Читать книгу Das Alte Reich 1495 – 1806 - Axel Gotthard - Страница 15
f) Die Kreisverfassung
ОглавлениеDie nahe liegende Idee, Reichsterritorien regionenweise zu gruppieren, um so Aufgaben angehen zu können, zu deren Bewältigung dem Reich eigene Verwaltungseinrichtungen, dem einzelnen Territorium Macht und Mittel fehlten, wurde schon seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert diskutiert. Aber erst die an der Schwelle zur Neuzeit besonders dynamische Reichsreformbewegung (vgl. Kapitel II) brachte die Realisierung: Es wurden 1500 sechs, 1512 weitere vier Reichskreise eingerichtet. Das Reich im engeren Sinne (also nicht die Eidgenossenschaft oder Reichsitalien; auch Böhmen nicht, nicht Böhmens Nebenländer) war nun zirkulär erfasst. Die Reichsritterschaft würde man nicht in die Kreisverfassung einbauen.
E
Die zehn Reichskreise waren (in etwa nach ihrer Bedeutung gereiht): – der Schwäbische – der Fränkische – der Oberrheinische – der Niederrheinisch-Westfälische – der Niedersächsische – der Kurrheinische – der Bayerische – der Obersächsische – der Österreichische – der Burgundische
Schutz des „Landfriedens“
Sukzessive übernahmen die Kreise wichtige Aufgaben für den Reichsverband, insbesondere als Exekutivorgane. Sie sorgten beispielsweise für die Verkündung und notfalls die Vollstreckung der Reichsgesetze, gewährleisteten die Vollstreckung der Urteile der höchsten Reichsgerichte. Vor allem aber kümmerten sie sich um die öffentliche Ruhe und Sicherheit (in damaliger Terminologie: den Landfriedensschutz). Im Jahr 1555 sollte man detaillierte Regelungen dafür ausarbeiten (vgl. Kapitel III.3). Da der Landfriede auch von Kriegen in dem Reich benachbarten Ländern gefährdet werden konnte, wuchs den Kreisen die Aufgabe der Grenzsicherung zu. Nicht nur gegen regionale Landfriedensstörer, auch wenn in der betreffenden Region die Außengrenze des Reiches gefährdet schien, stellten die Kreisstände dem Kreisobristen (siehe S. 27) ad hoc, für diesen Notfall, Truppen zur Verfügung. Mehrere Reichsschlüsse der Jahre 1681 und 1682 – sie werden manchmal missverständlich zur so genannten „Reichskriegsverfassung“ zusammengezogen – besiegelten die konstitutive Bedeutung der Kreise fürs Reichsmilitärwesen, legten fest, dass jeder Kreis im Fall eines Reichskrieges mit einem bestimmten Quantum zum Reichsheer beitragen musste. Dieses bestand also aus Kontingenten der zehn Kreise (die wiederum aus Kontingenten zusammengestellt wurden, die die einzelnen Kreisstände aufboten).
Dass mit einem derart kompliziert zusammengesetzten und langsam aufzubringenden Ad-hoc-Heer keine Angriffskriege geführt werden konnten, muss nicht erläutert werden, es hat die Reichsstände auch nicht gestört – das Reich war ein Rechtsschutzbund, Expansion seinem Wesen fremd. Bedenklicher war, dass die nur rudimentär entwickelte Reichskriegsverfassung auch den Schutz bedrohter Grenzregionen des Reichs nur unzulänglich gewährleisten konnte. Indes ließen die geringe Bereitschaft der Reichsstände, sich vom Reichsganzen vereinnahmen zu lassen und fürs Reichsganze zu engagieren, sowie die Scheu, der Reichszentrale missbrauchbare Machtmittel an die Hand zu geben, den Aufbau eines effektiven Reichsmilitärwesens nicht zu: Hier zeigt sich die teutsche libertät von einer modernen Augen befremdlichen Seite.
