte und den Hochzeitssegen über uns sprach. Zu fünft tanzten wir den Reigen um den Altar, zu fünft schmausten wir in einem der hergerichteten Zimmer in Dorins baufälligem Elternhaus, tranken und sangen und waren selig, als wir spät in der Nacht zurück in unsere dürftige Herberge fuhren.
Dorin, ganz stolzer Ehemann, trug mich auf Händen, trotz der schweren Last, die ich ihm mit Krümelchen in mir bot. Und in jener Nacht, unserer Hochzeitsnacht, liebten wir uns so zärtlich, als wäre es das erste Mal. Sehr behutsam und raffiniert ging Dorin mit mir zu Werke, sodass ich mehr als einmal vor Wonne in seinen Armen zerging. Ich weinte vor Glück, weil Dorin mir in unserer schier ausweglosen Lage den glücklichsten Tag meines Lebens beschert hatte. Was war dagegen ein lumpiger Kragen mit Binder? Selbst wenn er von meinem ersten selbst verdienten Geld gekauft war, von dem Dorin nichts wissen durfte, denn es hätte ihn zu sehr beschämt.
Die entrüsteten Blicke der alten Vettel, die sie uns am nächsten Morgen im Treppenhaus zuwarf, ignorierten wir ebenso, wie wir des Nachts das wiederholte Klopfen an die Zimmerwand ignoriert hatten. Trotzdem hörte ich sie grunzen, dass wir uns was schämen sollten. Wofür, frage ich mich.
18. Januar 1893
Liebe Zoe,
jetzt kann es nicht mehr lange dauern, bis Krümelchen aus mir raus will. Es ist lebhaft, vor allem in den Abendstunden. Dorin vermag kaum zu glauben, dass es so viel Platz in mir gefunden hat und fürchtet sich ein wenig vor der Niederkunft. Ich werde ohne Hebamme entbinden, schließlich habe ich einen Arzt im Haus. Er sei niemals bei Entbindungen dabei gewesen, gibt er zu bedenken. Aber davon will ich nichts hören. Es sei die natürlichste Sache der Welt, versichere ich ihm, bei uns in den Bergen bedürfe es dazu nicht einmal einer Hebamme. Meistens helfe die Großmutter im Haus. Die Baba würde nur gerufen, wenn Komplikationen zu erwarten wären. Manche Bäuerinnen würden ihre Kindchen sogar ganz alleine im Feld oder im Kuhstall gebären, es sich anschließend, eingeschlagen in ein Tuch, um den Körper binden und einfach weiterarbeiten, als wäre nichts geschehen.
Das läge in der kräftigen Konstitution der Bergbauern begründet, wandte Dorin ein, doch die zarten Palastweibchen …
Ich versetzte ihm einen tüchtigen Knuff. „Was fällt dir ein? Bin ich etwa ein Palastweibchen?“
„Bist du es denn nicht, Prinzessin?“ Dabei schaute er mir so liebevoll in die Augen, dass ich ihm nicht böse sein konnte.
„Nur damit du’s weißt“, flüsterte ich nach einer Weile und senkte den Blick, „während des Krieges gab es eine böse Zeit, da habe auch ich Schafe gemolken und Garn gehaspelt, Böden gefegt und Töpfe geschrubbt …“ Die plötzliche Erinnerung daran, was nun schon so viele Jahre zurückliegt, versetzte meinem Herzen einen dumpfen Schlag, sodass ich augenblicklich verstummte. Ich muss wohl noch blasser geworden sein, als ich es ohnehin schon bin, denn Dorin schaute mir entsetzt in die Augen und las alles darin. Wortlos nahm er mich in die Arme und hielt mich dort lange, ohne mich zu zwingen, das Grauen zu benennen. Dafür liebe ich ihn umso mehr.
Der kurze Rückblick in die Vergangenheit hatte zur Folge, dass ich meine Schwester schmerzlicher vermisse denn je. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass sie diejenige sein würde, die mich von meinem ersten Kind entbindet. Ich wünsche mir Elenas Beistand so sehnlichst, dass es mich beinahe schmerzt. Und nun ist es unmöglich geworden.
Wir sind auf uns gestellt. Auf uns ganz allein. Es gibt nur Dorin auf dieser Welt für mich. Er ist meine Gegenwart und Zukunft, mein Ein und Alles. – Es mag abgedroschen klingen, wie das tolle Gezwitscher einer Verliebten, es ist dennoch tief empfunden.
Wie seine Wolfsaugen leuchten, wenn er des Nachts über mich wacht; wie sehr er meine Empfindungen erspürt und mir umgehend das gibt, was ich brauche. Seine Arme umschlingen mich von hinten und seine Hände liegen warm auf meinem Bauch, während er seine kalte Nase in die Kuhle zwischen Hals und Schulter versenkt. Allein der Gedanke daran lässt mich lächeln und alles ertragen.
6. Februar 1893
Liebe Zoe,
mein Geburtstag naht – und der unseres Kindes. Dorin ist furchtbar nervös. Ich bin es nicht. Ich bin traurig.
Sobald unser Kind geboren sein wird, werde ich meine Erwerbsquelle verlieren. Dann werde ich weder der Gnädigen vorlesen noch Herrn Ludo Modell sitzen können. Dann wird alles wieder wie vorher sein: düster, armselig, hoffnungslos – den ganzen Tag in dieser zugigen heruntergekommenen Absteige mit lauschenden Ohren an den Wänden, der zeternden Vermieterin, den scheelen Blicken der Nachbarn … und nicht zu wissen, wann das Elend endlich ein Ende hat. In diese erbärmliche Welt werde ich unser Kind gebären.
Dorin hat vor einer Woche sein erstes Gehalt bekommen. Es war lausig wenig dafür, dass er den ganzen Tag im kalten Keller steht und Leichen herrichtet. Immerhin reicht es für die Miete und ein ganz klein wenig obendrauf. Aber dass wir aus diesem Loch bald herauskommen, daran ist vorerst nicht zu denken. Unser Kind wird in einer ihm unwürdigen Umgebung aufwachsen. Das sei er auch, sagt Dorin, und habe es überlebt. – Ja, nur wie!
Ich merke, dass ich nicht mehr dieselbe Geduld aufbringe wie noch vor Monaten. Dorin scheint die Preise auf den hiesigen Märkten nicht zu kennen, denn er wundert sich nicht einmal über das, was ich die letzten Tage auf den Tisch gebracht habe. Er glaubt, wir könnten alles von seinem Lohn bestreiten, und ich bringe es nicht übers Herz, ihm die Wahrheit zu sagen. Iaşi ist ein teures Pflaster. Den überwiegenden Anteil für Essen und Feuerholz bestreiten wir von meinem jüngst verdienten Geld, das ich mir gut einteile, damit es nicht auffällt. Doch wie soll ich, sobald meine Quelle versiegt und das Ersparte aufgebraucht ist, Dorin erklären, dass sein Verdienst zum Leben nicht reicht?
Vor lauter Dankbarkeit über das geheim gehaltene Arrangement zwischen Herrn Ludo und mir habe ich Maria ein Geschenk gemacht, denn ohne ihre Protektion wären wir verloren. Es waren Strümpfe aus
Merinowolle und eine Schachtel Pralinen. Erst hat sie mich ausgeschimpft, dann ist sie mir um den Hals gefallen. Ob bei mir der Wohlstand ausgebrochen sei? Sie ahnt ja nicht, wie viel Herr Ludo mir fürs Sitzen zahlt. Es war abermals ein unerhörter Batzen Geld, den er mir neulich in die Hand drückte. Er wird für viele Wochen Nahrung reichen und vielleicht noch für die Ausstattung unseres Krümelchens.
Maria, meine Wohltäterin, ist mir inzwischen zur Freundin geworden. Jedes Mal versorgt sie mich hinterher in der Küche heimlich mit Essen; mal mit Suppe und Brot, mal mit Bratenresten, manchmal sogar mit Kuchen. Einiges esse ich vor Ort, aber das meiste nehme ich mit nach Hause, damit auch mein Dorin etwas davon hat. Ich behaupte stets, es günstig erstanden zu haben.
Maria ist neugierig, was die Fotografien anbelangt, und will genau wissen, wie ich für Herrn Ludo posiere. Ich mache es ihr vor, damit sie nicht auf falsche Gedanken kommt, und wir amüsieren uns darüber königlich. Was ich ihr natürlich nicht gesagt habe, ist, dass Herr Ludo mich naturalistisch ablichtet. Ja, Zoe, es ist das, was Du Dir darunter vorstellst. Ich bin dabei so gut wie nackt, nur mit einem leichten, diagonal drapierten Tuch versehen, das mehr enthüllt als bedeckt. Es hat mich einige Überwindung gekostet, so zu posieren, aber als ich es dann tat, hatte es überhaupt nichts Anrüchiges an sich. Im Gegenteil, es macht mir Freude, meinen Leib auf so natürliche Weise zu präsentieren. Herr Ludo setzt mich dabei jedes Mal in ein vorteilhaftes Licht. Die Bilder sind also äußerst ästhetisch, und er bleibt stets korrekt, stets professionell. Nicht ein einziges Mal hat er eine unangenehme Situation entstehen lassen.
Warum ich getan habe, wofür mich alle Welt verachten würde?
Erstens weil ich schon damals in England das Bedürfnis hatte, meinen Körper Künstlern zur Verfügung zu stellen. Und zweitens weil der Betrag, den Herr Ludo sich dies kosten lässt, keiner weiteren Überlegung bedarf.
