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g) Reichskammergericht und Reichshofrat

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Dem föderativen Aufbau des Reichsverbands entsprach auch die Gerichtsverfassung. Der einzelne Bauer oder Handwerksmeister (Ebene 3), der sich geschädigt sah, hatte sich mit Klagen zunächst einmal an die Gerichte seines Territoriums (Ebene 2) zu wenden. War der territoriale Instanzenzug ausgeschöpft, konnte der Kläger vor eines der beiden höchsten Reichsgerichte ziehen (Ebene 1); dieses sprach dann in Zivilsachen das letztinstanzliche Urteil und konnte Strafurteile der territorialen Gerichte für nichtig erklären. Allerdings besaßen manche Reichsstände Appellationsprivilegien (privilegia de non appellando), es durften dann schon in ihrem Territorium verhandelte Prozesse bis zu einem bestimmten Streitwert oder gar überhaupt nicht vor die Reichsgerichte gebracht werden. Die Untertanen, häufig genug sogar einfache Bauern, ihre Dorfgemeinden fanden trotzdem einen Weg zur Reichsjustiz. So konnte das Appellationsprivileg nicht verhindern, dass man vor den Reichsgerichten die Nichtigkeit eines angeblich grob rechtswidrigen Urteils („Nullitätsklage“) betrieb, und die Reichsgerichte waren erstinstanzlich bei Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung zuständig. „Das ergangene Urteil ist ganz unhaltbar, himmelschreiendes Unrecht“ oder „Ich bekomme nicht mein gutes Recht, man verweigert mir eine andere erste Instanz für mein Problem“ – diese Parolen verhalfen auch am Appellationsprivileg des Landesherrn vorbei nach Wien oder Wetzlar.

Die beiden obersten Berufungsgerichte im Reich waren nicht nur bei Rechtsverweigerung erstinstanzlich zuständig. Es gab andere sachliche (Schutz der elementaren Reichsinteressen) oder aber personelle Gründe, die Prozesse ohne Vorinstanzen sogleich dorthin brachten. Um das personelle Kriterium zuerst zu erläutern: Die höchsten Reichsgerichte waren für Klagen gegen Reichsunmittelbare zuständig, die ja an ‘ihren’ Territorialgerichten Angeklagter und Richter in einem gewesen wären – sei es, dass sich zwei Reichsunmittelbare untereinander zerstritten (meistens bediente man sich dann freilich einer „Austrag“ genannten adeligen Schiedsgerichtsbarkeit und erst bei ihrem Scheitern der ordentlichen Reichsgerichte), sei es, dass ein Untertan den Landesherrn verklagte, weil der gegen seine wohlerworbenen Rechte oder auch gegen Reichsgesetze verstoße. Sachliche Zuständigkeiten: Das Reichskammergericht war an der Schwelle zur Neuzeit der Sicherung des Landfriedens wegen eingerichtet worden, es ahndete Landfriedensbrüche und vergleichbar gravierende Gefährdungen der Ruhe und Sicherheit im Reichsverband erstinstanzlich. Das gilt in ähnlicher Weise für den Reichshofrat, doch gab es auch Streitmaterien, die lediglich dorthin gebracht werden konnten. So war ausschließlich er für Reichslehnssachen (auch solche „Reichsitaliens“) zuständig und für Angelegenheiten, die mit kaiserlichen Reservatrechten zusammenhingen – weil es sich um das kaiserliche unter den beiden höchsten Reichsgerichten handelte.

