Читать книгу Das Alte Reich 1495 – 1806 - Axel Gotthard - Страница 9

I. Hinführung: Wie funktionierte das Alte Reich? 1. Das Alte Reich, ein Unikat

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Als sich Geschichtsbetrachtung zur Wissenschaft ausformte, im 19., dem nationalstaatlichen Jahrhundert, war das Alte Reich nicht wohl gelitten – bestenfalls ein drolliges Ungetüm, dessen wundersam verschnörkelten Aufbau und dessen Erzwingungsschwächen man gallig kommentierte, war es vielen sogar Inbegriff deutscher Schmach und nationaler Ohnmacht. Das Alte Reich hatte jene unseligen Zustände verschuldet, die die kleindeutschborussische Kampffront der Historiographie zu überwinden trachtete. Was man herbeischreiben und seit 1871 endlich, endlich im nationalen Taumel ganz unwissenschaftlich, weil distanzlos bejubeln wollte, war ein nach innen wie außen durchsetzungsfähiger Nationalstaat. Dessen Gefährdungen durch einen entfesselten Nationalismus, seine Übersteigerung im Totalitarismus, schließlich seine Einbindung in neue übernationale und föderale Strukturen: das gehörte nicht zum Erfahrungsschatz der Gründerväter unserer Wissenschaftsdisziplin. Die Maßstäbe ihrer Formationsphase (und mit ihnen die zur weltanschaulichen Grundausstattung des professionellen Historikers gehörende Geringschätzung des Alten Reiches) wirkten indes erstaunlich lange nach, um erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ihre Verbindlichkeit einzubüßen.

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„Altes Reich“ Weil die zeitgenössische Titulatur „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ so lang ist, hat sich in der Forschung dieses Kürzel durchgesetzt; „alt“ ist das 1806 untergegangene Reich im Kontrast zum 1871 gegründeten Kaiserreich.

Ein nach innen wie außen durchsetzungsfähiger Nationalstaat: das nun war das Alte Reich nicht. Es war strukturell nichtangriffsfähig (was heutzutage auch seinen Charme ausmachen mag) – Reichszweck waren nicht Machterweiterung und Expansion, sondern Rechtsschutz und Friedenswahrung. Rechtsschutz: das Reich hatte die Dynamik der Macht gerade einzudämmen, dafür zu sorgen, dass Untertanen vor der Willkür ihres Landesherrn geschützt wurden, kleine Reichsstände vor der Arroganz der großen, die Reichsstände überhaupt vor kaiserlichem Übermut – das Reich belancierte aus, überwachte den Status quo, war insofern tendenziell konservativ. Friedensschutz: der Reichsverband sollte verbürgen, dass in der Mitte des Kontinents Ruhe und Stabilität herrschten, dass Territorien, die auf sich allein gestellt wehrlos waren, nicht schikaniert oder gar annektiert wurden, weil es dem bösen Nachbarn so gefiel; dass das Reich nicht ähnlich geeignet war, seine Glieder gegenüber anderen politischen Systemen, vor einer zunehmend aggressiven europäischen Umgebung zu schützen, war sein größtes Defizit.

Das Reich war nach innen viel weniger durchsetzungsfähig als die gleichzeitigen werdenden Nationalstaaten ringsum; was an einem Weniger an Staatlichkeit liegt, das dieses Büchlein noch erklären muss. Wir werden beispielsweise sehen, dass das Reich fast keine eigenen Verwaltungsstäbe besaß, deshalb für die Umsetzung des zentral Beschlossenen auf Personal und guten Willen seiner Gliedterritorien, ihrer Verwaltungen angewiesen war; dass es über kein eigenes einheitliches Heer verfügte; dass keine nennenswerten regelmäßigen Reichssteuern flossen; dass das Reichsoberhaupt nicht den Glauben der Bewohner des Reichsgebiets bestimmen konnte (für die Frühe Neuzeit ein wichtiges Attribut der Staatlichkeit). Das Reich hatte keine eigentliche Hauptstadt, dafür mehrere politisch und viele kulturell wichtige Zentren; es barg so große Vielfalt, bot so viele Freiräume, dass es den europäischen Zeitgenossen als guter Raum zum Leben galt. Das Alte Reich war in seiner Zeit wohlgelitten, der gute Ruf wurde erst nach seinem Untergang ruiniert, durch üble Nachrede des nationalstaatlichen 19. Jahrhunderts.