Ja, es war ein unverschämt unmoralisches Angebot. Aber ich wäre dumm gewesen, es auszuschlagen. Schließlich habe ich an uns und unser Kind zu denken. Ich sichere unser aller Überleben. Und was ist schon dabei? Außerdem kennt mich hier ja keiner. Selbst wenn Herr Ludo seine Fotografien ausstellen sollte, mache ich niemandem Schande, denn ich bin Frau Unbekannt, höchstens noch die Walachin oder die Frau des Leichenwäschers, wie die Leute im Haus mich nennen, weil sie sich unter einem Präparator nichts vorstellen, geschweige denn das Wort richtig aussprechen können.
Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Er wird von mir abprallen. Denn ich bin es tatsächlich – ohne Sünde.
14. März 1893
Liebe Zoe,
der Winter will einfach nicht weichen. Noch immer herrscht klirrende Kälte dort draußen. Seit Wochen hocke ich am fremden Ofen mit unserer kleinen Sofia, wie wir Krümelchen genannt haben. Sie lässt Dorin und mich jeden Tag aufs Neue staunen über das Wunder, das wir vollbracht haben, und hält uns am Leben.
Die Geburt war ohne Komplikationen, aber unerträglich lang. Sofia hat sich geziert. „Es wird ein Mädchen“, ahnte Dorin, „die müssen sich erst einmal hübsch machen, bevor sie vor die Tür treten.“
Woher nimmt er nur solche Großmutter-Weisheiten?
Dorin war die beste Hebamme, die ich mir hätte wünschen können, obwohl ich ihn fürchterlich gequält habe. Mehr als einmal musste er mir den Mund zuhalten, damit meine Flüche nicht unser kommendes Kind treffen. Zum Dank habe ich ihm in die Hand gebissen, sobald er sie fortgezogen hat. Auch habe ich unter den Wehen nach ihm geschlagen.
Die alte Vettel stand wutschnaubend in der Tür. Wir sollten gefälligst ins Geburtshaus gehen, wozu gäbe es diese wohl. Das habe man nun davon, dass man unzivilisiertes Volk bei sich aufnehme. Das sei der Dank für ihre Gutmütigkeit. Wir würden ihr noch die anderen Mieter vergraulen. Erst monatelang dieses Gestöhne, jetzt stundenlang dieses Geschreie …
Da wurde es Dorin zu bunt. Schämen solle sie sich!
„Schämen? Ich?? Auf die Straße setze ich euch! Sobald das Kind da ist, könnt ihr sehn, wo ihr abbleibt! Unverschämtheit!“
Eine Unverschämtheit sei vielmehr, konterte Dorin, dass sie an den Wänden horche, seine Frau ihrer Herkunft wegen beleidige und vor allem, dass sie für diese Drecksbude auch noch Geld verlange. Damit hatte er ihr die Tür vor der Nase zugeknallt.
„Morgen seid ihr draußen, mit Sack und Pack!“, hörten wir sie hinter der geschlossenen Tür keifen.
Wut und Verzweiflung ob dieser unfassbaren Herzlosigkeit hatten sämtliche Kräfte in mir gebündelt. Mit einer allerletzten gewaltigen Anstrengung habe ich unser Kind in diese Welt gedrückt. Doch statt vor Erleichterung und Freude zu weinen, weinte ich vor Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit und schämte mich schrecklich deswegen. Dorin musste sich allein um alles kümmern, nachdem ich völlig entkräftet in meine Kissen gesunken war; unser Kindchen von mir entbinden, es waschen und wickeln und mir an die Brust legen.
„Schau doch nur, Taliţa! Schau das Wunder, das du vollbracht hast. Schau, wie hübsch unser Kind ist. Und hab ich’s nicht gesagt? Ein Mädchen!“
Dem stolzen und überglücklichen Vater rannen die Tränen über die Wangen. Verzagt schaute ich zu ihm auf.
„Nur das ist es, was zählt, mein Herz“, sagte er. „Lass die alte Vettel reden, sie ist nur neidisch auf deine Jugend und Schönheit. Und darauf, dass du geliebt wirst. Von mir, und nun auch von unserem Krümel. Schau, wie kräftig ihre Fäustchen durch die Luft rudern und wie gierig ihr Mündchen nach deiner Brustwarze schnappt! Lass sie einen Augenblick saugen, dann gib sie mir, damit du dich ausruhen kannst. Und mach dir keine Sorgen, mein Herz. Wir werden schon irgendwie über die Runden kommen.“
Seine Zuversicht tat mir gut. Mir kam es so vor, als hätten wir die Rollen getauscht. Vorher war ich diejenige, die ihm Mut zusprechen musste. Jetzt war er der Stärkere von uns beiden. Und doch huschte ein kummervoller Zug über sein Antlitz, wenn er sich unbeobachtet glaubte.
Die alte Vettel hat ihre Drohung tatsächlich wahr gemacht, Zoe. Gleich am nächsten Tag hat sie uns die Kündigung unter der Tür durchgeschoben: wir hätten binnen vierundzwanzig Stunden die Wohnung zu räumen!
Die paar Habseligkeiten zusammenzukramen war nicht der Rede wert, nur wo sollten wir hin? „Zu Manuel und Ileana“, sagte Dorin. „Sie werden uns gewiss für ein paar Tage bei sich aufnehmen, bis wir etwas anderes gefunden haben.“
„Und wovon sollen wir etwas anderes bezahlen? Die im Voraus bezahlte Februarmiete wird uns das alte Weib bestimmt nicht anteilig erstatten. Sie hat durchblicken lassen, dass sie davon eine neue Matratze wird kaufen müssen.“
Entmutigt ließ ich die Schultern hängen.
„Das sehen wir dann, Taliţa. Erst einmal gehörst du ins Wochenbett.“
Natürlich stellten uns Ileana und Manuel ihren Diwan zur Verfügung. Aber auch ihre Wohnung ist klein, wenn auch etwas heller und besser ausgestattet. Ileana kümmert sich rührend um mich und Sofia. Sie hält den Ofen am Brennen, hilft mir das Kindchen zu versorgen und beim Wäschewechsel, kocht und backt, wäscht und wischt. Wir sind zum Mittelpunkt ihres Familienlebens geworden. Doch ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein eigenes Heim und komme mir furchtbar undankbar vor. Wir leben auf ihre Kosten, obwohl sie doch selbst so wenig zum Leben haben. Oft muss ich aus heiterem Himmel weinen, sodass ihrer kleinen Oana ebenfalls die Tränen kommen und sie nach dem Schürzenband ihrer Mutter greift.
„Dorin, mein Liebster“, sprach ich zu ihm nach zwei Wochen unter fremdem Dach, „bringe uns hier raus, ich bitte dich! Ich mag den Romanescus nicht länger zur Last fallen. Es sind herzensgute Leute, nur …“
„Ich weiß, mein Herz“, tröstete er mich, „ich arbeite daran. Spätestens nächste Woche, du wirst schon sehen.“
Aber ich sehe noch immer nicht, Zoe. Unterdessen wird Dorin immer blasser und stiller.
29. März 1893
Liebe Zoe,
am Ende der vierten Woche bei den Romanescus bat ich Ileana, nach Sofia zu sehen, nachdem ich sie gestillt hatte. Ich hätte etwas zu erledigen. Zunächst wollte sie mich nicht gehen lassen, es sei noch zu früh, dass ich vor die Tür ginge, und überdies viel zu kalt. Wohin ich denn überhaupt wolle?
Da hatte ich mir bereits meinen Mantel geschnappt, das Wolltuch um meinen Kopf geschlungen und war zur Tür hinaus. Ein frostiger Wind griff mit eisigen Pranken nach mir und zerrte mich hin und her. Erst da wurde mir bewusst, wie geschwächt ich noch war und zog den Schal enger. Ich wünschte mir die Pelzkappe zurück, die Liliana mir wegen der bitterkalten Winter hier oben mitgegeben hatte. Doch sie war eine der ersten Dinge, die ich habe versetzen müssen, um ein Stück Fleisch zu kaufen. Danach waren die gefütterten Handschuhe an der Reihe gewesen, gefolgt vom Fuchskragen, der den Mantel einst zierte.
Unsere Misere war einfach zu groß. Ich musste jemanden um Hilfe bitten, und zwar den einzigen Menschen, den ich in dieser Stadt außer den Romanescus kenne und der mir gut ist – Maria.
Sie freute sich, mich wiederzusehen, und schimpfte mit mir, weil ich mein Kind nicht mitgebracht hatte. Dann wollte sie alles wissen: wie die Geburt gewesen sei, wie es mir und dem Kindchen gehe und was mich herführe. Da erzählte ich ihr von unserem Unglück.
„Sie hat euch einfach auf die Straße gesetzt? Mitten im Winter? Mit einem ein Tag alten Säugling?“ Marias Stimme hatte sich vor Entrüstung überschlagen. „Was für ein Unmensch! Der Teufel soll die alte Vettel holen!“
Dann erzählte sie mir, wie ihre Gnädigste getobt habe, nachdem ich nicht mehr gekommen sei. Wie sich daraufhin ihre Laune täglich verschlechtert habe, obwohl dies ja kaum noch vorstellbar sei. Ihr Künstler-Sohn aber habe mich nicht verraten und sie glauben lassen, ich sei fortgezogen. – So mir nichts, dir nichts? Ohne ein Wort zu sagen? – Ein Notfall in der Familie, eine kranke Tante …
„Jaja, Tanten müssen immer für alles herhalten“, merkte ich mit einem kläglichen Lächeln an, als Maria mir das Gespräch zwischen Mutter und Sohn wiedergab, wobei ich die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen.