Das kaiserliche Gericht

Die Reichshofräte wurden allein vom Kaiser ernannt, es handelte sich um Männer seines Vertrauens, die ihn auch in reichspolitischen Angelegenheiten berieten – der Reichshofrat war Gericht, Beraterkreis und Regierungsbehörde in einem. Sogar wenn dieses kaiserliche Gremium als Gericht tätig war, trieb es doch zugleich Reichspolitik. Denn indem er sich in innerterritoriale Konflikte mischte, profilierte sich der Kaiser als Schiedsrichter und oberster Friedenswahrer des Gesamtsystems. Das funktionierte nur, wenn er der Versuchung widerstand, aus adeliger Standessolidarität heraus die Territorialobrigkeit zu begünstigen. Natürlich sympathisierte sein Gericht, der Reichshofrat, erst recht nicht mit Deklassierten und Außenseitern – indem die Reichsgerichte die etablierten Spielregeln als geltendes Recht verteidigten, wirkten sie tendenziell konservativ. Am ehesten profitierten die korporativen Kräfte, Landstände oder Domkapitel; im Zeitalter des Absolutismus wirkte sich die konservierende, austarierende Tendenz des Reichshofrats geradezu als Ständeschutzpolitik aus. In Reichsstädten sah er darauf, bürgerliche Empörung zu kanalisieren, den ökonomischen Sachverstand der Bürgerschaft einer Stabilisierung und behutsamen Modernisierung dieser zunehmend krisenhaften Gemeinwesen nutzbar zu machen, ohne die vielerorts herrschenden kleinen Ratsoligarchien zu entmachten.

Das Gericht der Reichsstände

Hatten die Reichsstände auf den Reichshofrat keinerlei Einfluss, war umgekehrt der Einfluss des Kaisers aufs Reichskammergericht nicht besonders groß. Wohl stellte er den Kammerrichter und die beiden, zeitweise auch vier Präsidenten, doch waren diese lediglich Verhandlungsleiter. Die Urteile fällten die Beisitzer („Assessoren“), und jene wurden überwiegend von den Reichsständen präsentiert, teilweise über die Reichskreise. Auch tagte das Reichskammergericht nicht in der Kaiserresidenz, sondern Hunderte von Kilometern davon entfernt, nach anfänglich häufigen Umzügen lange Zeit in Speyer, seit 1690 in Wetzlar. Und die Reichsstände finanzierten ‘ihr’ Reichsgericht mit dem „Kammerzieler“, der einzigen ständigen, regelmäßig fließenden Reichssteuer.

Die beiden obersten Reichsgerichte waren sehr unterschiedlich zusammengesetzt, hatten aber ähnliche Zuständigkeiten – so dass man in der Praxis häufig frei wählen konnte, vor welchen Gerichtshof man zog. Was gab den Ausschlag? Der Reichshofrat arbeitete zügiger; er beauftragte häufig den Konfliktparteien benachbarte Reichsstände damit, durch eine „Kommission“ die strittigen Verhältnisse vor Ort erkunden und vorläufig klären zu lassen; hinter dem Vollzug des Urteils stand das Reichsoberhaupt mit seiner ganzen Autorität. Andererseits überlegten es sich evangelische Kläger manchmal genau, ob sie wirklich vor das kaiserliche Gericht ziehen sollten, dessen konfessionspolitische Instrumentalisierung im Zeitalter der Glaubenskriege blieb im Gedächtnis; konfessionelle wie geographische Gesichtspunkte führten dazu, dass süddeutsche Kläger meistens den Reichshofrat anriefen, norddeutsche auch das Kammergericht in Betracht zogen. Dessen Prozesse waren langwierig, auch, weil notorische Säumigkeit bei der Entrichtung des Kammerzielers dazu führte, dass sich viel zu wenige Beisitzer (keinesfalls die 16 oder gar zeitweise 50 theoretisch vorgesehenen) an den Aktenbergen abmühten. Trotzdem war auch das Kammergericht nicht einfach nur skurril, sondern eine wichtige Klammer für den Reichsverband, gerade den kaiserfernen Norden band es ein, und häufig genug war der Prozess als solcher, ohne das am Sanktnimmerleinstag zu erwartende Endurteil, heilsam, weil sich beispielsweise rebellische Untertanen und verklagter Landesherr schon um Kosten zu sparen wieder zusammenrauften. Die obersten Reichsgerichte wirkten eminent systemstabilisierend: gaben Kaiser, Reichsständen und Untertanen das Gefühl, einer lebendigen Rechtsgemeinschaft anzugehören; entschärften Konflikte durch ihre Verrechtlichung; merzten systemgefährdende Exzesse aus, seien es nun krass absolutistische („despotische“) Experimente eines kleinen Duodezfürsten, sei es gewalttätige Widersetzlichkeit der Untertanen.

Das Alte Reich 1495 – 1806

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