Drei Ebenen

Der Reichsverband war ein ausgeprägt dezentrales, föderatives Gebilde. Vormoderne deutsche Geschichte spielt sich nicht im dualistischen Miteinander Obrigkeit – homogener Untertanenverband, Regierung – Volk ab (was als ‘normal’ anzusehen uns die nationalstaatliche Epoche vererbt hat), spielt vielmehr auf drei Ebenen.

Das Reich war ein Dachverband über Territorien, die indes nicht unmittelbar vom Reichsganzen, sondern von ihrer je eigenen Obrigkeit regiert wurden. Um von unten nach oben zu schauen: Der einzelne Einwohner (Ebene 3) eines Reichsterritoriums hatte den Gesetzen und Anordnungen seiner Territorialobrigkeit (Ebene 2), eines Fürsten oder eines reichsstädtischen Magistrats Folge zu leisten; diese wiederum waren den Spielregeln des Reichsverbandes unterworfen, anerkannten den Kaiser als (jedenfalls ideelles) Oberhaupt, waren den Gerichtsurteilen des Reiches unterworfen und im Prinzip auch den Beschlüssen des Reichstags. Direkter Kontakt zwischen Ebene 1 (Kaiser, Reichsorgane) und Ebene 3 (der einzelne Bewohner Mitteleuropas) kam nur selten zustande, war aber grundsätzlich möglich, beispielsweise, wenn Bauer X oder Handwerksmeister Y (Ebene 3) ihre Territorialobrigkeit (Ebene 2) vor einem Reichsgericht (Ebene 1) verklagten.

Dass dieses Büchlein in den verschnörkelten Reichsbau drei Ebenen einzieht, mag den Kenner als Simplifizierung ärgern. Tatsächlich waren nicht nur jene Hochadeligen, die als Reichsstände Reichspolitik betrieben und als Landesherren Territorien regierten, sehr unterschiedlich privilegiert und mächtig, auch die altständische Gesellschaft innerhalb jedes einzelnen Territoriums war mannigfach in sich gestuft. Das ging so weit, dass im Alltag vieler kleiner Leute weniger die Landesregierung denn der Guts- oder Grundherr als verhaltensbestimmende „Obrigkeit“ erfahren wurde; dass nicht nur Kaiser und Reich weit weg waren, sondern genauso die Territorialobrigkeit, unter den damaligen Kommunikationsbedingungen auch geographisch, aber nicht minder im übertragenen Wortsinn. Andererseits waren die territorialen Eliten mancherorts, über Landtage, an der Innenpolitik des Territoriums beteiligt, so, wie eine Ebene darüber jeder Reichsstand als Reichstagsteilnehmer an der Reichspolitik mitwirken konnte. Noch einmal ganz schematisch formuliert: Die Territorialobrigkeiten (Ebene 2) waren in ihrer Eigenschaft als Reichstagsteilnehmer aktiv an der Gestaltung der Reichspolitik beteiligt; ein kleiner Teil der von der Territorialobrigkeit Regierten (Ebene 3) war, über den Landtag (in Reichsstädten: den Stadtrat), aktiv an der Gestaltung der Landespolitik beteiligt. Je genauer man hinschaut, desto mehr Ergänzungen verlangt das skizzierte Drei-Ebenen-Modell, freilich verliert es dann auch gleich wieder seine Griffigkeit. Es vermag nicht sehr weit zu tragen, kann aber eine erste Annäherung erleichtern.

