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GÄNSEHAUT

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Er war wieder da. Julia spürte ihn, bevor sie ihn sah.

Der Himmel war heute bedeckt, und Julia war wieder um sechs Uhr aufgewacht. Ein Adrenalinstoß war durch ihre Adern gefahren, als sie sich voll Vorfreude den Badeanzug übergezogen hatte. Sie hatte gewusst, er würde kommen.

Als sie seine Anwesenheit jetzt spürte, während sie ihre letzten Bahnen absolvierte, lächelte sie in sich hinein, zufrieden mit ihrem Instinkt. Aber nun war es gar nicht so einfach, ihr Training zu beenden. Am liebsten hätte sie ihn gleich angesehen, wäre gleich zu ihm hingeschwommen, denn schließlich hatte sie genau darauf gewartet. Aber auch wenn sie ihn nicht ansah, spürte sie es wie ein Brennen auf ihrer nassen Haut, wie er jede ihrer Bewegungen im Auge behielt.

Als sie aus dem Becken stieg, hielt er ihr genau wie die ganzen Tage zuvor stumm das Handtuch hin. Sie blinzelte ihn an. Wegen der fehlenden Sonne war sie von einer Gänsehaut überzogen. Dennoch fror Julia nicht, oder sie fühlte es nicht. Sein Blick löste sich nicht von ihrem, als sie das Handtuch entgegennahm und sich damit abtupfte.

Seit Mathieu sie das erste Mal bei ihrem Training beobachtet hatte, spielte sich jeden Morgen dieselbe wortlose Szene ab. Selbst wenn sie sich danach im Laufe eines Tages zufällig auf dem Grundstück über den Weg liefen, nickten sie sich nur zu. Julias Herz schlug jedes Mal so kräftig in ihrem Hals, dass sie zu mehr auch gar nicht imstande war.

Doch heute war es anders: Gerade als Julia in ihre Flipflops schlüpfte und sich von ihm abwenden wollte, ergriff Mathieu mit einem Mal ihr Handgelenk und stoppte ihre Bewegung. Julia erstarrte. Seine warme Hand auf ihrer kalten Haut beschleunigte ihren ohnehin schon schnellen Herzschlag. Vage verfluchte sie, dass er ihren verräterisch flatternden Puls durch seinen Griff unmittelbar wahrnehmen musste.

Er drehte sie zu sich. Sie standen dicht voreinander. Einzelne Wassertropfen lösten sich ausgerechnet in ihrem Schritt und rieselten ihr Bein hinab. So nah vor seinem Gesicht nahm sie ein Muttermal rechts von seinen Lippen wahr. Sie sah ihm in seine braungrünen Augen. Durfte ein Mann so verboten lange Wimpern haben?

Glutäugig. Das Wort schoss ihr unvermittelt in den Sinn. Was hatte er nur vor? Würde er sie etwa küssen? Unbewusst hob sie ihm ihr Gesicht entgegen. Er war groß, mindestens einen Kopf größer als sie, und sie war nicht klein. Mathieu blickte sie mit dunklen Augen an und holte tief Luft. Jetzt, dachte Julia erwartungsfroh.

Mathieu neigte sich vor.

Julia leckte sich unbewusst über die Lippen.

Doch er küsste bedächtig erst ihre eine Wange, dann die andere. Julia registrierte, dass er jeweils länger an ihrer Wange verweilte, als eine Begrüßung es erfordert hätte.

„Bonjour, Julia“, flüsterte er und schaute sie ernst an.

Julia spürte der Wärme seiner Haut und dem leichten Kratzen seines Bartschattens auf ihren Wangen nach. Unwillkürlich hatte sie die Nasenflügel gebläht, um mehr von diesem Duft, den er mit sich trug, zu inhalieren. Er roch vertraut, wieder nach sonnengewärmter Erde und Tabak. Einem Impuls folgend, hob sie ihre Hand und legte sie auf seine rechte Wange. Es gefiel ihr, wie ihr Name aus seinem Mund geklungen hatte. „Dschülia“, die letzte Silbe fragend angehoben. Das klang um Ellen erotischer als das strenge deutsche „Julia“.

