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Wer zeigt wem die Welt?

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Der aufmerksame Leser merkt: Ich glaube, mit Kindern kann man sehr gut reisen. Diesen Verdacht hege ich spätestens seit meiner einjährigen Weltreise, auf der mir glückliche Eltern-Kind-Einheiten begegnet sind. Mein persönliches Reisen mit Kind begann Anfang des Jahres 2014: Sohn Valentin wurde elf Monate alt, ich übernahm die Karenzstaffel. Ein Mann für ein Jahr in Karenz, das fand mein Arbeitgeber interessant. Und weil dieser Arbeitgeber eine Tageszeitung ist, kam die Idee einer Vaterkolumne auf. Aber unter uns modernen Menschen: Man darf heutzutage nicht einmal mehr so tun, als ob Väter in Karenz eine Besonderheit wären. Eine Seltenheit, ja. Aber besonders ist nix daran. Ich sagte, machen wir etwas über das Reisen mit Kindern, da gibt es noch immer große Missverständnisse. Also beschlossen wir eine monatliche Serie. Und ich startete mein Karenzjahr mit dem Vorsatz, der lesenden Elternschaft darzulegen, dass Kleinkinder sehr wohl etwas vom Reisen mitnehmen. Und mit der Gewissheit, Valentin ein bisschen die Welt zu zeigen.

Letztendlich zeigte er sie mir. Aber so schlau war ich am Anfang noch nicht.

Zwölf erste Trips. Zwölf Destinationen sollten es sein, möglichst vielfältig und bunt. Meine Pläne überschlugen sich: Eine kleine Weitwanderung müsste dabei sein, ein Städtetrip, das grauenhafte Getümmel eines Kinderhotels und natürlich der erste Schnee. Und Zentralasien, ach, wie schön ist Kirgistan, vielleicht schaffen wir es nach Afrika. Reisen beginnt immer mit der Infektion, dann übernimmt die Besessenheit das Kommando. Ab diesem Moment saugt man aus allen Quellen Berichte und Informationen über die Wunschdestination.


Umstieg in Innsbruck: mäßiges Sandwich mit viel Lachen. Reisen besteht aus ungeplanten, guten Momenten.

Ich wälzte Reiseziele und -abenteuer, verwarf vieles und nahm Neues auf die Liste. Schlussendlich wurde es eine absurde Mischung von Schokolademassage und Städtetour bis Kamelritt und Hummeressen in Saint-Tropez. Von Banalem wie Kleinkindertherme und Cluburlaub bis zu Außergewöhnlichem wie Radreise und Wohnmobil. Von nah bis Jordanien, von Küste bis Berg, von Spätherbst am Meer bis Sommer auf dem Kreuzfahrtschiff.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für das Reisen mit Kind.

Ja, dieses Plädoyer braucht es. Denn Kinder sind nicht nur kein Problem beim Reisen. Ich behaupte, es ist sogar ein wesentlicher Bestandteil ihrer Entwicklung. Wie Bischof Augustinus von Hippo vor 1600 Jahren sagte: »Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.« Nichtreisen macht einseitig. Reisen daher also vielseitig, es schult die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand zu blicken, hinaus in die weite Welt. Demnach hätten Eltern sogar die moralische Verpflichtung, mit ihren Kindern zu reisen. Oder, wie Goethe formuliert hat: »Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.«

Die Faszination des Reisens liegt darin, hinter jede Ecke zu schauen. Die ständige Erweiterung der eigenen Grenzen fordern Kinder von Beginn an ein, wenn sie zuerst auf dem Rücken herumkugeln wie der Kafka’sche Käfer, dann langsam zur Seite greifen, sich umdrehen, in die Krabbelposition gehen, aus dem vertrauten Zimmer hinaus, weiter ins Vorzimmer, dann überallhin, bis die Eltern sie aus den Augen verlieren. Sie wollen auf und in alles schauen, vom Blumentopf bis zum Mistkübel. Erforschen liegt in unserer frühkindlichen Natur. Es ist ein Talent, das viele beim Wachsen verkümmern lassen und gegen die Liebe zum Gartenzaun eintauschen. Bis hin zur »Neophobie«, der Angst und Skepsis vor Neuem, die laut Wissenschaft sogar die Lebensdauer verkürzt, obwohl es doch angeblich im vertrauten Schrebergarten am sichersten wäre. Nein, die Neugier hält uns am Leben, und Kinder zeigen mit atemberaubendem Eifer vor, wie man die Welt entdeckt.

