Читать книгу Das Alte Reich 1495 – 1806 - Axel Gotthard - Страница 10
2. Wichtige Elemente des Reichssystems a) Der Kaiser
ОглавлениеDie Wahl
Das Reichsoberhaupt wurde auf Lebenszeit gewählt, und zwar von den Kurfürsten. Es galt das Mehrheitsprinzip, doch suchten die Wähler wo immer möglich Einhelligkeit. Dem Papst wurde die Wahlentscheidung nur noch zur Kenntnisnahme mitgeteilt, einer päpstlichen Krönung bedurfte das neuzeitliche Kaisertum nicht mehr; der mittelalterliche Dreischritt (Wahl in Frankfurt, Königskrönung in Aachen, Kaiserkrönung in Rom) schrumpfte auf nur einen maßgeblichen Akt ein, die Wahl in Frankfurt, der die immerhin noch pompös inszenierte Krönung angehängt wurde. Die Kurfürsten konnten „vacante Imperio“ wählen, also den Tod des amtierenden Kaisers abwarten, von den 16 zwischen 1519 und 1792 vorgenommenen Wahlen ereigneten sich freilich sieben schon „vivente Imperatore“. Durch zeitige Königswahlen vermied man Interregna, und kaiserlose Zeiten galten den frühneuzeitlichen Kurfürsten als unkalkulierbare Gefahren, potenzielle Reichskrisen – sehenden Auges und fröhlichen Herzens auf ein Interregnum zuzusteuern, wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen. Manchmal drängten die Kurfürsten deshalb sogar mehr als der Kaiser auf eine zügige Regelung der Nachfolgefrage, beispielsweise unter dem siechen Rudolf – seit 1580, also seit dem vierten Regierungsjahr eines Kaisers, der dem Reich 36 Jahre lang vorgestanden hat, sind kurfürstliche Überlegungen nachweisbar, die um eine rasche Königswahl kreisen, doch blockte Rudolf ab. Das ist aber untypisch, in der Regel waren Kaiser an zügigen Königswahlen interessiert – weil sie eine geregelte Fortführung ihres Lebenswerks wünschten und weil sie vivente Imperatore Einfluss auf die Wahl nehmen, ihren Wunschkandidaten lancieren konnten.
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Wahlen vivente Imperatore Während der Kaiser noch lebt, wird bereits sein Nachfolger bestimmt; die Kurfürsten wählen einen „Römischen König“, der nicht auch schon Römischer Kaiser ist. Wenn frühneuzeitliche Akten vom „Kaiser“ sprechen, meinen sie das Reichsoberhaupt, der „König“ war ihnen der künftige Kaiser – nicht mehr und nicht weniger. Nicht mehr: Der König konnte aus seiner Wahl keine eigenen Regierungsrechte ableiten, solange der amtierende Kaiser noch lebte. Nicht weniger: In dem Augenblick, in dem der amtierende Kaiser starb, wurde der König neues Reichsoberhaupt, ohne dass es dafür noch eines zusätzlichen Ernennungsaktes bedurft hätte.
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Wahlen vacante Imperio Erst nach dem Tod des Reichsoberhaupts wird der Nachfolger gewählt – es tritt also eine kaiserlose Zeit ein, ein „Interregnum“; die provisorische Reichsverwaltung übernehmen solange die Kurfürsten von der Pfalz und von Sachsen, die „Reichsvikare“.
Warum kam es dann doch manchmal zu einem Interregnum? Es waren jedes Mal wieder andere, besondere Umstände verantwortlich, doch spielte auch eine konstant gültige politische Kalkulation hinein: War dem amtierenden Kaiser einmal sein Wunschnachfolger gewählt, hatten die Kurfürsten ein wichtiges Faustpfand ihres Einflusses auf die Politik der Wiener Hofburg aus der Hand gegeben; schon deshalb galt es, nicht allzu hurtig und beflissen kaiserlichen Wahlwünschen nachzukommen. Umgekehrt waren die Kaiser des kurfürstlichen Wahlrechts wegen tendenziell auf eine defensive Reichspolitik verwiesen, auf die Respektierung der teutschen libertät, der Reichsgesetze wie der ungeschriebenen Spielregeln des Reichssystems – denn ein allzu wuchtiger Regierungsstil gefährdete die Wahlchancen des erwünschten Nachfolgers. Schon weil das Kaisertum nicht erblich war, hatten die Kaiser nie die Chance, das Reich zu einem straff zentralisierten Untertanenverband zu machen.
