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ÜBERRASCHENDE ZEILEN

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„Autsch!“ Julia biss sich auf die Unterlippe, um einen saftigen Fluch zurückzuhalten. Warum nur hatte sie dieses Waxing an Stellen ihres Körpers zugelassen, mit deren Behaarung sie die letzten zwanzig Jahre eigentlich ganz zufrieden gewesen war?

Salomé grinste. „Wie heißt es so schön: Wer schön sein will, muss leiden.“

Julia schnaubte. Salomé hatte gut reden. Ihr Leidensdruck bestand darin, ihre Hand ruhig zu halten, während dunkelroter Nagellack appliziert wurde.

Die drei Frauen befanden sich bereits seit einer Stunde in Inès’ Räumen, die mit unzähligen Köfferchen, Tiegeln, Tüchern und Spiegeln eher einem Kosmetikinstitut glichen. Inès, an deren Kopf Alufolienpakete für frische Strähnchen baumelten, plauderte entspannt über einen Karibiktrip mit einer Freundin, von dem sie kürzlich zurückgekehrt war.

Julia fragte sich, ob sie selbst es ertragen könnte, keine sinnvolle Aufgabe im Leben zu haben. Wie es wohl wäre, um die Welt zu jetten und zu setten? Ohne Termindruck, ohne Leistungsanspruch. Julia war überzeugt davon, sie würde bereits nach einem Jahr vor Unterforderung die Tapete der Hotelzimmer von den Wänden knibbeln.

Inès hingegen machte nicht gerade einen depressiven Eindruck. Aber sie war ja wesentlich älter als sie selbst und hatte schon erwachsene Kinder, quasi „ihr Soll erfüllt“. Wer weiß, wie es ihr selbst in zwanzig Jahren ergehen würde. Und Julia musste zugeben, die Annehmlichkeiten des Luxus, die sie bislang erleben durfte, hatten auf jeden Fall einen großen Teil dazu beigetragen, dass der Druck der letzten Monate von ihr abgefallen war.

Ihre Zeit mit Marcus, die enttäuschten Morgen vor dem negativen Teststäbchen, der Termindruck in dem Justiziariat des Konzerns, die gehetzten Mittagessen mit Kollegen waren ganz weit weg von ihrem jetzigen Leben auf Mirabel. Sie schienen in einen gnädigen Nebel der Erinnerung eingehüllt, und Julia hoffte, sie würden gefälligst dort bleiben.

„Wie kommt es eigentlich, dass du Zaza genannt wirst?“, wandte sie sich an Salomé.

„Den Namen hat ihr Philippe verpasst“, antwortete Inès an Salomés Stelle. „Er war damals ziemlich eifersüchtig, als seine kleine Schwester ihn vom Thron des Einzelkindes stieß. Salomé war schon recht früh sehr eigensinnig, und Philippe merkte, wie sehr sie sich ärgerte, wenn er absichtlich ihren Namen zu Zaza verstümmelte, indem er sie imitierte. Sie konnte ihren Namen als Kleinkind nicht richtig sagen. Es klang eher wie Zaza.“

Salomé fiel strahlend in Inès’ Erläuterung ein. „Ja, und irgendwann habe ich begriffen, dass es ihn wurmt, wenn ich den Namen Zaza toll fände. Also habe ich aus reinem Trotz begonnen, mich selbst so zu nennen, auch als ich dann meinen Namen bereits sagen konnte, und es seitdem beibehalten. Der Einzige, der mich heutzutage nicht mehr gerne Zaza nennt, ist Philippe.“ Salomé klatschte belustigt in die Hände.

Eine Geste, die Julia schon bei ihr aufgefallen war.

Drei Stunden später verließ Julia rundum erneuert Inès’ Zimmer. Zufrieden betrachtete sie ihre korallenroten Zehennägel, die durch die silbernen Riemchen ihrer Sandalen blitzten, und freute sich über die lindernde Wirkung von Aloe vera an diversen wunden Stellen zwischen ihren Beinen. Es war bereits sieben Uhr abends. Unglaublich, dass schon wieder ein Tag verflogen war. Bis zum Abendessen blieb ihr nur wenig Zeit. Unschlüssig verharrte sie vor ihrer Zimmertür.