Das Reich überwölbt als Dachverband viele Territorien, Reichspolitik umrahmt viele Landespolitiken – ist Reichsgeschichte dann die Summe aller Landesgeschichten? Was ist das Anliegen einer Geschichte des Alten Reiches? Ebene 1 natürlich, aber nicht nur – auch, inwiefern Ebene 1 auf die beiden anderen Ebenen einwirkte, hat sie zu analysieren. Kaiser und Reichsorgane sind ihr Thema. Und die Reichsfürsten? Auf welcher Ebene wir ihr Tun ansiedeln müssen, hängt davon ab, in welcher ihrer Rollen sie agierten. Wenn sie als Reichsglieder handelten, sich beispielsweise zum Reichstag versammelten, trieben sie Reichspolitik – wie Kaiser und Reichsstände im spannungsvollen Miteinander Reichspolitik zu machen pflegten, das zu untersuchen ist vornehme Pflicht einer Geschichte des Alten Reiches. Wie dieselben Reichsfürsten ihre Rolle als Landesherren ausfüllten, interessiert sie nur von den reichsrechtlich vorgegebenen Rahmenbedingungen her. Was der einzelne Landesherr daraus machte, das darzulegen gehört nicht in eine Reichs-, gehört in eine der vielen Landesgeschichten.

Die Reichsgrenzen

Der dreistufige Aufbau des Reichsverbandes konsterniert heutige Studenten nicht mehr; die im Werden begriffene Europäische Gemeinschaft ist in der Grundanlage vergleichbar (natürlich kommt sie, tempora mutantur, ohne Kaiser aus …). Dass die Grenzen des Reiches nicht zuverlässig anzugeben sind: mit dieser Zumutung hingegen wagen den Lernenden viele Handbücher erst gar nicht zu behelligen. Es ist deshalb nicht weniger wahr. Auch von dieser Seite her zeigt sich, dass der Dachverband Reich auf dem Weg vom mittelalterlichen Personenverbands- zum modernen institutionalisierten Flächenstaat nicht so weit vorangeschritten war wie die werdenden Nationalstaaten ringsum. Eine wichtige Etappe auf dem Weg zum durchbürokratisierten Anstaltsstaat war die Herausbildung linear darstellbarer Außengrenzen anstelle von breiten Grenzsäumen mit Überlappungen und Bereichen verdünnter Herrschaftspräsenz – durch Grenzbereinigungen gewissermaßen, erst sie schufen ein präzise zu umreißendes „Staatsgebiet“; auch wenn letzte Unklarheiten erst im 18., gar 19. Jahrhundert ausgeräumt worden sind, kann man doch den europäischen Staaten wie auch den Reichsterritorien des 16. Jahrhunderts im Prinzip lineare Umgrenzungen bescheinigen. Das Reich hingegen hatte die ganze Neuzeit hindurch neben Kerngebieten Zonen mit verdünnter Reichspräsenz und auch Randbereiche, die sich am politischen Leben des Reichssystems gar nicht beteiligt haben.