Wie sehr ich Tante Judith vermisse, Zoe! Sie würde für alles eine Lösung finden in ihrer ruhigen, pragmatischen Art, und kitten, was in tausend Scherben zersprungen ist.
Nun muss ich selbst die Dinge in die Hand nehmen, es ist schließlich nicht das erste Mal.
Ich räusperte mich und bat Maria um Hilfe. Sie sei ein so gütiges, treues und patentes Mädchen, vielleicht wisse sie eine günstige Bleibe für uns. Oder eine besser bezahlte Arbeit für meinen Mann.
Was er denn könne?
Er sei Arzt, in der Neurologie bewandert und neuerdings auch in der Forensik. Ich sah Marias Gesicht an, dass ich sie überforderte.
Also die letzten beiden Berufe kenne sie nicht, aber sie könne den Arzt-Sohn einmal fragen. Er sei ein viel beschäftigter Mann, wenn nicht in der Praxis anzutreffen, dann auf Hausbesuch. Sie wage ihm kaum in die Quere zu kommen, aber um meinetwegen …
Ich schlug mir vor die Stirn. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Nur wie hätte ich es anstellen sollen? Ich war dem Finanzmann in diesem Haus nie vorgestellt worden.
Ich küsste Maria vor Dankbarkeit die Hände und verabschiedete mich. Im Flur rannte ich in Herrn Ludo.
„Frau Popescu!“, grüßte er mich freudig – wir hatten uns einen Allerweltsnamen zugelegt, Zoe. „Wie schön, Sie wiederzusehen. Ist alles gut gegangen? Darf man gratulieren?“
Wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus, dann winkte er mich in sein Atelier. Er wolle mir etwas zeigen. Er hatte eine lange Leine von einer Wand zur anderen gespannt, an der die zuletzt gemachten Fotografien von mir hingen. Einige hatte er sogar vergrößert. Ich betrachtete mich voller Staunen. Die Bilder wirkten, als würde man heimlich durchs Schlüsselloch schauen und eine Schwangere beim Tagträumen überraschen oder bei der Zwiesprache mit ihrem Ungeborenen. In meinen Zügen lag ein Hauch von Melancholie, in den sich ein Schatten von Kampfgeist mischte. Mir war bis dahin nicht bewusst gewesen, dass sich meine Seele derart in meinem Gesicht abzeichnet. Oder lag dieser Eindruck nur im Auge des Betrachters? Sah nur ich mich so? Was sah Herr Ludo in den Aufnahmen?
Er sehe das Antlitz einer jungen Frau, welche die Weisheit von Jahrhunderten berge; einen jungfräulichen Leib, der die ganze Welt in sich trage, um sie vor dem Untergang zu bewahren und zu einem günstigeren Zeitpunkt von neuem zu gebären … Er brach ab und hüstelte verlegen. Er bitte um Verzeihung. Dankbar ergriff er meine Hand und küsste sie. Er werde mich über Maria wissen lassen, wann er sie ausstelle.
Vor ein paar Tagen sind wir in eine kleine, frisch renovierte Wohnung in einem anständigen Viertel gezogen. Es leben hier einfache, aber ordentliche Leute: kleine Beamte, Kontoristen, Händler und Fuhrwerksbesitzer. Die Möbel, die Dorin für uns erstanden hat, sind aus zweiter oder gar dritter Hand, aber gut erhalten und aufgearbeitet. Das Bett ist neu. Ich staune immer noch über diesen Luxus. Er sei befördert worden, teilte er mir kommentarlos mit. So plötzlich? So erheblich? Warum dann diese verhaltene Freude? Warum dieser trübe Schatten in seinem Blick?
„Darfst du jetzt mehr als nur Leichen waschen?“, neckte ich ihn.
Einbalsamierung sei eine Wissenschaft für sich, belehrte er mich, denn es komme auf die richtige Mischung und den exakten Zeitpunkt an. Aber er wolle mich nicht mit Einzelheiten langweilen.
Ich hätte hüpfen mögen vor Freude. Auch wenn die Wohnung nur aus zwei kleinen Zimmern und einer Kochnische besteht, so haben wir doch doppelt so viel Platz als vorher, darüber hinaus eigene Möbel und sogar ein Wasserklosett auf der Etage. Und auch der Ausblick aus dem Fenster ist ein wesentlich erfreulicherer.
Es geht bergauf, Zoe! Wenn jetzt nur noch der Frühling einzöge …
12. April 1893
Liebe Zoe,
irgendwas stimmt nicht! Ich weiß nur nicht, was. Dorin benimmt sich seltsam. Gestern hatten wir unseren ersten richtigen Streit.
Ich verstehe einfach nicht, warum er nicht bei Dr. Georgescu vorstellig werden will. Dieser hat ihm immerhin eine Assistentenstelle in einer Nervenheilanstalt in Aussicht gestellt. Ob das nicht besser sei, als tagtäglich in einem modrigen Keller mit Leichen zu hantieren, fragte ich ihn.
Weshalb ich mich da einmische, er habe doch gerade erst die nächste Leiterstufe erklommen, ob es mir nicht schnell genug damit ginge. Immerhin hätten wir mittlerweile ein anständiges Dach über dem Kopf, die Romanescus seien für ihre Auslagen entlohnt und Sofia sei sogar mit eigener Kleidung und einer Wiege ausgestattet worden. Und auch für mich sei ein neues Kleid dabei abgefallen. Ob ich die Zeit nicht abwarten könne.
Ich musste schlucken ob seiner Anschuldigungen. Natürlich wisse ich all dies zu schätzen, wir seien auf einem guten Weg. Ich hätte dabei lediglich an ihn gedacht. So ein Angebot würde einem ja nicht jeden Tag gemacht. Er könne es doch wenigstens einmal in Betracht ziehen.
Tote seien die durchaus angenehmeren Klienten. Ich hätte keine Ahnung, wie es in einem Irrenhaus zugehe; das ständige Geschrei und Gegrunze, der Gestank und das abscheuliche Gebaren – nicht zuletzt begebe man sich tagtäglich in Gefahr für Leib und Leben. Wohingegen Tote schlecht um sich schlagen oder einem an die Kehle springen könnten.
Schon gut, warf ich ihm entgegen, des Menschen Wille ist sein Himmelreich.
Hatte ich nun gehofft, er würde das Thema fallen lassen und sich wieder dem gebratenen Huhn auf seinem Teller widmen, so unterlag ich einem gewaltigen Irrtum.
Wie ich überhaupt zu dem Kontakt gekommen sei? Dr. Georgescu habe seine Praxis doch in einem ganz anderen Stadtbezirk.
Dieser sei über das Dienstmädchen eines seiner Kollegen zustande gekommen, das ich auf dem Markt kennengelernt hätte, antwortete ich, seinem Blick ausweichend.
Ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als jeder dahergelaufenen Magd zu erzählen, dass ihr Mann nicht imstande sei, ausreichend für seine Familie zu sorgen?
Mir fiel fast die Gabel aus der Hand, Zoe.
Doch, natürlich!, antwortete ich verärgert. Schon vor Wochen sei ich mit ihr ins Gespräch gekommen, und da habe sich eben herausgestellt, dass sie für einen Arzthaushalt arbeite. Was habe da näher gelegen, als das Thema anzusprechen, zumal wir zu dem Zeitpunkt nicht gewusst hätten, wovon wir unser tägliches Brot hätten bezahlen sollen. Er könne doch nicht von mir erwarten, dass ich in Zeiten der Not tatenlos zu Hause herumsäße.
Es gefalle ihm nicht, dass ich fremden Leuten Einblick in unsere Angelegenheiten böte, ich solle bedenken, dass wir inkognito in dieser Stadt lebten.
Ach, und der Pope, der uns getraut hat und den er dafür die Kirchenbücher nach seinem Familiennamen habe durchwühlen lassen?
Aber das dachte ich nur, denn die Erinnerung an unsere prekäre Lage fuhr mir wie ein Boxhieb in die Magengrube. Mit einem Mal wurde ich mir wieder der Gefahr bewusst, in der wir uns befinden. Zu sehr haben wir die letzten Wochen und Monate ums nackte Überleben kämpfen müssen, sodass ich sämtliche Vorsicht habe fahren lassen.
Doch nun, wo es uns besser geht und meine Gedanken nicht mehr von der Frage nach der nächsten Mahlzeit abgelenkt sind, kommt die Furcht zurück. Sowie das Heimweh, Zoe.
Am meisten macht mir jedoch Dorins Verstimmung zu schaffen: seine Anschuldigung, ich hätte unüberlegt gehandelt, seine Zurechtweisung auf einen Platz, den ich nicht einnehmen will. Ich warte nur noch darauf, dass er mir sagt, ich solle mich um Haus und Kind kümmern und alles andere, sprich: Wesentlichere, ihm überlassen.
„Tut mir leid, falls ich meine Kompetenzen überschritten haben sollte“, sagte ich säuerlich und schob meinen Teller zurück.
„Du wirst jetzt nicht vom Tisch aufstehen, wir sind noch nicht fertig!“, bellte er mich an.
