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d) Reichstage, Reichsdeputationstage

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Der Reichstag war die Vollversammlung der Reichsstände. Er brachte also die regionalen Herrschaftsträger zusammen, nicht etwa gewählte Vertreter der einzelnen Reichsbewohner – es gab keine wie auch immer gearteten Wahlen zum Reichstag.

Themen und Kompetenzen

Der Reichstag war das zentrale politische Forum des Reiches. Der Kaiser musste sich von ihm alle wichtigen Regierungshandlungen absegnen lassen, weshalb sich der Reichstag auch mit allen wichtigen Politiksegmenten befasste – von Währungsproblemen bis hin zu solchen der inneren Ruhe und Rechtswahrung, von Handel und Wandel bis hin zu Krieg und Frieden. Brauchte der Kaiser, insbesondere zur Sicherung der Reichsgrenzen, einmal die finanzielle Unterstützung der Reichsstände, musste er die seiner Ansicht nach notwendige Geldsumme, übrigens mit wohl überlegter Begründung und genauer Zweckangabe, am Reichstag beantragen, der sie dann lediglich ad hoc, für dieses eine Mal, und nicht immer in der gewünschten Höhe bewilligte. Beantragt wie bewilligt wurden übrigens jedes Mal soundsoviele „Römermonate“. Diese irritierende Bezeichnung hat ihre eigene Geschichte: Im Jahr 1521 plante Kaiser Karl V. einen Romzug zum Zwecke der Kaiserkrönung, die damals angefertigte „Reichsmatrikel“ hielt fest, mit wie großen Truppenkontingenten sich jeder dort aufgelistete Reichsstand zu beteiligen hatte. Der anvisierte Romzug fand gar nicht statt, doch der Name der Rechnungseinheit für Reichshilfen blieb. Hatte ein Reichstag fünf Römermonate bewilligt, hieß das konkret: Jeder Reichsstand musste das Geld abliefern, mit dem man die hinter seinem Namen in der Matrikel genannte Anzahl von Soldaten fünf Monate lang besolden konnte. Natürlich waren dort für große Reichsstände höhere Truppenzahlen festgehalten als für ganz kleine (bei vielen Inkonsequenzen).

Die Arbeitsweise des Reichstags

Bevor der jeweilige Reichstag seine Beratungen aufnahm, wurde vom Kaiser oder seinem Vertreter die kaiserliche „Proposition“ verlesen, sie gab den Beratungsstoff vor. Man beriet über jeden Tagesordnungspunkt getrennt in den drei Kurien (Kurfürsten-, Fürsten-, Städterat), und zwar, ohne dass der Kaiser dabei gewesen wäre. Der Direktor der jeweiligen Kurie ließ zu diesem Zweck „umfragen“ – man darf sich keine freie Debatte, keine Diskussion im modernen Sinne darunter vorstellen, in immer derselben feststehenden Reihenfolge gaben nacheinander alle Mitglieder der betreffenden Kurie ihr „Votum“ ab; spätestens dem zwanzigsten oder dreißigsten Votanten blieb natürlich nur noch übrig, sich cum grano salis einem der vielen Vorredner anzuschließen, weil nichts Neues mehr zu sagen war. Ergab sich nach dieser „Umfrage“ kein eindeutiges Meinungsbild, wurde in derselben Weise ein weiteres Mal oder auch noch mehrere Male von allen „votiert“. Hatte sich in der ersten wie in der zweiten Kurie jeweils ein konsens- oder wenigstens eindeutig mehrheitsfähiges Meinungsbild herauskristallisiert, trafen sich beide (oder auch nur ihre Direktoren) zur „Re- und Correlation“: Man tauschte auf ‘neutralem’ Boden, in einem eigens dafür vorgesehenen Saal, die Beratungsergebnisse aus. Wurden gravierende Differenzen zwischen der kurfürstlichen „Relation“ und der „Correlation“ des Fürstenrats deutlich, musste man darüber wieder kurienweise beraten, das Ganze konnte sich mehrere Male wiederholen, bis die Positionen homogenisiert waren. Erst dann zog man pro forma noch die dritte, die Städtekurie bei, sie war in der Reichstagspraxis von minderem Gewicht. Hatten die Reichsstände zu einem bestimmten Tagesordnungspunkt eine gemeinsame Position gefunden, formulierte der Kurfürst von Mainz ein consultum Imperii („Reichsgutachten“), kaiserliche Ratifikation machte daraus ein conclusum Imperii (einen „Reichsschluss“) – modern gesprochen: ein Reichsgesetz. Bevor sich der Reichstag wieder zerstreute, formulierte der Kurmainzer einen langen Text, der alle conclusa dieses Reichstags aneinander reihte: den „Reichsabschied“.