Eindeutig ist der Befund im Norden (Meeresküste) und im Südosten, wo verschiedene habsburgische Erbländer wie Österreich unter der Enns, Steiermark, Krain, Tirol und das Hochstift Trient die Grenze des Reiches markierten. Im Nordosten lässt sich die Grenze auch klar angeben, doch fällt auf, dass das einstige Deutschordensgebiet, wiewohl deutsch geprägt (und ungeachtet der Tatsache, dass der Reichstag von 1530 Livland zum „mitglied“ des Reiches deklariert hat), tatsächlich nicht zum Reichsverband gehört hat. Im Osten pflegen heutige Kartografen Böhmen regelmäßig dem Reich zuzuschlagen; doch gehörte es nach Ansicht seiner Bewohner keinesfalls dazu und nach Ansicht der politischen Partner auch eher nicht, obwohl es der kaiserlichen Lehnshoheit unterstand und obwohl der Böhmenkönig das Reichsoberhaupt mitwählte. Keine unstrittigen Reichsgrenzen lassen sich im Westen und Südwesten angeben. Die habsburgischen Niederlande (also in etwa das heute von Holländern und Belgiern bewohnte Gebiet) wurden 1548 durch den Burgundischen Vertrag gezielt zu einer Zone verdünnter Reichspräsenz gemacht, beispielsweise aus der Gerichtshoheit des Reiches entlassen – doch bedeutete das keine vollständige Herauslösung aus dem politischen System. Indes sahen sich die separatistischen nördlichen Provinzen (ungefähr die heutigen Niederlande) seit 1648 aller rechtlichen Bindungen ans Reich enthoben, und niemand widersprach lautstark; tatsächlich hatten sie sich schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sukzessive dem Reichsverband entwunden, aus seinem politischen Leben verabschiedet. Von einem Nachbarn, nämlich Frankreich, sukzessive aus dem Reichsverband herausgelöst wurden im selben Zeitraum die Hochstifte Metz, Toul und Verdun; auch nicht auf einen Schlag ging im 18. Jahrhundert Lothringen verloren, dazwischen liegen die vorübergehenden und dauernden Opfer der ludovizianischen „Reunionspolitik“. Und die Eidgenossen? Gehörten de jure bis 1648 zum Reichsverband, nahmen aber schon seit 1499 fast überhaupt nicht mehr an seinem politischen Leben teil – frühneuzeitliche Schweizer Geschichte ist etwas Eigenes, frühneuzeitliche österreichische Teil der Reichsgeschichte. Das südlich der Eidgenossenschaft angrenzende Savoyen gehörte bis 1801 zum Reich, jedenfalls de jure, besonders engagiert an der Reichspolitik beteiligt hat sich diese Exklave nicht. Trotzdem schlagen Geschichtsatlanten – Grenzziehungen von Kartographen erfordern eindeutige Entscheidungen – Savoyen in der Regel dem Reich zu, das mag angehen. Tun sie es mit dem gleichen Recht mit anderen Gebieten südlich des Alpenhauptkamms? Das Großherzogtum Toskana, Herzogtümer wie Mailand, Mantua, Modena, Parma oder Mirandola, Republiken wie Genua oder Lucca: sie haben sich weder als teutsch empfunden noch Rechte und Pflichten eines Reichsglieds wahrgenommen. Wohl aber beanspruchte der Kaiser die Lehnshoheit über sie.

Lehnsverband und politisches System

Offenbar hilft die Unterscheidung zwischen dem Lehnsverband und dem politischen System weiter. Geschichtsatlanten zählen bisweilen auch manche derjenigen Gebiete zum Reich, die zwar dem Kaiser verpflichtet, weil von ihm lehnsabhängig waren, die sich aber nicht das Recht herausnahmen, aktiv Reichspolitik zu gestalten, und sich nicht der Pflicht unterwarfen, die entsprechenden Lasten zu tragen. Sie gehörten nicht zum politischen System – als Element dieses Systems qualifizierte sich, wer Reichstage beschickte und Reichssteuern entrichtete, das sind die geeignetsten Indikatoren. Ob sich ein Territorium Beschlüssen der Reichsgerichte beugte, ist ebenfalls aufschlussreich, aber kein so zuverlässiges Indiz. Schon seit 1512 stand sodann fest, welche Territorien in die Kreisverfassung einbezogen waren (deshalb später beispielsweise in der Reichsexekutive und beim Landfriedensschutz mitwirken würden) oder aber nicht.

Reichstagsbeschickung, Entrichtung von Reichssteuern, Akzeptanz der Urteile der Reichsgerichte, Mitarbeit in den Kreisen: dieses Kriterienraster könnte man an jedes Reichsterritorium anlegen und dann bilanzieren, wie fest es ins politische System integriert war oder ob es gar nicht dazugehört hat. Stark schematisiert, ergäbe sich erstens ein fester Kern von Territorien, die in der ganzen Frühen Neuzeit das politische System des Reiches gebildet haben (mit einem gewissen, an Intensität und Stetigkeit des politischen Engagements ablesbaren Integrationsgefälle vom Süden und Südwesten hinab nach dem Norden und Nordosten); zweitens entzogen sich einige Gebiete zuerst dem politischen System und dann dem Lehnsverband (Niederlande, Schweiz); drittens gab es lehnsabhängige, aber politisch ganz selbständige Gebiete; über die Zugehörigkeit Böhmens und Savoyens zum politischen System mag man sich viertens noch streiten.