Tränen schossen mir in die Augen, so erschrocken und gleichsam enttäuscht war ich über den rüden Ton, den er mir gegenüber anschlug. So kenne ich Dorin gar nicht. Mein Dodo wäre gerührt gewesen, dass ich die Initiative ergriffen habe, um ihm zu einer besser dotierten Stelle zu verhelfen. Nicht nur des Geldes oder der gesellschaftlichen Stellung wegen, sondern seiner Würde wegen. Er hätte mein Bemühen als das verstanden, was es ist: ein Liebesbeweis. Stattdessen fordert er Rechtfertigungen von mir ein.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass es erfüllend ist, tagtäglich in einem Keller zu stehen und totes Fleisch zu marinieren. Selbst wenn es nach deinen Worten eine Kunst und Wissenschaft darstellt und es irgendjemand für die Herrschaften tun muss. Aber warum du?“
„Kannst du das Thema nicht endlich ruhen lassen?“, funkelte er mich an.
Ich schluckte. Sein Blick war hart, unnatürlich hart. Ich saß mit einem Fremden am Tisch.
Als wir später zu Bett lagen, legte er seinen Arm um mich, aber ich schob ihn weg. Mehr noch, ich rückte von ihm ab. Eine plötzliche Kälte lag zwischen uns. Als wir fast am Verhungern waren, waren wir in heißer Liebe für einander entbrannt. Jetzt, wo es uns besser geht, droht sie zu erlöschen. Warum? Was ist geschehen?
Er drückte mir einen Kuss auf die Schulter, dann drehte er sich auf die andere Seite und schlief ein. Ich lag die ganze Nacht wach.
17. April 1893
Liebe Zoe,
ich bin kreuzunglücklich. Immer öfter sehne ich mich nach meiner Familie, nach meinem Zuhause.
Warum sucht Papa nicht nach mir? Hat er mich etwa aufgegeben? Ich weiß, dass ich diejenige war, welche die Bande durchschnitten, aber bei meinem Bruder hat er damals auch Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden. Und Nicolae war immerhin durch ganz Europa bis nach England geflüchtet. Ich befinde mich noch im selben Land, nur wenige Kilometer von der Heimat entfernt. Sind wir so gut darin gewesen, unsere Spuren zu verwischen?
Was ist mit Elena? Was mit Tante Judith? Sind wir ihnen denn inzwischen völlig gleichgültig geworden? Empfinden sie uns gar als Verräter, weil wir die Familie im Stich ließen? Aber so ist es doch gar nicht! Vielleicht aber wissen sie es nicht anders. Wer weiß, was Nicolae ihnen erzählt hat.
Zumindest die kleine Leo hat an mir gehangen, da bin ich mir sicher. Und auch Liviu. Selbst meinem Bruder Victor bin ich nicht ganz gleichgültig gewesen, obwohl er Zuneigung nur schlecht zeigen kann.
Sogar die Dienerschaft vermisse ich, vor allem meine Betty. Wie es ihr und ihrer kleinen Julie wohl geht – so ohne mich? Man wird sie doch wohl nicht entlassen haben?
Wenn ich in Sofias Gesichtchen schaue, muss ich weinen. Sie ist unverkennbar eine da Laruc, auch wenn sie dem Namen nach eine Dumitrescu ist.
23. April 1893
Liebe Zoe,
endlich hat die Sonne den Frost vertrieben. Die Straßen sind befreit von Eis und Schnee und die ersten Frühlingsblumen brechen durch die Krume und drängen ans Licht. So wie wir Menschen.
Dorin hat mir einen leichten Sommermantel gekauft mit passendem Hut. Nichts Aufwendiges, eher etwas Schlichtes, Unauffälliges, wie es mir durchaus gefällt. In Kornblumenblau, weil dies die Farbe der Saison sei, wie er mir erklärte. Er kennt sich darin besser aus als ich. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln und er war es zufrieden.
Darauf ist zu achten, Zoe, denn Dorin wird von Tag zu Tag mürrischer. Mehr als einmal habe ich versucht, den Grund für seine plötzliche Reizbarkeit zu ermitteln, aber vergebens. Auf meine Fragen zu seiner Arbeit antwortet er meist einsilbig. Dies macht deutlich genug, dass sie ihm lästig sind, also lasse ich es lieber.
„Bist du eigentlich glücklich, Dodo?“, fragte ich ihn neulich.
„Aber ja“, versicherte er mir. „Wieso auch nicht? Wir kommen doch jetzt gut über die Runden, und in
Zukunft wird es sogar noch besser gehen. Du wirst schon sehen!“
„Warum bist du dann so ernst und wortkarg geworden? Ich sehe dich kaum noch lächeln. Irgendetwas betrübt dich doch, ich sehe es genau!“
„Du irrst, Taliţa, ich bin nur müde von der vielen Arbeit.“
„Und wieso wirst du von Tag zu Tag blasser?“
„Wie sollte ich nicht blass sein nach dem langen Winter und da ich kaum das Tageslicht zu sehen bekomme.“
Derart gehen unsere Gespräche, Zoe. Es ist nicht so, dass er keine Freude an uns zeigte. Im Gegenteil, er liebt unsere kleine Sofia heiß und innig, wiegt und liebkost sie, und wenn sie nachts schreit, trägt er sie durch die Wohnung, bis sie sich wieder beruhigt. Auch lässt er zufriedene Seufzer hören, wenn er dabei zuschaut, wie Sofia aus meiner Brust trinkt oder ich sie in den Schlaf singe. An seiner Liebe zu uns zweifele ich keinen Augenblick. Aber trotz gegenteiliger Beteuerungen schwebt ein Schatten über ihm. Etwas Dunkles beschwert meinen Liebsten. Das Schlimmste ist, dass er es vor mir geheim hält. Er schließt mich aus von diesem Teil seines Lebens.
28. April 1893
Liebe Zoe,
wenn ich bloß aufatmen könnte wie alle anderen Menschen in diesen frühlingsdurchfluteten Tagen. Wenn ich doch nur auch heiter und unbekümmert meine Schritte durch den langsam ergrünenden Park vor unserer Haustür lenken könnte, dem sorglosen Gebrabbel meines Kindchens lauschend, das ich mir in einem Tuch um den Leib gebunden habe.
Sofia greift lachend nach meiner Nase und ahnt nichts von der Welt um sich herum. Ihre Welt sind Dorin und ich.
Ich habe auf einer Parkbank Platz genommen. Einige Kinder füttern die Vögel mit mitgebrachten Brotkrumen, während ihre Mütter oder Gouvernanten in einem Plausch beieinander stehen. Alles scheint in schönster Ordnung, bis sich mir wieder diese fremden Blicke in den Rücken bohren.
Neulich auf dem Markt, spürte ich sie zum ersten Mal. Doch wann immer ich mich umschaue, kann ich niemanden entdecken. Ich gehe meist über Umwege nach Hause, mich immer wieder umblickend, ob ich verfolgt werde. Es ist nie jemand zu sehen.
Gestern passierte es mitten auf dem Boulevard. Ich stand an einem Kiosk und las die Überschriften der Zeitungen. Da war mir, als erfassten mich abermals fremde Augen. Als sich mir die Nackenhaare aufrichteten, drehte ich mich blitzschnell um, sodass sogar ein Passant irritiert in meine Richtung schaute. Aber es war wieder niemand zu sehen, der mich anstarrte. Ich drückte Sofia fest an mich und eilte nach Hause.
Ich traue mich nicht, Dorin davon zu erzählen. Ich weiß nicht, was mich davon abhält. Vielleicht weil ich fürchte, dass er mir dann ein Ausgehverbot erteilt. Oder es ihm auf die Laune schlägt.
So weit ist es also schon gekommen, dass wir Geheimnisse voreinander haben. Er vertraut sich mir nicht an, ich vertraue mich ihm nicht an. Also vertrauen wir einander nicht mehr. So ist es doch?
8. Mai 1893
Liebe Zoe,
ich musste mich jemandem anvertrauen. Wenn Dorin nicht mehr zur Verfügung steht, muss eben jemand anderes herhalten. Ileana, die gute Seele, kommt dafür nicht infrage, ich kann nicht sicher sein, was sie ihrem Mann am Abend weitererzählt und ob es somit Dorin zu Ohren kommt.
Also bin ich wieder zu Maria gefahren, in das Haus der Patronin, zu den Vianus.
Zu meiner Überraschung war der Arzt-Sohn zu Hause. Ich war nicht darauf gefasst gewesen, ihm zu begegnen, und es war mir alles andere als angenehm. Natürlich fragte er mich, ob Dorin sich bereits mit seinem Kollegen Dr. Georgescu in Verbindung gesetzt habe. Ich log, dass er inzwischen anderweitig untergekommen sei und dankte ihm vielmals für sein Hilfsangebot, insbesondere, da er uns ja gar nicht kenne.
Nun, was meinen Gatten angehe, hätte ich sicherlich recht, entgegnete er mir mit einem Schmunzeln, doch was meine Person anbelange, habe er sich ein ziemlich genaues Bild machen können.
Ich errötete tief, als mir bewusst wurde, dass er auf die Fotografien seines Bruders anspielte.
Es gebe keinen Grund, sich dessen zu schämen, beschwichtigte er mich umgehend, er wisse nur zu gut, wie penetrant sein Bruder auftrete, wenn es um seine Kunst gehe. Zudem sei ich ganz offenbar in einer finanziell heiklen Situation gewesen. Aber das äußere Bild habe er eigentlich gar nicht gemeint. Vielmehr habe seine Mutter ihm in den höchsten Tönen vorgeschwärmt, was für eine außergewöhnlich gebildete wie couragierte junge Dame mit dem Wagemut eines wahren Helden ihr da ins Haus geflattert sei.