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Reichsgutachten, Reichsschluss, Reichsabschied Die Resultate der Reichstagsberatungen über einen bestimmten Tagesordnungspunkt fasste der Kurfürst von Mainz in einem Reichsgutachten zusammen – einer Gesetzesvorlage, die durch kaiserliche Ratifikation zum Reichsschluss wurde. Dieser hatte Gesetzeskraft. Am Ende eines Reichstags wurden alle von ihm zustande gebrachten Reichsschlüsse zu einem langen Text aneinander gereiht: dem Reichsabschied dieses Reichstags.

Am Anfang und am Schluss war also der Kaiser im Spiel: Er berief ein (so die Kurfürsten einverstanden waren), formulierte die Tagesordnung – modern ausgedrückt, lag die Gesetzesinitiative weitgehend bei ihm. Und er musste am Ende zustimmen; ob wir Reichsabschiede nun als Verträge nehmen, die der Kaiser als Vertragspartner signierte, ob wir sie besser als von ihm ratifizierte Gesetze bezeichnen sollten, darüber zu streiten ist müßig, wichtig nur das: Ohne kaiserliche Zustimmung konnten die Reichsstände das Reichsrecht nicht ändern oder ergänzen. Aber natürlich konnte es das Reichsoberhaupt allein erst recht nicht – vor 1648 gelegentlich geäußerte Ansichten, wonach es ihm nach byzantinischem Kaiserrecht oder als Souverän im Sinne der Bodin’schen Staatslehre doch zustehe, zeugen von verfassungstheoretischem Extremismus, der wenig Gespür für die Funktionsbedingungen des Reichssystems verrät und im „Reichsherkommen“ nicht verankert war.

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Kaiser und Reichsgesetze Die Gesetzesinitiative lag weitgehend beim Kaiser, und Gesetzesvorlagen bedurften seiner Ratifikation; hingegen waren Beratung, Formulierung, Publikation und Exekution in ständischer Hand. Die Wahlkapitulationen betonten, dass einmal verabschiedete Reichsgesetze auch das Reichsoberhaupt banden.

Kaiserliche Initiativrechte, kaiserliche Ratifikation – aber beraten haben die Reichsstände über die einzelnen Tagesordnungspunkte unter sich, und Reichstagsdirektor war nicht etwa der Kaiser, war die ‘Nummer zwei’ des Reiches, der Reichserzkanzler. Diese Würde bekleidete, wie eben schon deutlich wurde, der Kurfürst von Mainz. Er hatte gewissermaßen die Geschäftsführung inne, eine Fülle von Vorrechten gewährleistete erheblichen Einfluss aufs Reichstagsgeschehen. Mit der Formulierung des Reichsabschieds wurde bereits eines dieser Vorrechte erwähnt, exemplarisch sei ein weiteres genannt: Durchs Nadelöhr der Mainzer Kanzlei mussten alle Schriften an den gerade versammelten Reichstag, ob Briefe europäischer Regenten oder „Supplikationen“ (Bittschriften) von Reichsständen, und nur, was der Mainzer den Kanzlisten der anderen Reichsstände „diktieren“ ließ, gewann amtlichen Charakter, hat für den Reichstag förmlich existiert; somit hatte der Mainzer trotz des kaiserlichen Propositionsrechts auch erheblichen Einfluss darauf, was am Reichstag überhaupt besprochen wurde.

Drei Kurien

Der Reichserzkanzler war ein Kurfürst, und so profitierte die erste, die kurfürstliche Kurie natürlich auch von seinen Vorrechten. Viele Details der (auf Herkommen beruhenden, nicht schriftlich fixierten) Geschäftsordnung strichen die Vorrangstellung der „Säulen des Reiches“ auch am Reichstag heraus: Die kleinste Kurie, mit sechs bis neun Mitgliedern, war die mit Abstand wichtigste, übrigens gerade wegen ihrer geringen Größe auch handlungsfähigste. Dass Reichsgutachten aus der Re- und Correlation zwischen Kurien mit extrem unterschiedlicher Mitgliederstärke erwuchsen, lief faktisch auf ein Wägen der Stimmen zu Gunsten jedes einzelnen Kurfürsten hinaus.