Sie hätte eigentlich die Arbeitsergebnisse des Vormittags mit Charles noch ein wenig ordnen müssen. Andererseits spürte sie den unbändigen Drang, Mathieu zu suchen. Aufgeregt lief sie über die Plattenwege, vorsichtig darauf bedacht, ihr Nagelwerk vom Gestrüpp nicht zerstören zu lassen. Die Stelle, an der sie Mathieu am Morgen mit Charles angetroffen hatte, lag verlassen da. Julia suchte noch eine Weile, von Mathieu war allerdings nichts zu sehen. Enttäuscht kehrte sie zum Dahlienzimmer zurück und schaltete lustlos den Computer an.

Wie Julia erwartet hatte, gestaltete sich das Abendessen mit der Familie de Bertrand heiter. Sie registrierte amüsiert, wie Philippe alle Register seines Charmes zog, um sie zu umgarnen. Er war sehr unterhaltsam und mit seinem unglaublich guten Aussehen eine Augenweide. Auch Salomé beteiligte sich rege am Gespräch, und ihre Schlagfertigkeit brachte die Runde öfter zum Lachen. Die jungen de Bertrands hatten von den Eltern sowohl Charme, Intelligenz als auch Schönheit geerbt. Inès hatte eine etwas zurückhaltendere Art, war jedoch sehr belesen und konnte neben dem üblichen Small Talk mit fundiertem Wissen über Kunst und Kunstgeschichte begeistern. Es war schön zu sehen, wie wohl Charles sich im Kreise seiner Familie fühlte.

Julia zog sich dennoch früh zurück. Erschöpft – von was eigentlich? – sank sie in ihr Himmelbett.

Für den nächsten Morgen hatte sich Julia zum ersten Mal einen Wecker gestellt, um nur ja nicht zu spät zu ihrem Schwimmtraining – und Mathieu – zu kommen. Doch diesmal musste sie sich selbst das Handtuch nehmen. Mathieu war nicht erschienen. Fröstelnd stand Julia am Beckenrand und schaute sich enttäuscht nach ihm um.

Den restlichen Tag hielt sie nach ihm Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken. Vermeintlich ohne Ziel schlenderte sie durch den Garten, passierte mit raschem Herzklopfen mehrfach die Gruppe von Arbeitern, die mit der Einfassung der Wege beschäftigt waren. Aber Mathieu war nicht unter ihnen. Seltsam, wie sehr sie sich in den Tagen vorher bereits an seine Anwesenheit und die lieb gewonnenen Treffen gewöhnt hatte.

Die kommenden Tage blieben ebenfalls Tage ohne Mathieu. Julia musste sich auf die Zunge beißen, um Charles während ihrer gemeinsamen Arbeit an seinen Memoiren nicht nach ihm zu fragen. Ansonsten folgte ihre Zeit langsam einer eingespielten Routine.

Das Manuskript über Charles’ Leben wurde immer umfangreicher. Nach einem leichten Lunch vertieften Salomé und Julia ihre neue Freundschaft. Allerdings ging sie auf Salomés neckende Anspielungen, was einen gewissen sexy Gärtner anging, nicht ein. Sie zog es vor, ihre Gefühle für sich zu behalten. Das stimmte allerdings nur zur Hälfte, denn ihrer Freundin Stella gab sie per SMS ein tägliches Mathieu-Sichtungs-Update.

Wenn die Kosmetiktruppe von Inès nicht gerade neue Einsatzgebiete fand, führte Philippe sie in schicke Cafés nach Cap Martin, ins Monte Carlo Beach Hotel oder zum Shoppen in die Boutiquen von Monaco aus. Das heißt, Julia schaute in der Regel Salomé beim Shoppen zu. Bei der Fülle ihres Kleiderschranks und ihrer ungewissen Zukunft verspürte sie dann doch kein Bedürfnis, sich noch mehr Klamotten anzuschaffen.

Julia nahm staunend die Atmosphäre des unbeschwerten Lebens an der Côte d’Azur in sich auf: die dünnen Models, die teuren Outfits, die hohen Absätze, die imposanten Sportwagen, die Menge der Yachten, die weißen Tischdecken in den designten Lokalen. Aber auch die zauberhafte Landschaft, die charmanten Menschen, die Strände und das imposante Blau des Mittelmeeres.

Sie absolvierte unzählige Begrüßungsküsschen, als sie Freunden von Philippe und Salomé vorgestellt wurde, deren Namen sie sich anfangs noch zu merken versuchte, es irgendwann jedoch aufgab, denn es waren einfach zu viele.