„Oh“, krächzte sie. Das durfte doch nicht wahr sein. Hatte sie tatsächlich „Oh“ gesagt? Das erste Wort, das sie seit Wochen an ihn richtete? Sie räusperte sich und straffte ihre Schultern. „Bonjour, Mathieu.“ Offen blickte sie ihn an und war erleichtert, ein wenig von ihrer Souveränität zurückerlangt zu haben.

Seine Worte hatten diesen lächerlichen stummen Bann gebrochen, der seit knapp drei Wochen über ihren Begegnungen lag, diese Magie, die zwischen ihnen geherrscht hatte. Das leichte Bedauern, das Julia darüber empfand, wischte sie energisch fort. Schließlich war das hier kein Kitschroman, sondern sie war eine moderne, hübsche Frau und er ein höllisch attraktiver Mann.

Er schien ebenfalls darüber froh zu sein, denn ein erleichtertes kurzes Schnauben entfuhr ihm, bevor er sie freundlich anlächelte. Julia überlegte fieberhaft, wie sie eine unbefangene Unterhaltung mit ihm beginnen könnte.

„Du bist Landschaftsarchitekt?“, war die erste, denklogische Frage, die ihr in den Sinn kam.

Erstaunt blickte er sie an. „Ja, ich habe den Auftrag, das Anwesen umzugestalten.“ Er deutete mit einer umfassenden Geste auf die Pflanzen um sie herum.

„Und was hast du geplant?“, fragte sie aufrichtig interessiert.

Er fuhr sich mit der Hand durch die braunen Locken und überlegte einen Augenblick.

„Das kann ich so nicht erklären. Ich würde es dir gerne zeigen. Aber du solltest dir vorher trockene Sachen anziehen. Sonst holst du dir den Tod.“

Das klang so unerwartet vernünftig. Julia musste grinsen. „Wartest du hier?“, erkundigte sie sich.

„Das geht leider nicht, es kommt gleich eine Gruppe von Arbeitern, die ich einweisen muss. Du kannst mich ja suchen.“ Er blickte sie herausfordernd an.

„Okay, bis gleich“, sagte sie nur und wandte sich Richtung Plattenweg.

„Bis gleich, Julia“, hörte sie ihn flüstern. Sie entfernte sich rasch und musste an sich halten, nicht zu laufen. Eine unglaubliche Euphorie durchflutete sie.

Sie hatte ein Date! Mit Mathieu! Zugegeben, es war kein richtiges Date, aber es fühlte sich einfach so an.


Mathieu sah Julia nach. Wie schön sie war. Er liebte es, wenn Frauen natürlich aussahen. Seit die Neureichen Roquebrune für sich entdeckt hatten, war es ungewöhnlich, hier einer Frau zu begegnen, die nicht durchgestylt und schmuckbehangen oder zumindest stark geschminkt war.

Er drehte sich um und betrachtete eine Weile nachdenklich die vom Wind sanft gewellte Oberfläche des Wassers. Ein leichtes Lampenfieber wallte in ihm auf. Wollte sie tatsächlich wissen, welche Pläne er für den Garten hatte? Oder war das nur eine Tour, ihn ins Bett zu bekommen? Das alte Gefühl der Bitterkeit stieg in ihm hoch. Er schluckte es schnell hinunter, denn er begriff schlagartig, dass ihm das herzlich egal war. Er wollte sie auch, egal aus welchen Motiven.

Seit vier Uhr heute früh hatte er sich im Schlaf gewälzt und an sie gedacht. An ihre wiegenden Hüften, ihre Gänsehaut unter den Trägern ihres Badeanzuges, ihre katzenhaften grauen Augen. Sein Körper brannte von diesen Bildern und schrie nach Erleichterung.