Das Nebeneinander zwischen weiterem und engerem Reichsverständnis konnte sogar bisweilen spannungsvoll sein – etwa, wenn die Reichsstände den Kaiser aufforderten, sich um Landfrieden und äußere Sicherheit des politischen Systems Reich zu kümmern, anstatt seine Kräfte an die Behauptung der Lehnshoheit auf der Apenninhalbinsel zu vergeuden. Wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, meint dieses Büchlein, vom „Reich“ sprechend, das politische System – ein den Zeitgenossen geläufiges Reichsverständnis, aber nicht ihr einziges.

Der Lehnsverband reichte räumlich weiter als das politische System, aber er hat es mit umfasst – man wird Reichspolitik nicht verstehen, wenn man das Reich nicht auch als Lehnsverband und aristokratischen Personenverband nimmt, wenn man neben dem Reichsrecht Lehnsabhängigkeiten und informelle Spielregeln vernachlässigt. So wäre beispielsweise der Kaiser politisch gar nicht durchsetzungsfähig gewesen, wenn er nicht auch oberster Lehnsherr gewesen wäre und Patron einer sich besonders anhänglich um ihn scharenden Klientel. Zu ihr gehörten einerseits hauptsächlich katholische Reichsglieder, andererseits vor allem kleinere, mindermächtige – und die Regenten der sowohl katholischen als auch mindermächtigen geistlichen Territorien ohnehin. Die vielen kleineren Fürsten und Grafen waren des Rückhalts an der Wiener Zentrale besonders bedürftig, hätten alleine keine Sprechrollen auf der Bühne des Theatrum Europaeum ergattern können, ihre Territorien waren für sich, ohne Rückhalt an Kaiser und Reich, nicht ‘staatsfähig’. Sie brauchten das schützende Dach des Reichsverbands besonders dringend, brauchten ein handlungsfähiges Reich unter einem starken Kaiser. Von den kleinen Residenzstädten (nicht den Kapitalen der notfalls auch ohne Kaiser und Reich lebensfähigen Großterritorien) gingen die Kohäsionskräfte aus, die den Reichsverband jahrhundertelang beisammenhielten. Die Masse der Kleinen und ganz Kleinen – das war der Kitt, der das Reich zusammenhielt.

Kein Nationalstaat

Nicht nur wegen der angedeuteten Grenzziehungsprobleme war das Reich kein Nationalstaat. Selbst der Lehnsverband umfasste nicht alle europäischen Regionen, in denen deutsch gesprochen wurde, er reichte andererseits natürlich weit über das Gebiet tiutscher zunge hinaus. Man sprach im Reich beispielsweise italienisch, rätoromanisch oder ladinisch, redete (wenn wir Böhmen und seine Nebenländer dazuzählen) tschechisch und slowenisch, auch polnisch; sogar Sorbisch und Wendisch kamen vor, man unterhielt sich dänisch oder niederländisch, parlierte französisch. Deutsche Dynastien erwarben ausländische Kronen (und residierten, beispielsweise, in London), umgekehrt regierten ausländische Kronen (die schwedische zum Beispiel) auch Reichsterritorien. Gewiss wölbte sich das Dach des Reiches vor allem über Gebiete teutscher nation, aber die Nationalität war offenkundig kein zentrales Konstruktionsprinzip des Reiches. Die politisch, ökonomisch und lange Zeit auch kulturell maßgebliche Elite, der Adel, war international ausgebildet (Kavalierstour) und in internationale Heiratskreise einbezogen.

Das Reich – ein „Staat“?

Kein Nationalstaat also, das Reich – war es überhaupt ein „Staat“? Passt das Wort auf die teutschen Verhältnisse? Da wir Heutigen bei diesem Ausdruck unweigerlich den modernen institutionalisierten Flächenstaat assoziieren, sollten wir auf den Terminus im Zusammenhang mit der Reichsgeschichte verzichten. Die heutzutage geläufigen Konnotationen des Begriffs auszumerzen dürfte schwerer fallen als dieser Verzicht.