Wahlkapitulationen
Am Wahltag präsentierten die Kurfürsten ihrem Kandidaten die „Wahlkapitulation“: eine Liste von Forderungen, die zu erfüllen er durch seine Unterschrift versprechen musste. Die Kurfürsten verpackten darin auch standespolitische Anliegen, strichen ihre eigene Schlüsselstelle im Reichssystem heraus; vor allem aber agierten sie als Sprecher aller Reichsstände, sie suchten durch eine Vielzahl ganz konkreter Regelungen einer selbstherrlichen Regierungspraxis vorzubeugen. Für alle nur denkbaren Regierungshandlungen wurde deshalb der jeweils notwendige Grad an Abstimmung im Reichsverband festgelegt – wann muss der Kaiser die Kurfürsten konsultieren, wann sich gar des Konsenses aller Reichsstände versichern? Die Wahlkapitulation eines jeweiligen Kaisers listet also seine Befugnisse, vor allem aber deren Grenzen auf, sie ist sein Kompetenzkatalog. Seit 1519 zum ersten Mal eine Wahlkapitulation zusammengestellt worden ist, wurden diese Texte von Mal zu Mal umfangreicher – weil man mit jedem Kaiser auch schlechte Erfahrungen gemacht hat, deshalb einer Wiederholung vorbauen wollte. Richtig gelesen, sind die jeweiligen Novellen deshalb eine Abrechnung mit dem Regierungsstil des letzten (oder, bei einer Wahl vivente Imperatore, des noch amtierenden) Kaisers.
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teutsche libertät Eine im politischen Diskurs des Reiches überaus häufig verwendete Formel, die nicht die moderne, in individueller Selbstverwirklichung gipfelnde „Freiheit“ für jeden Bewohner Mitteleuropas (Ebene 3) meint, sondern politische Spielräume für die Reichsstände. Selbst Obrigkeiten, Regenten über ihre Territorien, sahen sich nicht als „Untertanen“ des Kaisers oder der Reichsbehörden. „Wahrung der teutschen libertät“, diese Parole zielte auf ein Reich, das zwar gewisse Schutz- und Koordinierungsaufgaben erfüllte, dabei aber seine Glieder so wenig wie nur irgend möglich vereinnahmte und gängelte.
Der Kaiser war Oberhaupt des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“. Die Adjektive „römisch“ und „heilig“ erinnern noch in der Neuzeit daran, dass sich dieses Reich als Fortführung des antiken Imperium Romanum verstand und als Leitmacht des christlichen Abendlandes. Doch war Karl V. der letzte Kaiser, für den diese ehrwürdige Tradition auch im politischen Alltag viel bedeutet hat, Regierungsprogramm war. Alle seine Nachfolger sahen sich vor allem als gewählte Spitze des Reichsverbands, als oberste politische Autorität in Mitteleuropa. Im Zeitalter der werdenden Nationalstaaten verflüchtigte sich die Idee des christlichen Abendlandes ohnehin, wohl wehten Reste bisweilen noch im Osten, über der Türkenfront. „Der Türke“, das frühneuzeitliche Feindbild schlechthin, ist übrigens der Hauptgrund dafür, dass die Kurfürsten, wiewohl im Besitz der „freyen wahl“, im 16. und 17. Jahrhundert immer Habsburger zu Kaisern gemacht haben (danach, im 18., war mit Karl VII. auch einmal ein Wittelsbacher Reichsoberhaupt): deren Erbländer grenzten an die Türkenfront. Machte man einen Habsburger zum Reichsoberhaupt, sorgte dieses schon aus Eigeninteresse dafür, dass sich das Osmanische Reich nicht nach Westen in den Reichsverband hineinschob. Umgekehrt ließen sich die Reichsstände eher zum Engagement hinreißen, wenn die entsprechenden Hilfsappelle vom Kaiser kamen.