Diese Worte habe sie in Bezug auf mich benutzt?, fragte ich ungläubig.
Aber ja, lachte er, und noch viele mehr. Ich sei herrlich unverblümt, habe sie ihm erklärt. Am meisten habe ihr imponiert, dass ich ihr stets Kontra gegeben hätte. Sie sei so froh gewesen, endlich eine Gesellschafterin gefunden zu haben, die es mit ihr aufnehmen könne. Doch da sei ich bereits wieder von der Bildfläche verschwunden gewesen, wie im Übrigen auch auf den Fotografien seines Bruders, einfach in Luft aufgelöst – seltsame Sache!
Ich verstand nicht, doch er ignorierte meinen fragenden Blick.
„Treten Sie doch näher, Frau Popescu, und nehmen Sie Platz. Meine Mutter wird hocherfreut sein, Sie wiederzusehen.“
„Wird sie mich nicht eher in der Luft zerreißen, weil ich einfach weggeblieben bin?“
„Aber, aber, wenn die Familie ruft …“, zwinkerte er mir zu und streichelte Sofia übers Köpfchen. Erst da fiel mir wieder ein, dass eine in Not geratene fiktive Tante als Grund für mein Ausbleiben vorgeschoben worden war.
Wie ich der Gnädigsten das Kind erklären solle?, stotterte ich, ich hätte doch bloß Maria einen kurzen Besuch abstatten wollen.
Aber da war er bereits aus dem Raum, um seine Mutter aus ihrem Mittagsschlaf zu wecken.
Augenblicke später schob Maria einen Teewagen in den Salon.
Ob sie Sofia nehmen könne, solange ich der Gnädigsten meine Aufwartung mache?
Maria winkte ab. Ich solle mich nicht unnötig sorgen, Anton würde das Kindchen schon schaukeln, zwinkerte sie mir zu.
Ich begann mich unwohl zu fühlen in dieser seltsamen Inszenierung. Wieso nannte sie Dr. Vianu einfach beim Vornamen? Verwirrt schaute ich ihr ins Gesicht, da kicherte sie los: „Ich sagte dir doch, dass ich einigen Einfluss auf ihn habe!“
Wie blind ich gewesen bin! Dachte ich doch, sie hätte etwas mit dem Fotografen-Sohn, dabei hat sie etwas mit dem Arzt-Sohn.
Während meine Gedanken noch hin und her flogen, ging die Tür auf und Dr. Vianu geleitete seine Mutter in den Raum, gefolgt von Herrn Ludo. Die Patronin nahm wie üblich ihren Thron an der Tafel ein und befahl Maria, Kaffee auszuschenken.
Diesmal bekam auch ich eine Tasse gereicht – plus Konfitüre!
Was ihr die hohe Ehre verschaffe, meiner noch einmal ansichtig werden zu dürfen?, fragte Madame Vianu auf ihre gewohnt hochmütige Art.
Begünstigt durch die belustigte Miene ihres Arzt-Sohnes, kitzelte ihre Wortwahl auch mein Zwerchfell. Dr. Vianu machte eine aufmunternde Geste in meine Richtung.
Die Ehre, antwortete ich wahrheitsgetreu, habe eigentlich ihrem Hausmädchen Maria gegolten – woraufhin Madame dreimal mit ihrem Stock auf das Parkett donnerte.
Wie sie das bitte schön verstehen dürfe?
Erschrocken über das laute Geräusch fing Sofia an zu weinen. Ich wiegte sie und sprach beruhigend auf sie ein.
Wieder erklang das dreimalige Donnern, diesmal noch ungehaltener. Herr Ludo sah mit gerunzelter Stirn zu seiner Mutter hin und zupfte sich nervös am Bart, während sein Bruder, die Kaffeetasse auf dem übergeschlagenen Bein balancierend, dem Schauspiel sichtbar amüsiert beiwohnte.
Ich bäte sie inständig, dies zu unterlassen, forderte ich die Patronin auf, denn es würde mein Kind in Angst und Schrecken versetzen. Und wie um meine Worte zu unterstreichen, brüllte Sofia jetzt erst richtig los. Maria, die neben der Salontür wartete, trat vor und nahm sie mir ab.
Man erkläre sich ihr!, befahl die Patronin an alle gerichtet.
Daraufhin erteilte ich ihr die Auskunft, dass die Geburt meines Kindes mich davon abgehalten habe, sie weiterhin zu beehren.
Ein langes erdrückendes Schweigen folgte, währenddessen sie mit ihren rosa lackierten Fingernägeln der freien Hand auf den Rand des polierten Tisches trommelte.
Herr Ludo rutschte ungemütlich auf seinem Sitz hin und her, Dr. Vianu jedoch schien die Aufführung immer mehr zu genießen.
Man schäme sich also nicht, eine mit Blindheit geschlagene alte Frau skrupellos zu hintergehen und ihr Lügen aufzutischen? Nun denn, so weit sei es mit der Welt gekommen! Von den Domestiken habe sie nichts anderes erwartet. Aber von ihrem eigen Fleisch und Blut – wobei sie mit ihrem Stock in Richtung ihres Künstler-Sohnes wies – sei sie schwer enttäuscht. Er habe ja wohl sehen können, unter welchen Umständen ich damals ihr Haus betreten hätte, und nicht ein einziges Wort darüber verloren.
Herr Ludo senkte betreten sein Haupt und bat demütig bei der Frau Mama um Verzeihung. Er murmelte etwas davon, dass er dem keine Bedeutung beigemessen habe.
Die darauf einsetzende Stille war fast schlimmer als das Donnern des Stockes. Schließlich sprach die Herrin des Hauses in einem eisigen Ton, der alles um sie herum zum Gefrieren brachte: Da komme täglich eine hochschwangere junge Frau in ihr Haus, und ihr Herr Sohn messe dem keine Bedeutung bei, welche Art Spekulationen dies bei den Nachbarn auslösen werde?! Jedenfalls erkläre es das Getuschel und die seltsamen Andeutungen, denen sie um die Weihnachtszeit ausgesetzt gewesen sei. Nicht einer habe den Mut besessen, sich näher zu erklären, nichts als verlogenes Pack bis in die höchsten Kreise hinein! Und sie sei all dem Schmutz schutzlos ausgeliefert gewesen dank der Traumtänzerei ihres nichtsnutzigen Sohnes. Es sei nun endlich an der Zeit, die Nabelschnur zu kappen, sein seliger Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie sehr der Herr Künstler seinem hart arbeitenden Bruder auf der Tasche liege und nichts Besseres zu tun wisse, als das Familienvermögen durchzubringen. Dass er sich nicht schäme, sie so weit getrieben zu haben, sich vor einer Fremden derart zu vergessen …!
Sie ließ ein trockenes Aufschluchzen hören, bevor sie theatralisch ihr Spitzentüchlein aus dem Ärmel zog und an ihre schmalen Lippen drückte.
Herr Ludo, zu schwach, um etwas zu entgegnen, schien nur noch in Grund und Boden versinken zu wollen.
Nachdem sein Bruder sich an dieser Szene genug geweidet hatte, erhob er sich gewichtig, um seiner Mutter in fürsorglicher Manier die Hand auf die Schulter zu legen. „So beruhigen Sie sich doch, Mama“, sprach er wie zu einer seiner Patientinnen. „Sie wissen genau, dass Aufregung Ihrem Herzen nicht guttut. Wollen Sie Papa etwa bald folgen?“ – Vico sei nun einmal ein Spinner. Die müsse es auch geben. Aber Schwamm drüber, wichtig sei nur, dass ihre liebe Frau Popescu, wenn auch aus völlig anderem Grunde, in ihr Haus zurückgekehrt sei. Dies eröffne ihr nun die einmalige Gelegenheit, das Beschäftigungsverhältnis fortzusetzen, sofern die junge Mutter gewillt sei, sich ein gutes Zubrot zu verdienen und der werte Herr Gatte und Kollege nichts dagegen einzuwenden habe. So ein junger Familienhaushalt würde doch gewiss die eine oder andere Anschaffung benötigen. Die Vergütung als Gesellschafterin in Festanstellung sei natürlich eine beträchtlich höhere als zuvor, dessen möge ich versichert sein. Was die Beaufsichtigung des Kindchens anbelange, erweise sich Maria schon jetzt als äußerst kompetent, wie alle in diesem Raum bestätigen könnten, die sehenden Auges seien, aber auch der Frau Mama würde sich dies ob des zufriedenen Glucksens des Kindes übermitteln.
Da wurde es mir zu bunt, Zoe.
„Habe ich dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden?“, entfuhr es mir ungehalten. „Was ich zu tun oder nicht zu tun beabsichtige und zu welchen Bedingungen, entscheide ich immer noch selbst. Weder mein Mann noch die Herrschaften haben darüber zu befinden!“ Damit erhob ich mich inmitten der überraschten Gesichter.
Ich bedankte mich für den Kaffee und wollte gehen, da richtete sich die Patronin zu ihrer vollen Größe auf und schickte ihre Söhne und Maria aus dem Zimmer.