Zu einem „Staat“ gehören für den modernen Menschen ein klar abgrenzbares Staatsvolk, ein nicht minder präzise definiertes Staatsgebiet sowie eine effektive und überall auf diesem Gebiet durchsetzungsfähige Staatsgewalt. Schon die ersten beiden Kriterien führen beim Reichsverband in komplizierte Probleme, aber selbst wenn wir ihn auf das politische System verkürzen: die ‘Reichsgewalt’ war viel weniger effektiv und durchsetzungsfähig als die Zentralen ringsum, in den werdenden Nationalstaaten. In der Mitte Europas vollzog sich die typische Entwicklung frühmoderner Staatlichkeit gewissermaßen eine Ebene tiefer als anderswo, im regionalen Rahmen nämlich, in den einzelnen Reichsterritorien. Das Reich als Ganzes ließ manche Bereiche staatlichen Handelns verwaist, es gab ja keine nennenswerte ‘Reichsverwaltung’, keine ‘Reichspolizei’ – der Reichsverband war bei der konkreten Umsetzung seiner Rahmengesetzgebung, für die Exekution (lat. exsecutio = Ausführung, Vollstreckung) der in Reiches Namen gefällten Gerichtsurteile auf die Mitwirkung der einzelnen Glieder, der Reichsterritorien angewiesen.

Das Reich war kein „Staat“, es überwölbte Territorien, die viele Merkmale der damals üblichen Staatlichkeit ausgebildet, sozusagen an sich gezogen hatten. Das Reich sorgte als Dachverband für ein Minimum an Interessenkoordination, schützte die ganz Kleinen vor der Respektlosigkeit derjenigen Großen, die notfalls auch alleine, ohne Kaiser und Reich, auf der Bühne des Theatrum Europaeum hätten bestehen können (was man den Grafen von Wied-Runkel oder der Reichsstadt Schweinfurt schwerlich zubilligen wird). Das Reich setzte einen Rahmen, den die Einzelterritorien bei der Verfolgung ihrer legitimen eigenen „Staatsräson“ nicht überschreiten durften. So durften sie, beispielsweise, sehr wohl Landesgesetze verabschieden; aber keine, die den Reichsgesetzen widersprachen. Die Reichsstände konnten nicht einfach schalten und walten, wie sie wollten – waren insofern nach dem Verständnis der Zeit nicht „souverän“.

Wie sich das Wort „Staat“ nicht zum Reich fügen will, passt ein Schlüsselbegriff der neuzeitlichen Staatslehre nicht auf die teutschen Verhältnisse: die „Souveränität“. Dieser seit Jean Bodin für den politologischen Diskurs zumal Westeuropas zentrale Begriff bezeichnet die höchste, unabgeleitete – also nicht delegierte und nicht rückholbare – Herrschaftsgewalt, die an einer Stelle (bei einem Gremium oder, was Bodin favorisierte, in einer Person) verortbar sein müsse. Besagten Punkt (Bodin tippte eher hilflos auf den Reichstag) gibt es im Reichsverband tatsächlich nicht. Der nämlich war eine gestufte Ordnung von ‘Teilsouveränitäten’, manche Befugnisse lagen beim Dachverband, viele bei den einzelnen Gliedern; ähnlich, wie wir das (der Hinweis sei noch einmal erlaubt) auch bei der Europäischen Union beobachten können. Der Kaiser konnte nicht souverän mit den Reichsständen umspringen, wie ihm beliebte; diese wiederum regierten ihre Territorien auch nicht souverän, da sie sich in den Reichsrahmen einpassen, Vorgaben der Reichsorgane zu beachten hatten.

