Читать книгу Wirtschaftskrise ohne Ende? - Aymo Brunetti - Страница 7
Оглавление1 Einstieg und Krisenverlauf
Eine Wiederholung der Großen Depression?
Am 6. April 2009 erschien auf dem europäischen Ökonomenportal voxEU ein kurzer Beitrag, der rasch alle Leserekorde pulverisierte. Nach zwei Tagen hatten ihn bereits 30 000, nach einer Woche 100 000 Personen angeklickt. Der Artikel stellte eine ganz einfache Frage und gab darauf eine erschreckende Antwort. Die Frage lautete, ob die Finanz- und Wirtschaftskrise mit der Großen Depression der 1930er-Jahre vergleichbar sei. Die Antwort lautete, zumindest bezogen auf einige globale Indikatoren, für den Zeitpunkt der Publikation eindeutig Ja. Wenn man sich vor Augen hält, welche wirtschaftliche Katastrophe die Große Depression darstellte – die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern war während Jahren höher als 20 Prozent, und das Wachstum brach um zweistellige Raten ein –, wird einem die Tragweite dieser Aussage bewusst.
Die beiden Autoren Barry Eichengreen und Kevin O’Rourke, beides bekannte Wirtschaftshistoriker, verwendeten bei ihrer Analyse eine ganz einfache Methode. Sie verfolgten für die beiden Krisen die Entwicklung gut messbarer makroökonomischer Größen von dem Zeitpunkt an, in dem die Werte zu fallen begannen. Dieser Zeitpunkt war der Juni 1929 für die Große Depression und der April 2008 für die aktuelle Krise. Weil es sich in beiden Fällen um ein globales Ereignis handelte, wählten sie dafür weltweite Durchschnittswerte.1 Abbildung 1 zeigt ihre Daten für die Industrieproduktion links und für den internationalen Handel rechts.
Für die Große Depression zeigt die Grafik den Verlauf der ersten sechs Jahre nach Ausbruch der Krise und für die aktuelle Finanzkrise die ersten neun Monate, also die Daten, die zum Zeitpunkt der Publikation im April 2009 verfügbar waren. Es wird sofort ersichtlich, warum diese Publikation derart hohe Wellen warf: Die weltweite Industrieproduktion zeigte in der aktuellen Krise einen ähnlichen, ja sogar eher noch etwas negativeren Verlauf als bei der wirtschaftlichen Katastrophe vor 80 Jahren. Und vollends erschreckend war der Blick auf die Entwicklung des Welthandels. Hier war der Rückgang eindeutig stärker als zu Beginn der Großen Depression. Die beiden Autoren zogen aus ihrer Analyse den lapidaren Schluss, dass zumindest das erste Jahr der Krise auf ein Ereignis in der Größenordnung der Großen Depression schließen lasse.
Abbildung 1
Quelle: Eichengreen und O’Rourke (2010)
Ein Ereignis aus heiterem Himmel?
Wenig deutete zu Beginn dieses Jahrtausends auf eine solch dramatische Entwicklung hin. Vielmehr blickte man auf derart stabile weltwirtschaftliche Verhältnisse zurück, dass viele von der sogenannten great moderation, der großen Beruhigung also, sprachen. Die Periode von Mitte der 1980er-Jahre bis 2007 war in der Tat gekennzeichnet von moderaten Konjunkturschwankungen, stark rückläufiger und stabiler Inflation und vorhersehbarer Geld- und Fiskalpolitik. Auch an sich destabilisierende Ereignisse wie der Irakkrieg oder die Terroranschläge vom 11. September 2001 widerspiegelten sich kaum in den makroökonomischen Daten. Und selbst das Platzen der New-Economy-Blase, also der übersteigerten Begeisterung für Internetunternehmen zu Beginn des Jahrtausends, führte zwar zu massiven Einbrüchen der Aktienmärkte, mündete aber nur in einer relativ milden Rezession. Viele Ökonominnen und Ökonomen waren denn auch unmittelbar vor der Krise der Ansicht, dass die Zeit großer Konjunktureinbrüche vorbei sei und dass man sich anderen makroökonomischen Themen zuwenden könne.
Bei aller Zuversicht über die allgemeine Stabilität war sich die ökonomische Zunft allerdings schon bewusst, dass sich in der Weltwirtschaft einige bedeutende Ungleichgewichte aufgebaut hatten, die irgendwann einmal korrigiert werden mussten. Als zentrales Problem wurde die Tatsache gesehen, dass die USA Jahr für Jahr wesentlich mehr importierten als exportierten, also letztlich über ihre Verhältnisse lebten. Und diese Leistungsbilanzdefizite finanzierten die USA mit einer dauernd wachsenden Verschuldung bei anderen Ländern. In diesem Zusammenhang wurde auch immer wieder festgehalten, dass die Ersparnisbildung in den USA – die der Haushalte, der Unternehmen oder des Staates – generell sehr tief lag und sich die US-amerikanische Gesellschaft laufend weiter verschuldete.
Nur wenige aber sahen mit genügender Deutlichkeit das grundlegende Problem, das hinter diesen Entwicklungen steckte, nämlich die wachsende Risikobereitschaft aller Akteure. Regnet es lange Zeit nicht, werden immer mehr Leute ohne Schirm nach draußen gehen, da das Risiko, von einem Regenguss überrascht zu werden, immer mehr in Vergessenheit gerät. Ähnlich verhalten sich die Menschen bei ihren ökonomischen Entscheidungen: Wächst die Wirtschaft lange Zeit ohne große Schwankungen, werden viele die Risiken von Einbrüchen immer weniger stark gewichten. Und entsprechend werden sie mit der Zeit etwa bei ihren Investitionsentscheiden immer größere Risiken eingehen. Genau diesen Mechanismus konnte man – wir werden das in der Folge sehen – vor der Krise beobachten. Die lange Jahre dauernde Stabilität führte zu unvorsichtigerem Verhalten vieler, wodurch sich große Risiken aufbauten. Die Krise hat uns schmerzhaft in Erinnerung gerufen, dass in solchen Fällen die Korrekturen oft sehr plötzlich auftreten und einschneidend sind.
Die Chronologie der Krise
In der öffentlichen Diskussion spricht man heute meist von der Finanz- und Wirtschaftskrise oder einfach von der Finanzkrise. Diese Bezeichnung verschleiert allerdings die Tatsache, dass es sich eigentlich um eine Abfolge von Krisen handelte, die eng miteinander zusammenhingen, aber jeweils verschiedene Bereiche betrafen. Es begann 2006/2007 mit einer Immobilienkrise in einigen Ländern, vor allem in den USA. Darauf folgte 2007/2008 eine Bankenkrise, die, von den USA ausgehend, sich sehr rasch global ausbreitete. Mit dem bekanntesten Ereignis der Krise, dem Konkurs der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008, weitete sich die Bankenkrise zu einer globale Wirtschaftskrise aus, die vor allem 2009 zu massiven konjunkturellen Einbrüchen führte. Und als (vorläufig?) Letztes traf es ab 2010 den Euroraum, in dem eine eigentliche Schuldenkrise ausbrach. Sie hatte (und hat) das Potenzial, eine weitere Bankenkrise auszulösen.
Wir werden die Abfolge der Krisen Schritt für Schritt nachzeichnen und die wichtigsten Hintergründe erläutern. Damit man sich dabei besser zurechtfindet, sind in der folgenden Box die bedeutendsten Entwicklungen chronologisch aufgeführt.