„Mein liebes Kind“, sprach sie zu mir in einem völlig veränderten Ton. „Es fällt mir nicht leicht, da ich es nicht gewohnt bin, doch bitte ich Sie sehr, mir die Freude Ihrer Gesellschaft zu machen. Falls es sich Ihrerseits nicht regelmäßig einrichten lässt, dann will ich mich eben mit gelegentlichen Besuchen zufriedengeben. Mein Sohn würde sich, wie bereits erwähnt, mehr als großzügig erweisen. Ich spüre doch, dass Sie nach einem standesgemäßen Leben verlangen, an das Sie ganz offenkundig gewöhnt sind und welches Sie – aus welchem Grunde auch immer – haben aufgeben müssen, ob verschuldet oder nicht, spielt für mich keine Rolle. Doch langweile ich mich noch zu Tode mit all diesen oberflächlichen Heuchlern um mich herum, die mir nur nach dem Munde reden.“
Kurz und gut, Zoe, ich ließ mich erweichen und versprach ihr, einmal die Woche vorbeizuschauen, das ließe sich wohl einrichten.
Mit einem gnädigen Nicken entließ sie mich.
Dieser ganze Zirkus hatte mich derart verwirrt, dass ich mein Anliegen, weswegen ich eigentlich gekommen war, völlig vergessen hatte.
Erschöpft nahm ich Sofia aus Marias Armen entgegen.
Sie freue sich schrecklich, uns nun regelmäßig zu sehen, sagte sie mit glänzenden Augen.
Sie habe also an der Tür gelauscht, schalt ich sie.
Natürlich, erwiderte sie. Sie müsse doch schließlich wissen, was im Hause vor sich gehe. Auf diese und noch andere Weise vermöge sie sich die Gunst des Herrn Doktor zu sichern.
Was für ein Theater, ging es mir durch den Kopf. Und nun gehöre ich unweigerlich mit zu der Truppe!
Als wäre das nicht alles nervenaufreibend genug gewesen, fing mich Herr Ludo wie vormals im Flur ab und bat mich auf ein Wort in sein Atelier. Nervös fuhr er sich mehrfach durch die krause Mähne und entschuldigte sich für die soeben erlittene Posse. Es tue ihm aufrichtig leid, dass ich Zeuge der widerlichen Inszenierungen seines Bruders geworden sei. Dieser setze seit klein auf alles daran, ihn bei der Mutter lächerlich zu machen, was ihm jedes Mal hervorragend gelinge. Das sei der Grund, warum allein sein Bruder mit den Finanzen der Familie betraut worden sei, er selbst sei so gut wie mittellos, ein Bittsteller im eigenen Haus. Umso wichtiger sei ihm im Laufe der Jahre seine künstlerische Arbeit geworden. Er habe gehofft, kurz vor einem Durchbruch zu stehen mit den Fotografien, die er von mir vor der Geburt des Kindes angefertigt habe. Der Herausgeber eines renommierten Kunstmagazins habe ihm für die anvisierte Fotoserie eine enorme Summe geboten, was ihm endlich die Anerkennung seitens der Familie eingebracht hätte, denn diese definiere den Wert einer Arbeit oder Person ausschließlich über Geld.
Ich begriff seinen schweren Stand in diesem Haus, hatte ich ihn doch in Reinform vorgeführt bekommen!
Erst da fiel mir auf, wie geknickt Herr Ludo wirkte, wie am Boden zerstört, was nicht nur mit der gerade erfahrenen Demütigung zu tun haben konnte.
„Was ist passiert?“, fragte ich. „Ist der Verleger abgesprungen?“
„Keineswegs“, antwortete er und holte eine Mappe hervor. „Sehen Sie selbst!“ Damit hielt er mir ein Album hin.
Was ich zu sehen bekam, verschlug mir die Sprache. Die Worte seines Bruders nahmen konkrete Formen an: Ich wäre von der Bildfläche verschwunden, hatte dieser eingangs zu mir gesagt, ich hätte mich einfach in Luft aufgelöst.
Wie hätte ich annehmen sollen, dass er dies wortwörtlich gemeint hatte?! Auf den Abzügen, die mir Herr Ludo bei meiner Stippvisite im März gezeigt hatte, war noch alles zu sehen gewesen: der Diwan, auf dem ich platziert worden war; die Kulissen, bestehend aus Paravent und hohem Farngewächs; das nur halb im Bild stehende Tischchen mit Buch, Lilie, Handspiegel und Wasserglas.
All das war auch jetzt noch zu sehen – nur ich nicht! An meiner Stelle war nichts als ein heller Schatten zurückgeblieben, als wäre ich einfach ausradiert worden.
„Ich verstehe nicht“, stockte ich, während ich hastig die Mappe von vorn bis hinten durchblätterte, nur um erneut das Unerklärliche zu erblicken. „Wie ist das möglich? Ich habe die Bilder doch mit eigenen Augen gesehen, als ich vor zwei Monaten hier war. War das Fixiermittel nicht in Ordnung? Ist während der Entwicklung Licht in die Dunkelkammer gefallen? Aber dann wäre ja von Anfang an nichts zu sehen gewesen und auch die Kulissen wären unscharf. Hat womöglich die Sonne zu lange auf die Abzüge geschienen, während sie auf der Leine hingen?“
„Nichts von alledem“, seufzte er. Er habe die letzten Wochen nichts anderes getan, als nach der Ursache zu forschen. Er habe alle Kollegen befragt, ob ihnen so etwas schon einmal widerfahren sei oder ob sie von solch einem Phänomen schon einmal gehört hätten. Doch keiner konnte sich darauf einen Reim machen. Er habe sämtliche Materialien geprüft, aber die Fotografien, die er davor und danach gemacht habe, seien tadellos. Ich sei einfach von Tag zu Tag blasser geworden, selbst nachdem er die Bilder in einer Mappe verwahrt habe, um sie vor Licht zu schützen. Es gebe absolut keine Erklärung dafür. Das Einzige, das ihm von mir geblieben sei, sei das Ölgemälde. Damit wies er auf seine in der Ecke stehende Staffelei, die er sorgsam abgehängt hatte.
Ob ich wohl die Güte besäße, nur noch ein einziges Mal … nur um zu sehen, ob es wieder passierte, parallel dazu eine Aufnahme von ihm selbst, damit er sichergehen könne, dass ihm kein Fehler unterlaufe … Doch diese einmalige Bilderserie sei ein für alle Mal verloren, schloss er traurig.
In dem Moment tat er mir unendlich leid, sodass ich einwilligte. Was für seltsame Begebenheiten!
Ich kam völlig verstört zu Hause an. Dorin war bereits da und forderte eine Erklärung für meine lange Abwesenheit von daheim. Ich war nicht in der Lage, sie ihm zu geben. Es kam zum Streit. Wieder einmal.
11. Mai 1893
Liebe Zoe,
es ist bereits das vierte Mal, dass Dorin abends nicht nach Hause gekommen und sogar über Nacht fortgeblieben ist. Es stünde zu viel Arbeit an, behauptete er, sie kämen mit den Aufträgen kaum noch nach. Doch menschliches Material lasse sich nicht auf unbegrenzte Zeit lagern, wie ich sicherlich wisse, schon gar nicht um diese Jahreszeit, darum fielen zurzeit zusätzliche Dienste an.
„Du kannst in meiner Gegenwart ruhig von Verwesung sprechen, Dorin, ich bin diesbezüglich nicht zimperlich.“
Betont rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander. Dafür gebe es immerhin einen hübschen Extralohn, den wir gut gebrauchen könnten. Er wisse, dass ich im Winter meinen gesamten Schmuck versetzt hätte, samt Pelzkappe und Fuchskragen. Er wolle alles daransetzen, dass ich diese Dinge wiederbekäme.
„Du bist mir wichtiger, Dorin. Mir wäre es lieber, ich könnte dich zurückbekommen.“
Getroffen wandte er seinen Blick ab, und ich widmete mich wieder still meiner Näharbeit. Ich wollte ihn nicht durch weitere Worte provozieren. Inzwischen habe ich gelernt, die Grenzen zu erspüren und an mich zu halten. Aber es kostet mich von Tag zu Tag mehr Kraft.
Neulich stand Dorin am Fenster und starrte mit verzerrtem Gesicht hinaus. Alarmiert fragte ich, was los sei. Doch noch bevor ich mich erheben konnte, um zu ihm zu eilen, wandte er sich zu mir um. Es sei nichts, versicherte er mir, er sei nur etwas überarbeitet und gehe darum heute früher zu Bett. Er küsste mich flüchtig auf die Stirn, bevor er die Schlafzimmertür hinter sich schloss.
Ich blieb allein zurück mit dem schmerzenden Druck in meinem Herzen.
14. Mai 1893
Liebe Zoe,
ich traue mich kaum noch aus dem Haus. Ich spüre, dass mir jemand im Nacken sitzt, jemand, von dem Gefahr ausgeht. Ich spüre es und fürchte um Dorin.
Was, wenn sie uns auf die Spur gekommen sind, unsere unsichtbaren Feinde. Deshalb vielleicht Dorins seltsames Verhalten. Er will mich nicht beunruhigen, darum sagt er nichts. Aber er ist in Sorge. Darum auch der vorwurfsvolle Blick, als ich neulich so spät nach Hause kam.
Oder werde ich allmählich nur hysterisch? Es soll ja eine für die Damenwelt typische Nervenerkrankung sein. Kein Wunder, wenn man sie immer nur zu Hause herumsitzen lässt und ihnen Wichtiges vorenthält. Dann nehmen die Gedanken eben ihren eigenen Lauf.