Eine „gemischte“ Verfassung

Kein Punkt, in den alle Fäden zusammenlaufen (sprich: kein „Souverän“) – schlimmer noch, für den, der sich der Reichsgeschichte zum ersten Mal nähert: der Reichsverband sperrt sich, ein „irregulare aliquod corpus et monstro simile“ (wie Samuel von Pufendorf einmal klagte: ein unregelmäßiges, einem Monstrum ähnliches Gebilde), gegen alle damals wie heute gewohnten Klassifizierungsversuche der Staatslehre. Er passt in keine Schublade! „Wenn sich demnach jemand nach der Regierungsform in Deutschland erkundigen sollte, so muss man ihm antworten: Deutschland wird auf deutsch regiert“ – so der dänische Schriftsteller und Historiker Ludvig Holberg 1745 in seinem „Bedenken über gewisse europäische Nationen“. Die Regierungsgewalt lag nicht nur bei der Zentrale und nicht nur bei den Reichsgliedern; sie war nicht vollständig in der Hand einer Person (Kaiser), im Besitz einer kleinen Gruppe (Kurfürsten) oder der Gesamtheit aller Mitglieder des Personenverbands (Reichstag). Deshalb passt weder das Etikett „Staatenbund“ (wiewohl das alte Schulbücher, zumal des Kaiserreichs, behaupten) noch die Rubrik „Bundesstaat“ (zu der schon Zeitgenossen tendierten – Besold im 17., Pütter im 18. Jahrhundert); deshalb war das Reich weder eine Monarchie (wie Reinkingk postulierte) noch eine Oligarchie (jene „Herrschaft Weniger“, die beispielsweise Leibniz an die Wand malte) noch eine Aristokratie. Das Reich war auf eine beim ersten Hinsehen komplizierte, auf den zweiten Blick faszinierende Weise von allem etwas. Ein Gutteil der Reichsgeschichte ist eingespannt in den Widerstreit zwischen zentralistischer und föderalistischer Auffassung vom Wesen des Reiches, ohne dass es dem Wiener Behördenapparat je gelungen wäre, regionalen Eigenwillen zu brechen, regionale Eigenbrötelei abzuschleifen, oder das Reich je in einen Staatenbund zerfallen wäre. Das Reich wies monarchische Züge auf, gewiss bildeten „Kaiser und Reich“auch und vor allem einen aristokratischen Personenverband, ferner waren der Verfassung des Reiches schwankende, aber zu Zeiten sehr ausgeprägte oligarchische Gehalte eigen (die Kurfürsten). Vom „status mixtus“ sprachen schon viele Zeitgenossen zu Recht, von der „res publica mixta“ – die Verfassung des Reiches war gemischt.

„Die Verfassung des Reiches“: ein letztes mögliches Missverständnis soll hier gleich ausgeräumt anstatt latent bis zur letzten Seite mitgeschleppt werden. Das Reich besaß nicht das eine Regelbuch, seine Spielregeln waren an allen möglichen Stellen niedergeschrieben und sehr unterschiedlich alt. Ein wichtiges, die Zeitgenossen sagten: ein „Grundgesetz“ (lex fundamentalis) stammte aus dem Mittelalter – die Goldene Bulle von 1356. Lange Zeit ganz unstrittig, danach zeitgenössische Mehrheitsmeinung war, dass die Wahlkapitulationen (siehe S. 10) Grundgesetze des Reiches darstellten. Auch die Reichsabschiede gaben das Regelwerk vor, einige besonders wichtige Passagen wie der so genannte Augsburger Religionsfriede von 1555 ebenfalls im Rang eines Grundgesetzes. Natürlich war der Ewige Landfriede von 1495 Bestandteil der Reichsverfassung und der Westfälische Friede von 1648 war es – wie manches andere, es soll hier nicht alles aufgezählt, gleichsam schon angekündigt werden, dieses Büchlein wird noch von vielen wichtigen Reichsgesetzen erzählen. Zum Regelwerk des Reichssystems gehörten aber auch bilaterale Verträge, Privilegien, gehörte das womöglich nur mündlich tradierte „Herkommen“. „Die Reichsverfassung“ – das war kein kohärenter Text aus einem bestimmten Jahr mit einer benennbaren Anzahl an Paragraphen! Schon deshalb war sie auch nicht statisch, sie entwickelte sich – manchmal mit unschwer erkennbarer großer Dynamik (Zeit der „Reichsreform“), manchmal (wie alles in allem über die letzten 120 Jahre hinweg) scheinbar langsam; im Fluss jedenfalls war sie immer.