Auf einer Weltreise schärft sich der Blick dafür, wie Menschen das Reisen erleben. Es dauert nicht lange, bis man gerne die Zuschauerposition in der zweiten Reihe einnimmt. Hinter den Frontaltouristen, die im Kampf um das beste Foto einer ohnehin bekannten Sehenswürdigkeit hemmungslos die Ellenbogen ausfahren. Sie inhalieren Orte nicht, sie halten sie fest. Nach einiger Zeit braucht man Pause von ihnen und biegt vom Trampelpfad ab. Zum Beispiel in Peru: Ich fuhr mit dem ersten Bus nach Machu Picchu hinauf, das muss man so machen, sagen alle, sagt Lonely Planet. Dann machen alle ihre Fotos von den exakt gleichen Punkten aus. Suchen Sie im Internet einmal danach, neun von zehn haben die gleiche Perspektive, verblüffend. Nach den Bildern rennen die meisten auf den Gipfel Wayna Picchu. Im Gänsemarsch. Mir war nicht nach Gänsemarsch, das gewöhnt man sich bald ab. Ich ging also ums Eck, dort liegt die Inka-Brücke, eine weitere Sehenswürdigkeit der Anlage, die aber kaum einer beachtet. Einheimische Wegarbeiter machten dort gerade Pause. Und boten mir die ersten Kokablätter meines Lebens zum Kauen an. Das Gespräch holperte gewaltig, aber der Moment war entspannt, er war es wert. (Die Erfahrung, Kokablätter zu kauen, übrigens nicht.)

Oder in Mexiko: Meine Freundin und ich hatten genug von Backpackerparadiesen. Also entschieden wir, in jenen Strandort zu fahren, über den Lonely Planet – die vermaledeite Bibel der uniformen Individualreisenden – am wenigsten schrieb. Puerto Arista wird in nur sieben Zeilen erwähnt. Das wunderbare Puerto Arista!

Valentin brauchte auf all unseren Reisen keine Zeilenkontrolle, um gute Orte zu finden. In Petra blieb er nach Besichtigung der dritten Felshöhle ansatzlos stehen, blickte kurz auf die alte Staubstraße und ließ sich auf den Hintern fallen. Griff zu zwei Steinen, schob sie durch den Dreck, schaute seinen Vater an und sagte: »Atoooo!« Er dachte nicht ans Weitergehen, die steinernen Ersatzspielautos waren ihm näher als hundert weitere Steinfassaden der jordanischen Hauptsehenswürdigkeit. Ich setzte mich ebenfalls in den Dreck. Und hatte endlich die Ruhe, die umwerfende Gesamtkulisse wirken zu lassen. Valentin verbrachte auch eine gute Zeit mit einem der einheimischen Buben, deren Esel fußmarode Touristen schleppen.

Auf den zwölf ersten Reisen, und seitdem noch auf vielen mehr, sagte ich keinen Satz öfter zu mir als »Der Reisende sieht, was er sieht. Der Tourist sieht das, weswegen er gekommen ist.« (Gilbert Keith Chesterton) Wo Erwachsene gelegentlich Faszination zusammenkratzen, sind Kinder neugierig und zugleich unbeeindruckt, wenn es nicht zur Überwältigung reicht. Sie wenden sich ohne peinliche Annäherung den Menschen zu und öffnen so Türen, hinter denen jene Gespräche warten, die jeder Reisende sucht.