Gestern Abend hatten Dorin und ich einen dieser selten gewordenen zärtlichen Momente. Ich wollte die Gunst der Stunde nutzen, um zur Sprache zu bringen, was ihn umtreibt und sein Wesen dermaßen verändert. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen, dass er böse mit mir würde und sich mir wieder wie eine Auster verschloss – was er tat.
Er entgegnete mir, dass ich ihm den letzten Nerv rauben würde mit meinen ewigen Fragen, er wolle einfach nur seine Ruhe, wenn er nach Hause komme, das sei alles, das sei doch wohl nicht zu viel verlangt. Was mich fassungslos machte, waren weniger seine Worte als seine geballten Fäuste.
„Was passiert mit dir, Dorin?“, fragte ich zu Tode erschrocken, „Ich erkenne dich gar nicht wieder! Mir ist, als lebte ich mit einem Fremden zusammen.“
Sein Gesicht versteinerte, indes seine Augen um Hilfe schrien.
Ich breitete meine Arme aus. Er zögerte kurz, dann ließ er sich hineinfallen und wir hielten uns minutenlang umschlungen.
Plötzlich spürte ich Tränen auf meine Schulter tropfen.
Es war das erste Mal nach Sofias Geburt, dass wir uns liebten, Zoe.
„Vielleicht“, murmelte er in seinem befriedigten Zustand, vielleicht, mein Herz, war es ein Fehler, dass wir das sichere Nest deines Vaters verließen; vielleicht wäre es besser gewesen, sich in die Verbannung schicken zu lassen; vielleicht …“
Wütend unterbrach ich ihn: „Wäre es auch besser gewesen, man hätte uns unserer Sofia vorzeitig beraubt? Du scheinst vergessen zu haben, dass mein Bruder sie mir hat aus dem Mutterleib reißen wollen. Und nicht nur sie, auch dich wollte er mir entreißen, Dorin. Wir wären auf immer getrennt gewesen. Wäre auch das besser gewesen? Willst du mir das damit sagen? Liebst du mich denn gar nicht mehr? So kommt es mir zuweilen jedenfalls vor.“
Die Antwort bestand aus Tränen, vermengt mit leidenschaftlichen Küssen.
Wodurch sind wir nur so unglücklich geworden, Zoe? Ich weiß es einfach nicht.
17. Mai 1893
Liebe Zoe,
mittlerweile freue ich mich auf die Tage bei Frau Anca, wie ich Madame Vianu inzwischen nennen darf, und habe sie deshalb auf zweimal wöchentlich erhöht. Sie lenken mich bestens von meinen düsteren Gedanken ab. Der anschließende Plausch mit Maria in der Küche tut mir ebenfalls gut.
Allerdings weiß ich nicht, ob ich die Beziehungen zum Hause Vianu fortsetzen kann, ob ich dort in Kürze überhaupt noch geduldet bin.
Dr. Vianu kam letzte Woche früher aus seiner Praxis nach Hause. Er sei froh, mich noch anzutreffen. Er wirkte verlegen, was zu seinem sonst so souveränen Auftreten kaum passen wollte. Er müsse mich dringend unter vier Augen sprechen.
Damit führte er mich am Arm in sein Arbeitszimmer, was die Dringlichkeit seines Anliegens noch deutlicher machte. Was er mir dort eröffnete, Zoe, brachte den Boden unter meinen Füßen ins Wanken. Ob wir sehr hoch verschuldet seien, forderte er zu wissen. Falls dies so sei, wolle er uns gerne unter die Arme greifen, denn er könne es nicht ertragen mit anzusehen, wie eine junge, hoffnungsvolle Familie sich in den Abgrund stürze. Es müsse doch möglich sein, auf anständigem Wege …
Wovon er überhaupt spreche? Wir hätten keine Schulden. Im Gegenteil, wir seien endlich auf einem aufsteigenden Ast. Die Zeiten der Not lägen hinter uns. Mein Mann arbeite viel und verdiene gut, sodass wir uns inzwischen hätten ordentlich einrichten können.
Ich wisse aber schon, womit mein Gatte seine Brötchen verdiene?
Mag sein, antwortete ich ihm fest, dass es in den Augen der Öffentlichkeit kein ehrbarer Beruf ist, aber einer, der notwendig sei. Irgendwer müsse die Toten derart herrichten, dass die Angehörigen in Frieden von ihnen Abschied nehmen könnten, insbesondere wenn sie durch Unfälle furchtbar entstellt –
Madame Popescu, unterbrach er mich, wie er sehe, sei ich keineswegs im Bilde. Er hüstelte und wusste anscheinend nicht, wie er fortfahren sollte.
Er brauche keine Rücksicht auf mein weibliches Gemüt zu nehmen, ich sei es gewöhnt, die Dinge beim Namen genannt zu bekommen.
Daraufhin setzte er mich davon in Kenntnis, dass Dorin Leichen für illegale Forschungen zur Verfügung stelle; den Verstorbenen würden vor der Beisetzung Organe entnommen, die durch Lumpen ersetzt würden; Tote, die bereits ein christliches Begräbnis erfahren hätten, würden nach Erteilung der heiligen Sakramente wieder ausgegraben, um –
Was er da rede?, entfuhr es mir heftiger als gewollt. Wolle er meinen Mann etwa der Leichenfledderei beschuldigen?
Ich hatte mich brüsk von dem Besucherstuhl erhoben, den er mir angeboten hatte.
Ich möge mich bitte beruhigen. Er habe lange gezögert, mich auf dieses überaus heikle Thema anzusprechen, doch es gingen schon seit Längerem Gerüchte, die sich immer mehr erhärten würden. Es seien bereits Ermittlungen gegen das Institut, für das mein Mann arbeite, eingeleitet worden. Er selbst sei kürzlich von einem Kollegen angesprochen worden, der wisse, dass ich regelmäßig bei ihnen verkehrte. Dieser habe ihn gewarnt, dass unter diesen Umständen der gesellschaftliche Umgang mit mir ein schlechtes Bild auf sein Haus werfe.
Wie bitte? Wer so etwas sage? Und warum?
So sei nun einmal der Stand der Dinge. Solchen Skandalen gingen, wie ich gewiss wisse, stets wilde Spekulationen voraus. Er habe keineswegs die Absicht, mich seines Hauses zu verweisen, das liege ihm fern, aber er sehe es als seine Pflicht an, mich von den Vorgängen zu unterrichten. Ich möge verzeihen, dass er sich nicht direkt an meinen Gatten wende, doch sei ihm dieser leider noch nicht vorgestellt worden.
Und nun? Was soll ich nun tun, Zoe? Ich traue mich noch nicht einmal, Dorin mit diesen ungeheuerlichen Anschuldigungen zu konfrontieren. Kaum auszudenken, wie er darauf reagieren würde.
Ach, in was sind wir da nur hineingeraten? Am liebsten würde ich fort. Fort aus dieser Stadt. Fort von allem.
19. Mai 1893
Liebe Zoe,
Dr. Vianu hatte mit seiner Vermutung recht! Wir sind tatsächlich hoch verschuldet. Dorin hatte seinen Rock nachlässig über den Sessel geworfen, als er kurz nach Mitternacht nach Hause gekommen war. Als ich zu frühmorgendlicher Stunde Sofia die Brust gab, bemerkte ich ein Stück Papier auf dem Boden liegen. Es muss ihm aus der Rocktasche gefallen sein. Ich hob es auf und erkannte einen Schuldschein!
Beim Frühstück habe ich Dorin darauf angesprochen, denn wenn ich jetzt nichts sage, obwohl ich darum weiß, mache ich mich mitschuldig. Schließlich trage auch ich Verantwortung für unser Leben. Er kann sich nicht einfach darauf berufen, dass es allein seine Angelegenheit sei, wenn er im Schuldengefängnis landet und Frau und Kind ihrem Schicksal überlassen muss.
Genau das entgegnete ich ihm, als er mir ausweichen wollte.
Ich solle nicht gleich alles dramatisieren, es sei nur eine vorübergehende Flaute, er habe sich etwas verspekuliert.
Verspekuliert?! Sei er unverhofft an Kapital geraten, dass er jetzt sogar schon an der Börse spekuliere? Oder wie hätte ich das zu verstehen?
So ähnlich. Er habe sich etwas Geld geliehen, in der Hoffnung, dies klug einsetzen und vermehren zu können. Er habe einen sicheren Tipp bekommen.
Du hast also Spielschulden, stellte ich ungläubig fest. Du trägst dein sauer Verdientes allabendlich ins Kasino und verspielst unser Leben? Antworte! Ist es das, was du tust?
Er wurde höchst ärgerlich und wiegelte ab. Ich hätte keine Ahnung von diesen Dingen und solle ohne Sorge sein, er würde den Schuldschein in den nächsten Tagen schon auslösen.
Indem du Leichen ausbuddelst und verkaufst?
Ich hatte es nur geflüstert, weil der ungeheuerliche Verdacht, der sich bei mir seit Tagen als unerträglicher Gedanke eingenistet hatte, immer mehr Gestalt annahm.
Dorin erstarrte. Er wusste anscheinend nicht, wie er darauf reagieren sollte, deshalb reagierte er gar nicht. Schließlich erhob er sich vom Frühstückstisch und starrte aus dem Fenster. Sekundenlang, minutenlang. Dann wandte er sich zu mir um. Er müsse los. Nach einem flüchtigen Kuss auf die Wange lief er einfach aus der Wohnung.
Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, brach ich in Tränen aus. Es ist also wahr! Die Gerüchte sind wahr. Dorin hatte noch nicht einmal den Versuch unternommen, sie zu dementieren. Ich weiß nicht, ob dies von Größe oder Kleinmut zeugt, ob es Stärke oder Schwäche ist.
Ich bin verzweifelt, Zoe. Wieder einmal. Das Leben an Dorins Seite lässt mich verzweifeln. Ich suche nach einem Rettungsanker, während die Flut uns immer weiter auseinandertreibt. Aber ich finde keinen.
Wie soll ich jetzt noch erhobenen Hauptes das Haus der Vianus betreten? Ich kann es nicht. Ich bringe Schande über sie. Die Arbeit in ihrem Haus gab mir Halt und Zuversicht. Nun muss ich auch das aufgeben.
Wann wird der Zeitpunkt kommen, an dem ich Dorin aufgeben muss?
20. Mai 1893
Liebe Zoe,
noch immer zittern mir die Hände, sodass ich kaum die Feder zu führen vermag. Vorhin, ich hatte Sofia gerade zum Schlafen hingelegt, klopfte es an der Wohnungstür. In der Annahme, es sei ein Botenjunge mit einer Nachricht von Dorin, dass er sich wieder einmal verspäte, öffnete ich. Mir wäre fast das Herz stehen geblieben, Zoe. Vor mir stand mein Vater!
Am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen und ihm alles gebeichtet, all meinen Kummer. Doch mein verdammter Stolz ließ es nicht zu.
Hatte ich mir gestern noch gewünscht, dass er uns endlich fände, so ärgerte es mich heute maßlos, dass er es ausgerechnet in dem Augenblick tat, wo unser mühsam aufgebautes Leben dabei war zusammenzubrechen. Der Tiefpunkt unserer Armut in dem elenden Drecksloch bei der alten Vettel kurz vor Weihnachten ist nichts im Vergleich zu dem, was ich dieser Tage durchleide. Damals hätte ich immerhin unsere Liebe vorzuweisen gehabt, die selbst in schlechten Zeiten Bestand hatte. Nunmehr nur noch ein auf Lügen basierendes Dasein, bestehend aus Misstrauen und Furcht. Doch dies würde ich meinem Vater gegenüber niemals zugeben. Also hielt ich fest an der Lüge und erzählte ihm, wie glücklich ich mit Dorin hier in Iaşi sei; wie fleißig er an seiner Karriere arbeite, um aus dem Nichts, mit dem wir hätten beginnen müssen, wieder nach oben zu kommen; dass ich derweil Kontakte zu angesehenen Familien unterhielte und ein gern gesehener Gast in ihrem Hause sei. Nicht mehr lange, dann würden wir in eine angemessenere Stadtwohnung mit Personal ziehen und unser gesellschaftliches Leben ausbauen können.
Mein Vater glaubte mir kein Wort. Er schwieg mit traurigem Blick. Dann sagte er nur einen Satz: „Kommt nach Hause!“
„Ich lasse mich nicht mehr befehligen. Ich bin meine eigene Herrin“, antwortete ich ihm.
Er küsste mich wortlos auf die Stirn und ging.
Als Dorin wenig später nach Hause kam, bemerkte er sofort, dass etwas vorgefallen war. Es hatte keinen Zweck, mich herauszureden, dazu war ich viel zu durcheinander. Auch auf die Gefahr hin, dass Dorin die Nerven verlieren würde, gestand ich ihm, dass wir gefunden sind.
Er schien mir fast erleichtert zu sein. Jedenfalls blieb er ganz ruhig und erkundigte sich nach dem Verlauf des Gesprächs. Und dann fragte er mich, was ich zu tun gedenke.
Wie er das meine? Er ziehe doch wohl nicht ernsthaft in Betracht, in den Schoß der Familie zurückzukehren, die ihn so brutal von sich gestoßen habe? Ob er denn kein Fünkchen Würde besitze?
Dorin antwortete darauf nicht, blickte mich nur mit seltsamem Ausdruck an und grübelte den ganzen Abend ungut vor sich hin.
Ich weiß nicht, was er will. Ich weiß nur, was ich will. Und doch kann ich es nicht tun.
21. Mai 1893
Liebe Zoe,
mir war klar, dass mein Vater wiederkommen würde. So schnell gibt er sich nicht geschlagen. Da er gestern bei mir auf Granit gebissen hat, hoffte er wohl heute bei Dorin etwas zu erreichen. Es sah fast so aus, als ob es ihm gelingen würde. Jedenfalls war es Dorin, der Sofia in meines Vaters Arme legte, die er am Vortage nicht zu sehen bekommen hatte. Unser Krümelchen rührte ihn tatsächlich zu Tränen. Es machte mich wütend bei dem Gedanken, was Nicolae mit ihr beabsichtigt hatte. Das sagte ich meinem Vater schonungslos. Er schaute mich völlig fassungslos an. Dieses Kapitel der Geschichte kannte er also offenbar noch nicht. Nun drängte er uns erst recht, mit ihm nach Hause zu kehren. Ich lehnte rigoros ab, dies stehe für mich außer Frage. Es sei mir nicht möglich, mit jemanden ein Heim zu teilen, der mir sowohl meine Liebe als auch das ungeborene Leben aus dem Leib habe entreißen wollen. Wie könne er von mir erwarten … Da griff Dorin in das Gespräch ein.
Ich weiß nicht, worüber sie sprachen, ich war viel zu aufgebracht. Ich bekam nur mit, dass sie sehr lange miteinander redeten, in einem geradezu verständnisvollen Ton, der mich ärgerte. Ich hatte ernsthaft Sorge, Dorin würde einknicken. Falls er tatsächlich in einem schlimmen Schlamassel steckt, wovon ich ausgehe, dann wäre für ihn Flucht nämlich nicht die schlechteste Wahl. Aber es wäre auch eine Flucht vor uns – eine Flucht vor mir.
2. Juni 1893
Liebe Zoe,
ich habe mich gegen meinen Vater behauptet, ich habe ihm standgehalten, etwas, das sonst keiner vermag. Ich war mächtig stolz auf mich, nachdem er uns unverrichteter Dinge wieder verließ – und habe hinterher stundenlang geheult.
Dorin hielt und liebkoste mich, wie ich es lange nicht mehr von ihm erfahren hatte. Wir klammerten uns aneinander, weil wir beide spüren, wie sehr wir auseinandergerissen werden – von wem auch immer, von was auch immer. Er versicherte mir seine Liebe und gestand, dass er ab sofort ohne Arbeit sei. Zwei führende Mitarbeiter des Instituts seien untergetaucht und der Chef verhaftet worden. Es habe Unregelmäßigkeiten im Zahlungsverkehr gegeben. Manuel und er seien nun ohne Brotherrn.
Traurig blickte ich ihn an. „Meinst du nicht, Liebster, es ist an der Zeit, mit dem Versteckspiel aufzuhören? Weißt du denn nicht, dass ich ebenso wie du in die Herzen schauen kann? Und deines erzählt mir schon lange eine düstere Geschichte; eine, die ich lieber nicht vernommen hätte. Ich weiß nicht, was dich getrieben hat, dich auf dunkle Mächte einzulassen, Dorin. Wenn es jetzt vorbei sein sollte, dann ist es gut. Wir stehen trotzdem nicht ganz am Anfang. Ich kann meine Stellung als Gesellschafterin bei den Vianus jederzeit ausbauen, sobald du gestehst und rehabilitiert wirst. Dr. Vianu hat uns seine volle Unterstützung zugesagt.“
Ich spürte Zorn in ihm aufsteigen, doch ich fuhr ihm über den Mund, bevor er ihn auftun konnte. Ich erzählte ihm alles, was ich von Dr. Vianu erfahren und in dieser Familie bis dahin erlebt hatte. Bis auf die Sache mit den Fotografien, da diese ohnehin nicht mehr existieren.
Er war hinterher sehr still, wahrscheinlich in seinem Stolz verletzt, weil ich Geld hinzuverdiente; oder in seiner Eitelkeit gekränkt, weil ich es ihm verheimlicht hatte. Nichtsdestotrotz spürte ich, wie das Dunkle von ihm wich.
Überraschenderweise erklärte er sich einverstanden, mich zu Dr. Vianu zu begleiten.
Dieser ist mit keinem Wort auf die unselige Angelegenheit eingegangen. Was für ein anständiger Mensch, der Herr Anton, wie wir ihn fortan nennen dürfen.
Er hat Dorin erfolgreich an Dr. Georgescu vermittelt. Seit Anfang der Woche arbeitet Dorin nun als dessen Assistent in einem Sanatorium für Schwermütige und Wahnhafte. Es ist längst nicht so schlimm, wie Dorin befürchtet hatte. Dr. Georgescu habe in diesem Bereich etliche Reformen eingeführt. So verzichte er weitestgehend auf die herkömmlichen Methoden und habe dem Humanismus Platz gemacht.
Ein Neubeginn, der mich hoffen lässt.
Nein, Zoe, ich bin nicht so naiv zu glauben, dass das Schicksal alles zum Guten gewendet hat – das war Papa. Und ja, natürlich liebe ich ihn und vermisse ihn schmerzlich. Er hätte uns zwingen können, heimzukehren, dass weiß ich nur allzu gut. Ich hätte nicht die geringste Chance gehabt, mich seiner Macht zu entziehen. Es war ein reiner Liebesbeweis, dass er mich glauben machte, ich hätte mich ihm gegenüber behaupten können.