Warum immer wieder ein Habsburger?
Habsburg war propugnaculum contra Turcam, Bollwerk gegen das Osmanische Reich – dieses Kalkül beherrscht die Wahlakten des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Dynastie gebot über ausreichend „land und leut“ – Kaiser bezogen kein Gehalt, konnten sich nicht an einem ‘Reichsgut’ schadlos halten, das Amt verzehrte mehr Ressourcen, als es eintrug. Und „land und leut“ lagen an der rechten Stelle, an der Türkenfront. So fiel die „freye wahl“ immer wieder auf einen Habsburger. Nachdem einmal soundsoviele Habsburger nacheinander Kaiser gewesen waren, begann zudem die Tradition zum Argument für diese Dynastie zu werden, es „schuf die Kontinuität der Wahl auch eine Kontinuität der Herrschaft und Amtsführung“ (Maximilian Lanzinner). Außer Rudolf (1576–1612), der Prag wählte, pflegten Habsburgs Kaiser in Wien zu residieren, weshalb auch Reichshofrat und Reichskanzlei dort angesiedelt waren.
Römischer Kaiser – Kompetenzen wie ein Caesar oder ein Nero hatte er nicht! Der Mann, den dieser hochtrabende Titel schmückte, konnte vielmehr nur im Zusammenwirken mit den Reichsständen politisch wirksam werden. Es waren also nicht nur viele Hoheitsrechte vom Gesamtsystem auf die Glieder (Ebene 2) abgewandert, selbst auf Ebene 1, im Rahmen der Reichspolitik, konnte der Kaiser keinesfalls selbstherrlich agieren. Die Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts sortierte seine Befugnisse gerne in drei Gruppen auseinander. Erstens gab es demzufolge iura comitialia, Komitialrechte – hier musste der Reichstag zustimmen. Fast alle wesentlichen Regierungshandlungen fallen darunter: Reichssteuern, Reichsgesetze, die essentials aus dem Bereich der äußeren Beziehungen (wie Kriegserklärungen und Friedensschlüsse). Zweitens die iura caesarea reservata limitata: Hier musste der Kaiser die Zustimmung der Kurfürsten einholen, so beispielsweise, wenn er einen Reichstag einberufen wollte. Drittens gab es iura caesarea reservata, Reservatrechte – hier konnte der Kaiser alleine schalten und walten. Nur, was war überhaupt noch Reservatrecht? Befugnisse wie die, uneheliche Kinder zu legitimieren oder akademische Grade zu verleihen, unterstrichen zwar, dass der Kaiser eine Autorität für jeden einzelnen Reichsbewohner war, dass jeden der kaiserliche Arm prinzipiell erreichen konnte, sie brachten Ebene 1 und Ebene 3 des Reichssystems miteinander in Kontakt. Für die große Politik wichtig waren aber nur wenige Reservatrechte: die Ernennung der Reichshofräte; das Recht, dem Reichstag eine Liste der abzuarbeitenden Tagesordnungspunkte vorzulegen; oder das Recht, Standeserhöhungen vorzunehmen, so beispielsweise neue Reichsfürsten zu kreieren (was aber nur in Ausnahmefällen auf die Zusammensetzung des Reichstags durchschlug).
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Komitialrechte Der Kaiser kann nur im Zusammenwirken mit dem Reichstag agieren. Reservatrechte Rechte, die der Kaiser allein wahrnehmen kann.
Natürlich waren die drei Schubladen nicht über drei neuzeitliche Jahrhunderte hinweg gleich gefüllt. Die Reichsacht zu verhängen (einen Delinquenten „vogelfrei“, rechtlos zu machen), war ursprünglich kaiserliches Reservatrecht, wurde aber dann von Wahlkapitulationen kurfürstlicher Zustimmungspflicht, schließlich sogar der des Reichstags unterworfen, wanderte also zu den Komitialrechten. Dass die Wahlkapitulation von 1636 ein kurfürstliches Steuerbewilligungsrecht vorsah, alarmierte die Fürstlichen als Indiz dafür, dass das Reich im Wettlauf zwischen monarchischer und oligarchischer Deformation zentralisiert werde, und so blieb diese Einsortierung des Steuerbewilligungsrechts Episode.
