Читать книгу Das Alte Reich 1495 – 1806 - Axel Gotthard - Страница 11
b) Die Kurfürsten
ОглавлениеDie Kurfürsten firmieren in frühneuzeitlichen Akten häufig als „Säulen des Reiches“. Diese Säulen oder „grundvesten“ des Reichsbaus waren im 16. Jahrhundert: die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier; der Pfalzgraf bei Rhein (pfälzische Wittelsbacher), der Herzog von Sachsen (Wettiner), der Markgraf von Brandenburg (Hohenzollern); sowie der König von Böhmen (Habsburger), der aber lediglich als Königswähler agierte, sich an den anderen reichspolitischen Aktivitäten des Kurkollegs nicht beteiligte – nicht im Kurfürstenrat des Reichstags votierte, nicht bei Kollegialtagen mitberiet, nicht im Kurverein war. Es gab also drei geistliche und vier weltliche Kurfürsten. Die Zahl der letzteren erhöhte sich im 17. Jahrhundert auf sechs. Der Westfälische Friede sah nämlich eine achte Kur für jene pfälzischen Wittelsbacher vor, denen sie das Reichsoberhaupt im Dreißigjährigen Krieg genommen hatte, um den mit ihm verbündeten Bayernherzog Maximilian damit zu belohnen; und im Jahr 1692 versuchte der Kaiser eine neunte Kur für den Herzog von Braunschweig-Lüneburg (Kurhannover) zu kreieren. Der Reichstag hat das erst 1708 bestätigt, quasi im Gegenzug (die Welfen waren evangelisch) wurde der katholische Böhmenkönig zum Kurkolleg „readmittiert“; er beteiligte sich seither an allen kollegialen Aktivitäten.
Sieben Kurfürsten also im 16. Jahrhundert, neun am Ende des 17.; im 18. Jahrhundert verringerte sich die Zahl wieder auf acht, weil 1777 die Münchner Kurlinie ausstarb. Ganz kurzlebig waren einige in den allerletzten Jahren des Reiches, im Kontext der Umwälzungen der Napoleon-Zeit geschaffene Kuren: die von Salzburg (dann Würzburg), Baden, Württemberg und Hessen-Kassel.
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Säulen des Reiches So apostrophieren die frühneuzeitlichen Akten die reichsständische Führungselite, die Kurfürsten. Als „innerste räte“ des Reichsoberhaupts und „vorderste glieder“ des Reichsverbands besetzten sie die Scharnierstelle („cardo Imperii“) zwischen Kaiser und Reich.
Faustpfänder der kurfürstlichen Präeminenz
Warum waren die Kurfürsten Säulen des Reichsgebäudes? Wie sich ihre viel beschworene „Präeminenz“, ihr Vorrang im hierarchisch gestuften Verband der Reichsstände (lat. praeeminere = hervorragen, überragen) in verschiedenen politischen und zeremoniellen Vorteilen im Reichssystem konkretisierte, so hat sie auch verschiedene Wurzeln. Die Goldene Bulle von 1356 verbürgte den Kurfürsten, neben anderen Vorrechten, ihr exklusives Königswahlrecht. Auch wenn sich zumal in den beiden letzten Dritteln des 17. Jahrhunderts manche Reichsfürsten daran reiben würden: das Reichsoberhaupt zu wählen, war und blieb nun definitiv Sache lediglich der Kurfürsten. Und so formulierten auch lediglich sie die Wahlkapitulationen (darüber echauffierten sich in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit ebenfalls andere Reichsstände, indes vergeblich).
Der Kaiser musste auf die Kurfürsten schon deshalb besonders Rücksicht nehmen, weil er mit einer massiv an ihren Vorstellungen vorbeigehenden Reichspolitik die Wahl des gewünschten Nachfolgers, den Verbleib der Kaiserwürde bei der Dynastie aufs Spiel gesetzt hätte. Nicht nur deshalb freilich suchten die meisten Kaiser des 16. und 17. Jahrhunderts einen engen und recht stetigen Kontakt zu den Kurhöfen. Wegen der Vielzahl von Reichsterritorien und unter den damaligen Kommunikationsbedingungen war es ganz unmöglich, die Reichspolitik je und je mit allen Reichsgliedern abzustimmen; erst, dass der Reichstag, die Vollversammlung der Reichsstände, im späten 17. Jahrhundert permanent wurde, änderte die Rahmenbedingungen kaiserlicher Politik. Das Reichsoberhaupt nahm, so es den Anschein einer selbstherrlichen Regierungsweise meiden wollte, Rücksprache mit der reichsständischen Führungselite, dem Kurkolleg. Kaiser, die Feedback suchten (also Ferdinand I. oder Maximilian II. mehr als Karl V. oder Rudolf II.), suchten es an den Kurhöfen beziehungsweise an Kurfürstentagen.