Selbstverwaltungskörper
Die Reichskreise nahmen nicht nur fürs Reichsganze, gewissermaßen ‘von oben’ beauftragt, wichtige Aufgaben wahr; daneben waren sie regionale Selbstverwaltungskörper und Selbsthilfeeinrichtungen, sie griffen Sorgen und Nöte auf, die einzelne Kreisstände, gewissermaßen ‘von unten’, an sie herantrugen: Verkehrsinfrastruktur, Marktordnungen, gemeinsames Vorgehen gegen Räuberbanden … Darin waren sie allerdings ganz unterschiedlich rege: Wo die Anliegen vieler mindermächtiger (also allein häufig genug ohnmächtiger!) Kreisstände zu koordinieren waren, bestand mehr Interesse an den Kreisaktivitäten als in Zirkeln, die sich aus wenigen großen Territorien zusammensetzten oder von einem einzigen übermächtigen Kreisstand dominiert wurden. Am vitalsten war wohl der Schwäbische Kreis, gefolgt vom Fränkischen; auch der Oberrheinische, zeitweise der Niederrheinisch-Westfälische, der Bayerische und der Niedersächsische Kreis entwickelten so etwas wie ein eigenständiges Kreisleben. Das gilt kaum für die beiden von den Kurfürsten beherrschten Kreise (der Kurrheinische immerhin war währungs- und wirtschaftspolitisch recht aktiv); die beiden Habsburgerlande umzirkelnden schließlich, der Burgundische und der Österreichische, existierten fast nur auf dem Papier.
Dem sukzessiven Anwachsen des Aufgabenbereichs im 16. Jahrhundert korrespondierte die Ausformung fester Organisationsstrukturen. Unregelmäßig kamen alle Reichsstände eines bestimmten Kreises zum Kreistag zusammen; er war Beratungsforum und Entscheidungsgremium für diesen Kreis (so wie der Reichstag fürs Reich, doch bedurften Kreistagsschlüsse keiner kaiserlichen Ratifikation). Zu den Kompetenzen des Kreistags gehörte die Wahl des schon erwähnten Kreisobristen, des Führers der (je und je im Bedarfsfall zusammengestellten) Kreistruppen – er war für die Friedenswahrung nach innen und außen zuständig. Hingegen wurde das Amt des Kreisausschreibenden früh durch Herkommen erblich. Mal übte es ein Fürst alleine aus, in anderen Kreisen gab es zwei Kreisausschreibende, einen geistlichen und einen weltlichen Fürsten. Die Kreisausschreibenden beriefen die Kreistage ein und führten die Korrespondenz mit den anderen Kreisen, es wuchs ihnen gewissermaßen die Geschäftsführung zu – wozu beispielsweise gehörte, dass sie die Reichsgesetze zur Publikation vor Ort an die einzelnen Kreisterritorien weiterversandten. Es gab eine Reihe nachgeordneter Kreiseinrichtungen, so eine Kreiskanzlei, die Kreiskasse, das Kreisarchiv.
Die Kreise waren wichtige Binnengliederungen des weiträumigen Alten Reiches, waren unverzichtbares Surrogat einer ansonsten nicht institutionalisierten, an keinem zentralen Punkt verorteten Reichsexekutive; war der Kaiser an Legislative und Jurisdiktion beteiligt, etwa über die Ratifikation der Reichsgutachten oder über den kaiserlichen Reichshofrat, funktionierte die Exekutive prinzipiell ohne ihn. Die Kreise kontrollierten und gewährleisteten, dass in den Reichsorganen gefällte Entscheidungen auch in die Tat umgesetzt wurden.
Kreisassoziationen
Im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert wurden die Reichskreise sogar Mitspieler auf der Bühne des Theatrum Europaeum – in der Blütezeit der so genannten Kreisassoziationen. Immer wieder schlossen sich verschiedene Kreise zusammen, um gemeinsam und mit über viele Monate, gar über Jahre hinweg unterhaltenen Truppen die Sicherheit einer gefährdeten Reichsregion zu gewährleisten. Insgesamt haben damals militärische Anstrengungen der von außen bedrohten zirkulären Teilräume des Reiches mehr zur Verteidigung der Reichsgrenzen beigetragen als von allen Reichsständen beschickte „Reichsheere“. Und die Kreisassoziationen wurden ob ihres militärischen Potenzials, was ein mittlerer Reichsstand oder ein einzelner Kreis niemals werden konnte: auf europäischer Ebene als Bündnispartner attraktiv. Vor allem während des Spanischen Erbfolgekriegs sah es zeitweise so aus, als könnten derartige Assoziationen im Konzert der Großen mitspielen, als würden aus Verwaltungseinheiten des Reiches politische Akteure. Es blieb diese ‘europäische Phase’ des Reichskreiswesens dann aber doch Episode.