Für den tatsächlichen Einfluss des Kaisers auf die Reichspolitik wohl mindestens so wichtig wie das nicht besonders imposante Grüppchen der Reservatrechte war seine Lehnshoheit. Der Kaiser war und blieb oberster Lehnsherr des Reiches. Das ließ sich auch fürs politische System nutzbar machen. Dieses kannte eigentlich nur Rechte und Pflichten, keine „Gefolgschaft“. Das Lehnswesen aber hielt den Lehnsmann zur „Treue“ an, und für viele Kaiser hieß das auch: „Gehorsam“ im reichspolitischen Alltag. Ihn reklamierten sie, als oberster Lehnsherr, und die Drohung, im Fall von Felonie (Bruch der vasallitischen Treue) das als Lehen ausgegebene Reichsterritorium einzuziehen, war ein treffliches Druckmittel – nur selten realisiert, aber als Drohkulisse im Hintergrund dauerhaft politisch wirksam.
Doppelrolle: Kaiser – Landesherr
Da die Kaiser fast immer Habsburger waren, agierten sie in einer brisanten Doppelrolle: als Regenten über einen riesengroßen Erbbesitz und als gewählte Reichsoberhäupter. Sie hatten fürs Wohl des Reiches zu sorgen, aber auch für das ihrer Erbländer und sogar für das der Dynastie (die im 16. und 17. Jahrhundert auch in Spanien regierte). Das eröffnete reichspolitische Chancen und konnte von Reichspolitik ablenken. Die Attraktion der habsburgischen Residenzen für den Adel des Reiches (fränkische, sogar rheinische Familien zog Wien an, für Schwaben war lange Zeit Innsbruck wichtig) schuf Einflusskanäle und Steuerungsmöglichkeiten, die eine nur die Rechtsnormen analysierende Verfassungsgeschichte gar nicht erfassen kann. Hatten die Reichsstände im 16. und 17. Jahrhundert öfters die Sorge, der Kaiser könne seine Hausmachtressourcen dafür missbrauchen, seinem Willen in der Reichspolitik unangemessen Geltung zu verschaffen und die teutsche libertät einzuschränken, wurde dem 18. Jahrhundert zunehmend zum Problem, dass Habsburgs Kaiser der Rolle des Reichsoberhaupts im Ensemble ihrer Herrscherpflichten einen immer geringeren Rang zuerkannten, weil ihnen ihr südosteuropäischer Erbbesitz mehr am Herzen lag als das mitteleuropäische Wahlamt. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass die wechselhafte Konjunkturkurve des Kaisertums, die sich nach einem ersten Tiefpunkt in den Vierziger- bis Sechzigerjahren des 17. Jahrhunderts wieder in erstaunliche Höhen aufgeschwungen hatte, im 18. Jahrhundert dauerhaft und irreversibel absank.
Der Kaiser, eher Koordinator und Schiedsrichter denn Herrscher, hatte allein kaum politische Kompetenzen und war doch ein gewichtiger Faktor im Reichssystem, aus diesen gar nicht immanenten Gründen: weil er – als Habsburger – über einen stattlichen Erbbesitz gebot und als oberster Lehnsherr. Schon das bezeichnet ein Spannungsverhältnis. Hinzu kam, dass sich die neuzeitlichen Kaiser unterschiedlich genügsam mit den reichsrechtlich vorgegebenen Beschränkungen ihrer Kompetenzen abfanden. Zwei Kaiser erlagen gar der Versuchung, Waffenerfolge in weitreichenden politischen Terraingewinn umzusetzen, das Reichssystem zentralistisch zu verbiegen: Karl V. und Ferdinand II. – weiter unten wird noch davon die Rede sein. Diese Vorstöße sind unterschiedlich rasch, aber gründlich gescheitert. Das Reich ließ sich nicht auf dem Verordnungsweg regieren.