Philippe führte sich bei diesen Ausflügen auf wie ein Prinz. Nach Julias Geschmack kam er ihrem Körper dabei zu häufig viel zu nah. Wie selbstverständlich legte er seine Hand um ihre Schultern und an ihre Hüfte, ergriff ihre Hand, umarmte sie zum Abschied. Auf ihren strengen Blick hin hob er mit einem entwaffnenden Grinsen die Schultern. „Was soll ich tun? Bei schönen Frauen kann ich halt nicht widerstehen.“

Julia und vor allem Salomé rollten nur mit den Augen. Aber Philippes jungenhafter Charme schaffte es, dass Julia ihm nicht ernstlich böse sein konnte. Es gab Schlimmeres, als von attraktiven Männern berührt zu werden. Innerlich seufzte sie jedoch, denn der eine Mann, dessen Berührung sie herbeisehnte, war weit und breit nicht zu sehen.

Nach einer Woche dachte Julia schon fast, sie hätte sich Mathieu und seine blitzenden Augen nur eingebildet. Es war Freitagabend, kurz vor dem Abendessen. Julia trocknete ihr Haar und trat währenddessen auf ihre Terrasse, um einen abendlichen Gruß an das Meer zu senden. Sie genoss dieses kleine Ritual und liebte die Stimmung des frühen Abends und vor allem das Licht, das den Garten und die Bucht in eine orange angehauchte Kitschpostkarte verwandelte. Während sie die Haarspitzen mit dem Handtuch knetete, schaute sie entspannt auf ein großes Kreuzfahrtschiff, das vor der Küste aufgetaucht war.

Da berührten ihre nackten Füße auf einmal einen Gegenstand. Erstaunt erblickte sie auf dem Terrassenboden einen Papierflieger. Sie hob ihn lächelnd auf und wollte ihn gerade wieder segeln lassen, da hielt sie in der Bewegung inne. Auf dem einen Flügel des Fliegers erkannte sie ihren Namen. Julia sah sich herzklopfend nach dem Absender des Fliegers um, konnte jedoch niemanden entdecken. Behutsam entfaltete sie das Blatt Papier. Auf diesem standen nur wenige Zeilen, aber Julia wusste sofort, von wem diese waren.

Julia,

ein andermal kann morgen sein. Ich erwarte dich nachmittags um vier vor dem Tor.

M.

Julia spürte, wie sich ihre Atmung beschleunigte. Unwillkürlich hielt sie ihre Hand an die Brust. Hatte sie jemals etwas so geheimnisvoll Romantisches erlebt? Freude breitete sich in ihr aus und ließ sie innerlich ganz warm werden. Wie einen kostbaren Schatz faltete sie das Schreiben zusammen und kehrte mit einem leisen Lächeln in ihr Zimmer zurück.


Charles senkte seufzend das Blatt Papier, das er zum hundertsten Mal in den letzten Monaten gelesen hatte. Tief in Gedanken verloren, starrte er auf das große Kreuzfahrtschiff, das seit gestern vor der Bucht lag, ohne jedoch wahrzunehmen, was er sah. Er erinnerte sich genau an den Moment, als er den Brief zum ersten Mal gelesen hatte.

Ein Windstoß hatte einen Schwall vertrockneter Oleanderblätter vor die Steinbank geweht, auf der er gesessen hatte. Seufzend erwachte er aus der Starre, die ihn befallen hatte, und er konnte sich endlich überwinden, den Brief zu öffnen, den er seit einer gefühlten Ewigkeit nur angestarrt hatte.

Mit dem Zeigefinger bohrte er am oberen Rand des Umschlags behutsam ein Loch und erweiterte dann vorsichtig die Öffnung. Als der Briefumschlag offen war, dauerte es wieder eine Weile, bis er sich in der Lage sah, fortzufahren. Was würde er zu lesen bekommen? Mit zittrigen Händen entnahm er die Zeilen und entfaltete das Blatt Papier. Die feinen, leicht nach rechts geneigten Buchstaben ließen seine Hand noch stärker zittern. Ihre Schrift war ihm so vertraut, und ihm war, als flüsterten die raschelnden Oleanderblätter in diesem Moment mit ihrer Stimme und mit der ihr eigenen Zärtlichkeit seinen Namen. Er riss sich zusammen und heftete seinen Blick auf das Schreiben.

Es war still um ihn herum. Wie immer hier um die Mittagszeit. Vor allem aber an diesem durch die wuchernden Oleanderbüsche fast verborgenen Ort. Hier hatten sie sich heimlich getroffen, und jeder Zweig schrie ihren Namen. Seitdem sie fortgegangen war, war er nicht mehr hier gewesen.

Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, ließ er das eng beschriebene Papier in seinen Schoß sinken und starrte wieder eine Weile auf das Schattenspiel der Blätter auf den Steinplatten vor ihm.

Sie war also tot.

Er horchte in sich hinein. Die lang unterdrückten Gedanken an sie sammelten sich zu einem dumpfen Schmerz in seiner Brust. Mit jedem Bild seiner fernen Erinnerung nahm er still Abschied von dieser Frau. Als die Trauer abebbte – er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war –, sah er klarer als je zuvor: Sie hatte recht mit ihren Zeilen. Seine Entscheidung war die einzig richtige gewesen. Er bereute es nicht. Im Gegenteil. Er wurde sich erst in diesem Moment mit aller Klarheit bewusst, dass nichts anders sein sollte in seinem Leben. Dann riss er sich aus seinen Tagträumen. Er musste sich konzentrieren.

„Ein Sohn?“, flüsterte er, als erwartete er von den Pflanzen rings um sich eine Antwort. Es blieb weiter still. Beim Anblick der wild wuchernden Oleanderbüsche reifte langsam in ihm ein Plan. Zufriedenheit machte sich auf seinem Gesicht breit.

Mit einer ruckartigen Bewegung hob er die Hand und rieb sich die Benommenheit aus den Augen. Wie es seine Art war, faltete er den Brief sorgfältig wieder zusammen, falzte ihn sogar mit einem Fingernagel. Dann war er aufgestanden und hatte die schattige Laube über den Steinplattenweg verlassen.

Ein unerwartetes Klopfen an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Virginie steckte ihren Kopf in das Arbeitszimmer.

„Monsieur Charles, Ihr Freund Alexandre ist soeben eingetroffen.“

„Danke, Virginie, ich komme sofort“, antwortete Charles seufzend. Wie lästig. Ausgerechnet Alexandre, der Schwätzer, hatte sich für heute angesagt. Es war Samstag, und so würde seine lieb gewonnene, anregende Arbeit mit Julia ausfallen. Aber die Gute war so fleißig und hatte sich ihr Wochenende redlich verdient. Er war mehr als zufrieden mit seinem Gespür. Julia einzustellen hatte sich als ausgesprochenen Glücksgriff erwiesen. Nicht nur für seine Memoiren. Ihre freundliche Art und ihre unaufdringliche Anwesenheit erfüllte das gesamte Haus mit Licht.

Charles atmete tief aus und wandte sich endlich vom Fenster ab. Da hörte er bereits Alexandres unverwechselbaren Bass durch den Flur schallen.

„Der alte Schwerenöter lässt mich doch wohl nicht absichtlich warten und hat ein Stelldichein?“

Charles verdrehte genervt die Augen, als die verzweifelte Virginie wieder im Türrahmen erschien und gerade noch entschuldigend die Achseln hob, bevor sie von dem massigen Alexandre zart, aber bestimmt zur Seite geschoben wurde. Geduld und gutes Benehmen waren noch nie Alexandres Stärke gewesen. Mit einem beschwichtigenden Blick zu Virginie legte Charles rasch den Brief auf seinem Schreibtisch ab und humpelte seinem alten Freund entgegen.

„Alexandre, du musst nicht immer von dir auf andere schließen. Lass das bloß nicht Inès hören!“

Lachend klopfte Alexandre seine kräftige Hand auf Charles’ Schulter. „Die gute Inès weiß doch ohnehin, dass du kein Kostverächter bist.“

Langsam wurde es Charles zu bunt. Vor allem wollte er diese Gespräche nicht vor den Angestellten austragen. Geschickt wechselte er das Thema.

„Kann das sein, dass du zehn Elefanten verputzt hast, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“ Frech kniff er Alexandre in den stattlichen Bauch, der daraufhin in schallendes Gelächter ausbrach.


„Papa, hast du ein Aufladekabel?“ Salomé öffnete nach einem raschen Anklopfen die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Das Büro war leer. Im selben Moment hörte sie Alexandres aufdringliche Stimme durchs Haus schallen.

Salomé verzog ihr Gesicht. Eigentlich mochte sie Alexandre. Er war gutmütig und von berechenbarer Natur. Sie kannte ihn schon, seit sie denken konnte. Aber sie hatte gerade keine Lust auf Small Talk. Sie konnte hören, wie sich die Stimmen langsam Richtung Terrasse entfernten.