Mathieu wusste, er durfte keinem erzählen, dass er seit knapp drei Wochen jeden Morgen um kurz vor sieben Uhr im Gärtnerschuppen herumkramte, um sie nur ja nicht zu verpassen. Dabei war er sich nach der ersten Begegnung nicht einmal sicher gewesen, ob sie am nächsten Tag wieder schwimmen würde. Jedes Mal, wenn er ihr gleichmäßiges Plätschern vernahm, verdichteten sich alle seine Sinne auf dieses Geräusch und die damit verbundene Vorstellung von ihrem Körper im Wasser.

Fast eine Ewigkeit verharrte er beim Poolhaus und genoss das lebendige Gefühl, das über ihn kam. Über sich selbst belustigt, gestand er sich ein: Er war verknallt. Verknallt, craquer, fou. Dieses Wort hatte er seit der Schule nicht mehr gebraucht. Aber einen anderen Begriff dafür, dass sie ihm ständig im Kopf herumspukte und er ihre Nähe suchte, gab es nicht. Oder doch?

Wieder wallte die Panik in ihm auf. Er verdrängte den Gedanken an Céline. War er dabei, den gleichen Fehler noch einmal zu begehen? Nein! Sicherlich war es nur körperliches Verlangen. Was auch sonst? Die Frauen, die er in seinem Leben begehrt hatte, hatte er in der Regel auch bekommen. Es war leicht. Irgendwann hatte er festgestellt, dass es ausreichte, mit einer Zeitung im Café zu sitzen und eben nicht zu lächeln. Seltsamerweise schien gerade das die Frauen anzuziehen.

Sein Freund Fredo, der bei Frauen sämtliche Register seines Charmes spielen ließ, war schier verzweifelt. „Wie machst du das nur?“, hatte er ihn immer wieder gefragt, wenn ein hartnäckiges weibliches Wesen sich mit eindeutigen Signalen in der Nähe seines Tisches positioniert hatte.

Mathieu konnte nur mit den Achseln zucken. Er wusste, er war keine Schönheit. Sein Gesicht war eher rau und markant. Seine Mimik nachdenklich bis abweisend. Aber gerade das schien die Frauen anzuziehen wie ein Honigtopf die Bären. Das und sein Desinteresse.

„Weniger ist mehr“, hatte Mathieu damals versucht, Fredo als Tipp an die Hand zu geben.

Fredo war es allerdings nicht gelungen, diese Philosophie umzusetzen. Sobald er eine Frau attraktiv fand, rutschte er unruhig umher wie ein Pennäler. Er konnte es einfach nicht lassen, zu lächeln, zu schauen, zu flirten. Seine gesamte Körpersprache war so offensichtlich, dass er auch gleich ein T-Shirt mit der leuchtenden Aufschrift „Ich will Sex“ hätte tragen können.

Mathieu jedenfalls musste mehrfach schallend lachen, wenn die Frauen vor Fredo die Flucht ergriffen und dieser verzweifelt überlegt hatte, worin sein Fehler diesmal gelegen hatte. Weshalb die Frauen gerade auf Typen abfuhren, die sie nicht wollten, würde Mathieu nie verstehen. Und das betraf nicht nur die Frauen an der Côte d’Azur. Dieselbe Erkenntnis hatte er auch während seiner Studienjahre in Paris und während seiner praktischen Zeit in England vertiefen können.

Auf jeden Fall hatte Mathieu sich zeit seines Erwachsenenlebens nicht über weibliche Zuwendung beklagen müssen. Aber so sehr die wenigen Frauen, denen er nachgegeben hatte, sich auch bemühten, sie hatten sein Herz nicht erreicht. Bei zweien hatte er kurz gedacht, er wäre verliebt.