In der ersten Kurie Kurfürsten oder ihre Gesandten, in der dritten Vertreter der reichsstädtischen Magistrate – alle anderen votierten im Fürstenrat. Die zweite Kurie war mithin die mitgliederreichste und inhomogenste. „Virilstimmen“ (modern gesprochen: „one man, one vote“) führten nur die Reichsfürsten. Jene Mehrheit der Reichsprälaten, die nicht gefürstet war, und die vielen Reichsgrafen waren hingegen lediglich an einigen wenigen „Kuriatstimmen“ (Gruppenstimmen pro Sitzbank, ‘Sammelstimmen’) beteiligt. Rund hundert Reichsgrafen mussten sich vier Kuriatstimmen teilen, über vierzig Prälaten zwei; man votierte auf vier Grafenbänken (Wetterau, Schwaben, Franken, Westfalen) und zwei Prälatenbänken (Schwaben, Rheinland).

Ein Dauerproblem der deutschen Verfassungsgeschichte war die Verbindlichkeit der Reichsabschiede. Der Reichstag hatte sich kaum als zentrales Gremium der Entscheidungsfindung etabliert, eine gewisse Autorität gewonnen, als die Katholiken in der Reformationszeit ihre Majorität für konfessionspolitische Zwecke instrumentalisierten, wogegen die evangelischen Reichsstände immer wieder Protestationen einlegten – berühmt wurde die von 1529. Die „Protestanten“ bestritten damals (und seitdem immer wieder), dass man die Majorität in Glaubens- und Gewissensfragen ausspielen dürfe, lehnten es auf diesem Gebiet ab, sich Mehrheitsentscheidungen zu beugen. Das drohte den Reichstag zu entwerten, denn was war in der Reformationszeit, erst recht aber im Konfessionellen Zeitalter nicht alles Glaubensfrage! Schließlich bezweifelten manche Protestanten sogar die Verbindlichkeit von mehrheitlich beschlossenen Reichssteuern; diese nämlich sollten nur die evangelische Seite „ausmatten“, während sie der Kaiser seinen katholischen Parteigängern ohnehin unter der Hand erlasse. Wenn die Verbindlichkeit der Beschlüsse des zentralen politischen Forums derart in Frage stand, drohte das das Reichssystem zu blockieren.

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Protestationen Mit (förmlichen, schriftlich eingereichten) protestationes zogen einzelne Reichstagsteilnehmer oder reichsständische Gruppen, die mit einem soeben mehrheitlich gefassten Beschluss nicht einverstanden waren, immer wieder dessen Gültigkeit für sie selbst in Zweifel. Besonders brisant war es, wenn zahlreiche, gar fast alle evangelischen Reichsstände aus Glaubensgründen protestirten.

Der Westfälische Friede von 1648 zog die Konsequenzen daraus, ließ in Glaubensfragen nur gütliche Vereinbarung (amicabilis compositio) zwischen den Konfessionen zu. Seit 1648 konnte der Reichstag also auf zwei verschiedene Weisen beratschlagen – in den herkömmlichen, hierarchisch definierten Kurien oder in den konfessionell definierten Corpora (vgl. unten S. 93). Normalfall blieb die Beratung in den traditionellen Kurien: Allein das Wissen, dass die evangelische Seite auf eine itio in partes, das Auseinandertreten des Reichstags nach Konfessionen, pochen konnte, wirkte disziplinierend, vereitelte eine Instrumentalisierung der Majorität für konfessionspolitische Zwecke.

Der Reichstag hatte keine Periodizität, auch die Frequenz war sehr wechselhaft, Phasen mit fast jährlichen Reichstagen folgten solche mit ein bis zwei Reichstagen pro Dekade. Nach einem vollkommen gescheiterten (1608) und einem sehr krisenhaften (1613) Reichstag fand ausgerechnet in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges gut eine Generation lang keiner mehr statt (bis 1640), was eine lebhafte politologische Debatte über mögliche Surrogate auslöste; praktisch haben vor allem Kurfürstentage den Entscheidungsnotstand abzuarbeiten versucht.

Der Reichstag wird permanent

Hatten sich die Reichsstände bislang in ganz unregelmäßigen Abständen immer einmal wieder für einige Monate in einer Reichsstadt zum Reichstag versammelt, insgesamt rund fünfzig Mal, sollte der 1663 nach Regensburg einberufene gar nicht mehr enden. Über zentrale verfassungspolitische Fragen (sie hingen vor allem mit der mittlerweile umstrittenen Präeminenz der Kurfürsten im Reichssystem zusammen, es ging also ums Gewicht der oligarchischen Züge in der Mischverfassung des Reiches) war keine Einigung zu erzielen, man rang Jahr für Jahr darum und begann sich schließlich damit abzufinden, dass der Reichstag „immer während“ geworden war. Das veränderte natürlich sein Gesicht. Waren die Territorialherren seither jedenfalls bei ihnen wichtig dünkenden Tagesordnungspunkten persönlich am Reichstag erschienen, wurde dieser nun zum Gesandtenkongress – die Reichsfürsten hatten ja anderes zu tun, als jahraus, jahrein in den Regensburger Beratungssälen zu sitzen, mussten sich beispielsweise zu Hause um Land und Leute kümmern. Auch der Kaiser ließ sich nun durchgehend durch seinen „Prinzipalkommissar“ vertreten; kaiserliche „Kommissionsdekrete“ gaben fortan den Verhandlungsstoff vor, approbierten Reichsgutachten. Da der Reichstag nicht mehr auseinander ging, gab es keine Reichsabschiede mehr, nur noch Reichsschlüsse.