Salomé war gerade auf dem Weg zum Pool gewesen, um mit Julia ein Sonnenbad zu nehmen, als sie bemerkt hatte, dass ihr Handy-Akku leer war. Obwohl sie wusste, es musste sich mindestens ein Dutzend Ladegeräte im Haus befinden, hatte sie verflixterweise keines finden können.

Als sie gerade wieder die Tür schließen wollte, erblickte sie aus dem Augenwinkel ein Kabel auf dem Schreibtisch, das eindeutig zu einem Ladegerät gehörte. Rasch durchmaß sie das Zimmer und nahm das Kabel an sich. Während sie noch damit beschäftigt war, den Stecker in die Buchse ihres Handys zu schieben, blieb ihr Blick an einem Schreiben hängen, das offen auf dem Tisch lag.

Salomé war nicht der Typ, der in fremden Sachen schnüffelte. Sie hatte es ihre ganze Studienzeit über, die sie sich Zimmer in Wohnheimen geteilt hatte, geschafft, diese Maxime für sich durchzuhalten. Sie hatte es auch heute nicht vor. Schließlich ging es sie überhaupt nichts an, welche Briefe ihr Vater erhielt. Der rasche Blick hatte allerdings zwei Worte in ihre Netzhaut gebrannt.

„Mein Charles“, stand dort als Anrede. Unbewusst begann es, in Salomé zu rattern. Wer, wenn nicht Inès, würde ihren Vater „Mein Charles“ nennen. Aber das war eindeutig nicht die Handschrift ihrer Mutter. Vielleicht ein guter männlicher Freund?

Salomés Neugier war letztlich stärker als ihre Willenskraft. Sie musste diesen Brief lesen. Es war wie ein Sog. Schließlich war es besser, Verdächtigungen gleich auszuräumen, als sich über Halbinformationen den Kopf zu zerbrechen und ihrem Vater vielleicht Unrecht zu tun. Oder etwa nicht? Salomé blickte sich dennoch rasch um und sah zur Tür. Weit entfernt vernahm sie die gedämpften Stimmen ihres Vaters und Alexandres. Nach einem klärenden Räuspern hob sie den Brief langsam auf und las:

Suzanne Fontaine

Hôpital Saint-Joseph

6 Boulevard de Louvain

13285 Marseille

Charles de Bertrand

Mirabel

8, Chemin des Gorges

06190 Roquebrune-Cap Martin

Mein Charles,

wie unwirklich das für dich klingen mag. Aber es stimmt: Du warst immer mein. Selbst, als du mit ihr gegangen bist. Ich habe nie wieder jemanden so geliebt wie dich!

Ich habe dein Leben aus der Ferne mitbekommen, und es scheint dir gut zu gehen. Dann war deine Entscheidung damals richtig, und all deine Träume und Vorstellungen, wie dein Leben zu sein hat, sind in Erfüllung gegangen.

Vielleicht war es nicht richtig, dich die ganzen Jahre nicht mit meiner Sehnsucht nach dir zu belasten. Wie oft habe ich mich gefragt, ob ich mich damals zu schnell zurückgezogen habe. Aber im Grunde wusste ich, dass deine Entscheidung für dich das Glück bringen würde. Und da ich dich immer geliebt habe, lag mir an deinem Glück, und ich bereue nichts.

Meine Stunden sind gezählt. Ich bin sehr krank, und wenn du diesen Brief liest, bin ich bereits gestorben.

Unsere Liebe von damals ist nicht ohne Folgen geblieben: Wir haben einen Sohn gezeugt, und er heißt Mathieu Charles Fontaine. Er trägt meinen Mädchennamen, aber sein zweiter Vorname ist von dir, ebenso wie seine Augen, sein Charme und seine Intelligenz.

Aus ihm ist inzwischen ein wunderbarer Mann geworden, und er betreibt ein kleines Unternehmen als Landschaftsarchitekt hier in Roquebrune. Es ist schmerzlich für mich, dass ich sein weiteres Vorankommen nicht mehr miterleben werde. Aber du kannst es, wenn du das möchtest.

Er ist ein gut aussehender, beliebter Mann. Dennoch habe ich den Eindruck, dass er einsam ist. Er würde es niemals zugeben. Aber ich kenne ihn. Er sucht nach einer Gefährtin, aber er traut es sich nicht zu, sie wirklich zu finden.

Ich fürchte, daran bin ich schuld. Oder aber wir beide, Charles.