Zugfahren: Tausende Eindrücke für ein Kind

Mit anderen Worten: Mich alleine hätte der Beduine im Wadi Rum nie am Tag des islamischen Fastenbrechens in sein Haus eingeladen. Die Einladung zum traditionellen Frühstück – vergleichbar mit einem Brunch am Christtag – wurde zwar an die ganze Familie ausgesprochen, galt aber eigentlich Valentin. Zu Recht. Denn als wir mit dem Beduinen und seinen Söhnen zusammensaßen und die Innereien des gerade geschlachteten Lammes, sagen wir, speisten, schob nur Valentin unvoreingenommen jedes Stück in den Mund. Der Beduine lächelte ihn an und sagte etwas Arabisches. Valentins Antwort war ebenfalls unverständlich, und so entstand ein Gespräch, dem niemand anderer folgen konnte.


Wer reist, packt an: Valentin am Bodensee

Ich saß da, würgte an den Eingeweiden und bewunderte meinen neunzehn Monate alten Sohn. Vielleicht zum ersten Mal. Ich erkannte, wer hier wen führt. Kinder erinnern uns daran, was wir Reisenden gemeinsam mit dem Rucksack in den Kasten geräumt haben.

Reisen mit Kleinkind ist nicht nur kein Problem. Und nicht nur eine erzieherische Notwendigkeit. Es bereichert.

Ein junges amerikanisches Paar hat mir das schon im Jahr 2009 vermittelt. Sie ruhten sich wie ich im Garten einer sehr gemütlichen Unterkunft in Arequipa, Peru, aus. Ich nutzte die Reisepause für Langeweile, sie spielten im Gras mit ihrer fünfzehn Monate alten Tochter Rose. Die beiden lächelten permanent, und wenn dich jemand ständig anlächelt, entkommst du dem Gespräch nicht. Sie hatten Haus und Auto verkauft, ihre Jobs quittiert und entdeckten schon seit zwei Monaten mit Rose Südamerika. Das war damals sogar mir zu abenteuerlich. Ich stellte Fragen, über die ich heute schmunzeln muss, medizinische Versorgung, Sicherheit, Existenzangst. Sie antworteten mit Geschichten von bunten Märkten, wo die Kleine an Früchten roch und Stoffe angriff. Die beiden Amis hatten viele Reisen hinter sich. Und behaupteten trotzdem, die Welt erst wirklich zu sehen, seit sie sie durch die Augen ihrer Tochter betrachteten.

Heute verstehe ich die beiden. Reisen mit Kind beginnt endlich wieder dort, wo Reisen immer beginnen sollte: vor der eigenen Haustür. Nicht erst, »wenn man endlich dort ist«. Valentins erste große Reise begann genau so, er acht Monate alt, unanständig früher Flug, der Flughafen leer. Hinter dem Gepäcksröntgen hatte ich Valentin auf dem Arm. Gürtel wieder rein, Laptop verstauen, da braucht man zwei Hände. Also setzte ich den Bub in eine der grauen Kisten, und er rollte gemächlich das Band entlang. Die grimmigen Sicherheitsleute lachten, seine Mutter schoss Valentins erstes Urlaubsfoto.

Beim Reisen mit meinem Sohn habe ich Erfahrungen gesammelt, die ich Ihnen als Besserwisser nicht vorenthalten will – am Ende jedes Kapitels und im Epilog. Die folgenden Erzählungen von Valentins Reisen sollen Inspiration sein, sie sollen Angst nehmen und helfen, die eigene Reiseliebe zu entdecken – und die des Kindes. In der gemeinsamen Reise sollen sich alle wiederfinden. Und wenn es gelingt, in sich und den Nachwuchs hineinzuhorchen und eine solch schöne gemeinsame Reise zu finden, wird sie auch den heimischen Alltag befruchten. Unterwegs entdeckt man oft, wie sinnlos einige Regeln sind. Wie leicht manches geht, wenn die Grundbedürfnisse im Mittelpunkt stehen und man sich nicht in krampfhafter Erziehung versucht. Wie lächerlich die Kür manchmal neben dem puren Leben aussieht.

Oder, wie Francis Bacon es nannte: »Reisen ist in der Jugend ein Teil der Erziehung, im Alter ein Teil der Erfahrung.«

Reisen ist ein Kinderspiel

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