Eine Verfassung, die Spielräume belässt

Eine Vielzahl unterschiedlich alter Spielregeln – gab es da nicht zwangsläufig Überschneidungen und Lücken, auch veritable Widersprüche? Gewiss, aber nach zeitgenössischem Empfinden nicht zum Schaden des Reiches. Die Verfassung des Alten Reiches war nicht fest gefügt, sondern locker gefugt, sie ließ Spielräume für tektonische Verschiebungen. Große Toleranzen also statt Präzisionsarbeit – aber genau das war das Erfolgsgeheimnis. Daher beim modernen Betrachter der Eindruck mangelnder Effizienz, von Reibungsverlusten, da greift nicht jedes Rädchen nahtlos ins andere, es ächzt und stöhnt in allen Scharnieren, aber die Maschine läuft jahrhundertelang. Sogar manche Grundgesetze des Reiches waren bemerkenswert offen formuliert, Kompromiss wurde oft nicht auf halbem Wege zwischen zwei Maximalforderungen festgezurrt, äußerte sich vielmehr in dehnbaren Formeln, in Termini, die verschiedene Interessengruppen auf verschiedene Weise füllen konnten – nur beim Augsburger Religionsfrieden würde sich dieses Verfahren, wie noch zu zeigen ist, nicht auszahlen. Der Rahmen – das Recht – war starr, die nicht verbauten, die bewusst freigegebenen Auslegungsmöglichkeiten schrieben den Wandel mit ein. Jener notorische Auslegungsstreit, der Reichsgeschichte zur Rechtsgeschichte macht, mag heute bei der ersten Annäherung ans Reichssystem abstoßen, aber die Solllücken, die gleich mit eingebauten Interpretationsspielräume machten die Reichsverfassung in ihrer Zeit so unwiderstehlich, also langlebig.

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Gerade wegen ihrer „unerschöpflichen Fülle ineinander verschachtelter, altüberkommener Rechtstitel“ (Adolf Laufs), wegen des imposanten und einschüchternden Geflechts von Grundrechten, schriftlich formulierten und ungeschriebenen Spielregeln, von Privilegien und der Observanz („das war schon immer so“) entspringenden Besitzständen, von „löblichen Gewohnheiten und Freyheiten“ sperrt sich die Reichsverfassung hartnäckig gegen jede griffige, übersichtliche Zusammenfassung, sie ist ihrem Wesen nach systematisierungsresistent. In einer Zeit, in der Bildung zur stromlinienförmigen Ausbildung verkommt, in der die Politik den Studenten vorgaukelt, Bildung lasse sich aus soundsovielen „Modulen“ zusammensetzen, läuft ein für Kenner und Liebhaber gerade seiner Vertracktheit wegen faszinierendes Thema wie die Reichsgeschichte Gefahr, (wieder) an den Rand zu geraten. Lassen sich die elementaren Spielregeln des Reichsverbands, die Grundstrukturen der Reichsgeschichte im raschen Zugriff vermitteln? Das ist noch nicht ausgemacht, doch sollte man nicht schon über die Frage die Nase rümpfen, sie muss vielmehr mutig ausgelotet werden. Ein Versuch über die Reichsverfassung kann entweder Studenten erfreuen oder Kollegen befriedigen, entweder pädagogisch wertvoll sein oder gegen fachliche Kritik der Reichsexperten gefeit – wohlfeile Kompromisse sind da nicht zu haben. Der Autor dieses Büchleins ist der Ansicht, dass für seine Kollegen schon viele gute Bücher geschrieben worden sind, es ist denen nichts hinzuzufügen.

Dieses Studienbuch soll kein Text über Texte sein. Weil es weniger für angehende Juristen denn für künftige Historiker geschrieben wurde, analysiert es das Funktionieren des politischen Systems, nicht etwa lediglich die schriftlich fixierten Spielregeln. Es beleuchtet nicht nur die Verfassungsnormen, sondern vor allem die Verfassungswirklichkeit.

Das Alte Reich 1495 – 1806

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