Glaube mir, ich habe versucht, Mathieu Zuversicht in das Leben und die Liebe zu lehren. Aber wie hätte ich ihm etwas erfolgreich vermitteln können, das mir selbst abgeht? Er weiß nicht, dass du sein Vater bist – ich möchte es dir überlassen, ob du mit ihm in Kontakt treten und ihn kennenlernen möchtest.

Leb wohl, mein Charles!

Für immer die deine,

Suzanne

Die Adresse deines Sohnes:

Mathieu Charles Fontaine

Architecte paysagiste

Rue du midi 68

06190 Roquebrune-Cap Martin

Salomé ließ den Brief sinken und stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. In ihrem Kopf arbeitete es. Ihr Vater hatte noch einen Sohn? Von einer Suzanne? Wusste ihre Mutter davon? Wer war diese Frau? Warum hatte er sie verlassen? Wie alt war dieser Sohn? Es gab also noch einen Bruder. Halbbruder, korrigierte sie sich automatisch. Ihre Gedanken rasten. Was würde Philippe dazu sagen? Würde dieser neue Bruder eine Rolle in der Bank spielen? Würde er alles zerstören?

Plötzlich schwindelig, lehnte sie sich kraftlos gegen die Tischkante. Sie ermahnte sich, Ruhe zu bewahren, und atmete tief ein und aus, bis sich ihr Puls beruhigt hatte. Dann begann sie in der ihr eigenen Art, die Sache rational zu durchdenken.

Er hieß Mathieu und lebte hier in Roquebrune, war Landschaftsarchitekt ... Hm, die Wahrscheinlichkeit, dass er für die Bank arbeiten wollte, war vermutlich gering.

Stirnrunzelnd wiederholte sie seinen Namen: Mathieu, Mathieu Fontaine ... und schlagartig fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ihr neuer Bruder Mathieu war Julias Mathieu! Mathieu, der Gärtner! Unfassbar! Salomé konnte nicht verhindern, dass ihr bei dieser Erkenntnis ein keuchender Laut entfuhr, der im leeren Zimmer widerhallte. Erschrocken blickte sie zur Tür, aber nichts tat sich.

Mathieu Fontaine war ihr Bruder! Sie hatte ihn bisher nur kurz gesehen, und da war er mit Erde beschmiert gewesen und hatte auch nur Augen für Julia gehabt. Je weiter sie den Gedanken vertiefte, desto offensichtlicher wurde, welche Tomaten sie auf den Augen gehabt hatte! Wie ähnlich Mathieu ihrem Vater sah. Dieselbe Kinnpartie. Dieselbe maskuline, selbstbewusste Ausstrahlung. Unglaublich, wie ihr das entgangen war. Unvermittelt freute sie sich darauf, Mathieu näher kennenzulernen. Ob er ihr auch ähnlich war? Ein erstauntes Glucksen entwich ihr, als ihr aufging, dass Julia vielleicht ihre Schwägerin werden würde. Oder wäre das dann auch nur Halbschwägerin?

Dann kappte schlagartig ein bitterer Gedanke ihre Träumerei. Falls ihre Mutter bislang keine Ahnung von dem weiteren Sohn ihres Mannes hatte, wie verletzt würde sie sich fühlen, wenn sie es nach all den Jahren herausbekam? Arme Maman!

Ein Geräusch von draußen ließ sie zusammenfahren. Sie hörte Schritte im Gang. Durch den Türspalt erspähte sie Pierre, der sie allerdings nicht bemerkt hatte und am Arbeitszimmer vorbeiging. Sie entspannte sich.

Achtsam legte sie den Brief wieder so auf den Tisch, wie sie ihn vorgefunden hatte. Am liebsten hätte sie das Schreiben kopiert und in Ruhe auf ihrem Zimmer noch einmal durchgelesen. Aber das wagte sie nicht.

Um ihre Spuren zu verwischen, entstöpselte Salomé sogar rasch das Handy und legte das Kabel zurück an seinen Platz. Dann schlich sie aus dem Arbeitszimmer, dessen Tür sie geräuschlos schloss. Äußerlich gelassen, arbeitete es in ihr weiter. Da gab es noch einiges zu klären. Eine leise Furcht, was diese Entdeckung für ihre Familie bedeuten könnte, griff nach ihr. Salomé seufzte. Sie war ein optimistischer Mensch. Es würde alles gut gehen. Fest stand nur: Dieser Sommer war in jeder Hinsicht bisher anders als die vorausgegangenen.

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