Zumal der Kurverein den Kurfürsten besonderes Engagement in der Reichspolitik, besondere Verantwortung fürs Reichsganze auferlegt hat. Kurfürsten mussten sich nicht auf den Kurverein vereidigen lassen, die meisten taten es indes, unterwarfen sich also freiwillig einer Reihe von in der Vereinssatzung festgelegten Regeln. Diese dienten einerseits standespolitischer Interessenwahrung, so hielt die Satzung alle Mitglieder an, bei der Verteidigung der kurfürstlichen Präeminenz zusammenzustehen, an reichsständischen Tagungen „als ein wesen unnd samblungk“, also geschlossen aufzutreten. Als standespolitische Kampforganisation sollte der Kurverein gewährleisten, dass die Kurfürsten ihre reichsrechtlich verankerten Vorteile in einen tatsächlich überragenden Einfluss auf die Reichspolitik umsetzten. Andererseits trieft seine Satzung aber auch vor reichspatriotischer Rhetorik, sie erklärt die Mitglieder zu Hütern des Reichswohls. Im Kurverein verpflichteten sich die Kurfürsten selbst darauf, im Rollenensemble eines frühneuzeitlichen Reichsstands der Rolle des Reichspolitikers (neben der des Landesherrn oder beispielsweise des Erzbischofs) eine gewisse Priorität einzuräumen. Das kam dem Wunsch der Hofburg, einen Resonanzboden für die kaiserliche Reichspolitik zu bekommen, entgegen.
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Kurverein Freiwilliger Zusammenschluss der Kurfürsten; Kurvereine kannte schon das späte Mittelalter, 1558 hat man sich zum letzten Mal auf eine neue Satzung geeinigt, die dann bis 1806 in Geltung blieb.
Die Akten titulieren die Kurfürsten deshalb tausendfach als „innerste räte“ des Reichsoberhaupts. Sie kennen aber auch eine andere ganz geläufige Formulierung: die Kurfürsten seien die „vorderisten glieder“ unter den Reichsständen – ihre herausgehobenen Repräsentanten, Sprecher der Reichsspitze gegenüber. Was in der Wahlkapitulation kondensiert war, prägte auch sonst den Gang der Reichspolitik: dass die „vorderisten“ die Interessen auch aller anderen „glieder“ des Reiches vertraten, wenn sie dem Kaiser als dessen „innerste räte“ Wegweisung gaben, dass sie dabei Reiches Stimme führten. Lange Zeit haben das die nachgeordneten Reichsstände keinesfalls als kurfürstliche Anmaßung empfunden. Das Kurkolleg war cardo Imperii, Scharnier zwischen dem Reichsverband und seiner Spitze.
Die Konjunkturkurve der kurfürstlichen Präeminenz
Der oligarchische Gehalt der Mischverfassung des Reiches war mithin beträchtlich (auch wenn tatsächlich nie jene oligarchia drohte, die noch im späten 17. Jahrhundert Gottfried Wilhelm Leibniz – der als Publizist wieder und wieder zum Kampf gegen die angeblichen „Oligarchicos“ blies – an die Wand malte). Aber dieser Gehalt war doch auch deutlichen Schwankungen unterworfen. Wie die kaiserliche Konjunkturkurve, zeigt auch die der kurfürstlichen Präeminenz erhebliche Pendelausschläge. Bis in die 1630er-Jahre hinein war der Regierungsstil des jeweils amtierenden Reichsoberhaupts die entscheidende Bestimmungsgröße für kurfürstliches Handeln: Die Säulen des Reiches bekamen Verantwortung fürs Reichsganze von Kaisern, die Rückmeldung aus dem Reich suchten, geradezu aufgenötigt, oder aber sie mussten ihren Anteil am Reichsregiment Kaisern, die einen weniger kommunikativen Führungsstil pflegten, abtrotzen – wie während der langen reichstagslosen Zeit im Dreißigjährigen Krieg, als sich die Kurfürsten fürs mundtot gemachte Reich zwei selbstherrlich regierenden Reichsoberhäuptern entgegenstemmten und, beispielsweise, die Entlassung des kaiserlichen Heerführers Wallenstein sowie eine Reduzierung der kaiserlichen Heeresstärke erzwangen (vgl. Kapitel V). Manche Fürstlichen witterten damals freilich einen unseligen Wettlauf zwischen oligarchischer und monarchischer Deformation des Reichssystems, und als sich die Kurfürsten 1636 auch noch die Bewilligung einer Reichssteuer anmaßten, somit am Kollegialtag die Kernkompetenz des Reichstags substituierten, beschlossen sie, fortan energisch dagegenzuhalten.
Hatte sich die Leitfunktion der reichsständischen Elite bislang in Kooperation und Konkurrenz zur Reichsspitze entfaltet, wurde nun, seit den 1630er-Jahren, die ‘untere’ Frontlinie die brisantere, weil dort die großen altfürstlichen Häuser ihre Bataillone aufstellten. Wie ein selbstherrlich agierender Kaiser, so sei auch der ständisch exklusive Führungsanspruch des Kurkollegs der teutschen libertät unbekömmlich, hieß es dort fortan. Der kurfürstlichen Präeminenz wurde die fürstliche „Parification“ propagandistisch entgegengestellt (und dem Kurverein ein Fürstenverein). Das Ringen dauerte ein halbes Jahrhundert lang, drückte der Reichspolitik dieses Zeitraums seinen Stempel auf, bis die traditionellen Bollwerke der kurfürstlichen Präeminenz Mitte der 1680er-Jahre planiert waren – was sich beispielsweise daran zeigt, dass die Kurfürsten trotz intensiver Debatten darüber keine Aktualisierung ihrer Kurvereinssatzung, noch nicht einmal mehr die Veranstaltung von nichtwählenden, also reichs- oder standespolitisch motivierten Kurfürstentagen wagten. Der standespolitische Kampf war entschieden, Nachhutgefechte hat noch das ganze 18. Jahrhundert gesehen.