Die durchgeknallte Lisa in Paris hatte ihn anfangs sogar stark fasziniert. Sie war ein verrücktes Huhn gewesen. Eine Kunststudentin, die durch das nächtliche Paris gestreift war, um ihre Street Art an Brücken und Häuserwände zu verewigen. Dass ausgerechnet Lisa nach wenigen Wochen Beziehung anfing, zu klammern und zu einem extrem häuslichen Typen mutiert war, der am liebsten DVD-Abende zu zweit veranstaltete, hatte er nicht erwartet. Abstand zu Lisa zu schaffen, war auch eines der Motive gewesen, weshalb er sich für ein Auslandspraktikum bewarb.

Charlotte war seine Chefin beim Gartenbaupraktikum im südenglischen Cheltenham gewesen. Sie war eine typische Engländerin, und zum ersten Mal war es ihm ergangen wie den Frauen anscheinend bei ihm. Sein Ehrgeiz, diese spröde Frau zu knacken und ihr ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, war geweckt gewesen. Nächtelang hatte er Strategien ersonnen, wie er sie von sich überzeugen könnte. Merkwürdigerweise war seine Leidenschaft schlagartig abgekühlt, sobald er sie endlich erobert hatte. Das „Projekt Charlotte“ war, so sehr er sich auch dafür schämte, sie zu verletzen, rasch abgehakt. Erleichtert hatte er den Ablauf seiner Zeit in England vorgeschoben und Charlotte zurückgelassen.

Seither waren immerhin zwölf Jahre vergangen, und er trat in der Liebe immer noch auf der Stelle. Fredo war seit einer Ewigkeit mit der drallen, rothaarigen Joline verheiratet und Vater von ebenso drallen, rothaarigen Zwillingen. Manchmal hatte Mathieu den Eindruck, Fredo bemitleidete ihn. Dabei fehlte Mathieu nichts. Im Gegenteil. Er hatte sich die letzten Jahre auf den Aufbau seiner Selbstständigkeit konzentriert. Oft hatte er alleine in den Abendstunden noch in den Gärten gearbeitet, während seine Kollegen zu ihren Familien heimgekehrt waren. Selbstständigkeit erforderte eben einen enormen zeitlichen Einsatz, und er war erleichtert, sich nicht gegenüber einer Frau rechtfertigen zu müssen, dass er diesen erbrachte.

Zu Hause, in dem kleinen, von seiner Mutter Suzanne geerbten Haus, genoss er die stillen Abende bei einer Flasche Wein oder einem Buch auf der Terrasse mit dem schönen Blick auf das Meer. Ab und zu wärmte er einer attraktiven Frau das Bett. Was wollte er mehr?

Und jetzt war da Julia. Er konnte sich nicht erklären, weshalb er von ihr so angezogen war. Wie magisch. Sie war weder spröde wie Charlotte noch so wild wie Lisa. Er konnte es kaum erwarten, mehr über sie zu erfahren. Ob sie studiert hatte, ob sie gerne las, ob sie ein ausgefallenes Hobby hatte? Sie sprach fließend Französisch und hatte einen entzückenden, kaum wahrnehmbaren deutsch-schweizerischen Akzent. Ihr Lächeln war sanft. Sie hatte kluge, wache Augen, in denen ein Anflug von Traurigkeit hing.

Gerade diese Traurigkeit führte dazu, dass er den beinahe übermächtigen Drang verspürte, sie glücklich zu machen. Als er eben ihre vom Wasser kalten Wangen berührt hatte, hatte er ihr Frösteln gespürt. Mathieu hätte sie am liebsten in seine wärmenden Arme gerissen, um die Gänsehaut von ihrem Dekolleté zu vertreiben.

Gleich würde er sie wiedersehen. Ein breites Lächeln stahl sich in sein Gesicht. Gut gelaunt entnahm er dem Schuppen sein Werkzeug und machte sich an sein Tagwerk.

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