Die Zeichenhaftigkeit des Reichstagsverfahrens

Der Reichstag machte die Struktur des neuzeitlichen Reichssystems, seine Binnengliederung, die Prestigeverteilung sinnfällig. Er führte alle Regionen und reichsständischen Gruppen (von den „Säulen des Reiches“ bis hinab zu Vertretern der Reichsstädte) zusammen, und er bildete ständische libertät wie ständische Ungleichheit ab, ja, brachte beides wieder und wieder zur Aufführung, wobei jeder Akteur, da mitspielend, die überkommene Rollenverteilung neu bekräftigte. Wenn wir annehmen, dass der Reichstag die teutsche libertät gleichzeitig verbürgte und darstellte, garantierte wie demonstrierte, bekommen all die sattsam bekannten, gewöhnlich gallig kommentierten Erzwingungsschwächen und Vollzugsdefizite, die viel beklagten protestationes und lamentationes ihren guten Sinn, und das Gleiche gilt für die altertümlich anmutende Konkurrenz des „quod omnes tangit“ zum moderneren Mehrheitsprinzip. So weit die ständische libertät; die ständische Ungleichheit aber war schon in Form der Kuriengliederung tragendes Konstruktionsprinzip des Reichstags. Messen wir nicht anachronistisch an modernen Vorstellungen von Repräsentation, passt alles: die Kurfürsten bewohnen die schönste Stube, aber nicht allein das ganze Haus, dessen stützende Säulen zu sein sie vorgeben; die Städte im Kämmerchen, die Allerkleinsten (Reichsritter) haben gar kein Wohnrecht.

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Quod omnes tangit Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet – diese an sich altrömische Formel will zum Ausdruck bringen, dass einem Beschluss all diejenigen (sc. Reichsstände) zustimmen müssen, die von seinen Folgen betroffen sind. Die mit modernen parlamentarischen Vorstellungen unvereinbare Formel spielte, häufiger unausgesprochen als explizit, eine große Rolle für die Reichstagsarbeit.

Nur weil der Reichstag die Struktur des Reichssystems abbildungstreuer als alle denkbaren Alternativen widerspiegelte, konnte er jahrhundertelang das zentrale politische Forum sein und bleiben. So darf die Leistungsfähigkeit des Reichstags nicht nur an seinem legislativen Output gemessen werden (daran mag man herummäkeln), er integrierte (als Forum des Gedankenaustauschs, informelles Beziehungsgeflecht) und differenzierte, war gerade wegen seiner heute altertümlich anmutenden Zeichenhaftigkeit nach damaligen Maßstäben durchaus effektiv.

Der Reichsdeputationstag

Gewissermaßen ein verkleinertes Abbild des Reichstags war wiederum der Reichsdeputationstag. Wie die Vollversammlung der Reichsstände, repräsentierte auch diese Schrumpfform alle Regionen und reichsständischen Gruppen, denn sie wurde von Reichsständen aller zehn Kreise und aus allen drei Reichstagskurien beschickt; weil hier indes eben gerade nicht jeder einzelne Reichsstand mitstimmen durfte, mussten wirklich zentrale Entscheidungen dem Reichstag vorbehalten bleiben. Der Deputationstag bestand zunächst aus 16, dann lange Zeit aus 20, zuletzt aus 28 Mitgliedern. In kleinem Kreise sollten immer wieder einmal zwischen zwei Reichstagen bestimmte, von der letzten Vollversammlung des Reiches vorgegebene und recht genau umrissene Probleme erörtert, manchmal auch entschieden werden. Dass der Reichstag nach 1663 permanent wurde, machte Deputationstage obsolet. Doch konnte der Reichstag aus bestimmten Anlässen „außerordentliche Reichsdeputationen“ bilden; eine solche hat den berühmten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 erarbeitet.

Das Alte Reich 1495 – 1806

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