Читать книгу Toni Taubenheimer - B. Andersen - Страница 10
ОглавлениеRufin.
Beim Verlassen der Mauer achtete Toni sehr darauf, von niemandem gesehen zu werden. Glücklicherweise lag die blaue Mauer in einer Straße, die sowieso nicht sehr oft benutzt wurde.
Ihre Mutter blinzelte verwirrt, als die beiden nach Hause kamen. War es das, was Tilia gemeint hatte? Hatte das „Vergessen“ so schnell eingesetzt? Doch die Verwirrung dauerte nur kurz, und Toni verdrängte diesen Gedanken lieber ganz schnell.
Vater Taubenheimer war noch unterwegs, und so gingen Frau Taubenheimer, Toni und Arthur zu dritt in den Garten, um gemeinsam Kaffee, Saft und Kekse zu genießen, wie sie es oft taten, wenn sie wieder zu Hause eingetroffen waren.
„Stell dir ma vor, Mama“, rief Arthur, obwohl Toni ihm auf dem gesamten Rückweg alles Mögliche versprochen hatte, wenn er es schaffte, ihren Eltern nichts von dem Geheimnis hinter der Mauer zu sagen, „stell dir ma vor! Ich habe ein s´prechendes Swein gesehen. Und das kann auch noch fliiiegen!“
Tonis Mutter warf ihrer Tochter einen nachdenklichen Blick zu, und Toni ahnte, dass Frau Hirse schon mit ihr über die erneute Fünf in Deutsch gesprochen hatte. Allzu deutlich hörte sie die Stimme ihrer Lehrerin in ihrem Kopf: „Das Kind hat zu viel Fantasie, zu viel Fantasie!“
„Arthur“, sagte Frau Taubenheimer in ihrem Jetzt-möchte-ich-keine-Widerrede-hören-Tonfall, „geh bitte in deinen Sandkasten und spiele dort ein bisschen!“
Arthur sah bockig drein, „aber da war auch noch ein Mädchen mit so dünen Haaren! Und Dänse warn da auch!“
Frau Taubenheimers Blick verfinsterte sich. Arthur, der wusste, was dies bedeutete, trollte sich in Richtung Sandkasten.
„Antonia“, sagte ihre Mutter, „Frau Hirse hat eben angerufen.“
Toni starrte auf den Tisch, und der Keks in ihrem Mund schmeckte auf einmal gar nicht mehr.
„Sie hat gesagt, dass du wunderschöne Geschichten schreibst und du in dieser Hinsicht sicherlich sehr begabt bist, aber… für eine Deutscharbeit ist das eben nicht sehr förderlich.“
Toni schwieg. Was sollte sie denn machen? Ihr Kopf schlug eben manchmal Purzelbäume, und die Worte flossen einfach so aufs Papier. Wen interessierte schon eine strohtrockene Interpretation?
Immerhin hatte Herr Niebrüll bisher noch nicht angerufen, und sie hoffte inständig, dass er es auch nicht tun würde. Innerlich gelobte sie Besserung.
„Ich habe überlegt, ob es sinnvoll wäre, dir eine Deutschnachhilfe zu besorgen. Es gibt da so ein Angebot in der Friedensstraße. Ich möchte, dass du darüber mal nachdenkst und will auch noch mit Papa darüber sprechen.“
Toni biss sich auf die Lippen. Noch mehr Unterricht? Noch mehr drinnen hocken, während draußen die Sonne lockte?
„Ich gebe mir ja Mühe“, versprach sie und lief dann auf ihr Zimmer. Den Saft ließ sie in der Sonne stehen.
Während Toni in ihrem Nachdenk-Zelt hockte und in ihr Tagebuch schrieb, rannte ein Fuchs wie ein roter Blitz durch den Wipfelwald. Im Maul trug er einen Ast, in dem sorgfältig ein Brief versteckt war. Er rannte im Dunkeln, denn das war seine liebste Tageszeit, und er wollte auch nicht von allzu vielen anderen Waldbewohnern gesehen werden. Der Wipfelwald war nicht allzuweit vom Haus Zwischen den Welten entfernt, aber die größte Schwierigkeit lag noch vor ihm. Er musste noch den Fluss überqueren. Rufin mochte das Wasser nicht, und auch der Brief musste trocken bleiben. Am Ufer angekommen wandte er sich nach rechts, denn dort lag der Brückenberg, durch den der Fluss hindurchfloss. Es gab noch eine andere Möglichkeit, den Fluss zu überqueren, die sicherer war. In der anderen Richtung wurde der Fluss irgendwann flacher, so dass er hindurchwaten könnte. Doch jener Weg war weit entfernt.
Rufin erklomm den mit lockerem Gestein bedeckten Abhang des Berges. Auf dieser Seite gab es eine besonders steile Stelle. Ein kalter Luftzug wehte ihm entgegen. Er fröstelte. Hier gab es nicht viele Sträucher oder Bäume und daher konnte er sich nur schwer verstecken. Der Fuchs wusste, dass er vorsichtig sein musste, denn man munkelte, dass der Herr der Nebel, überallhin und ganz sicher auch auf den Brückenberg seine Grauen Raben gesandt hatte, um Boten abzufangen.
Rufin schlich von Strauch zu Strauch und von Baum zu Baum und legte sich an jedem Versteck flach auf den Boden, um angespannt zu lauschen und die Nase in die Luft zu halten. Nach einer Weile kroch er, eng an den Boden geschmiegt, weiter zum nächsten Gebüsch. Obwohl seine Fuchsnase hervorragend funktionierte, nützte sie ihm in dieser Nacht nichts, denn die Grauen Raben konnte man nicht wittern. Sie waren kälter als Stein und verströmten keinen Geruch, doch das wusste der junge Fuchs noch nicht.
Er hatte schon fast den Bergkamm erreicht, als ihn die Vorsicht verließ. Er hat nicht einen Hauch Gefahr gewittert und auch nichts gesehen, was ihm verdächtig vorkam. Er hatte nur eine eisige Kälte gespürt, die er so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte.
Rufin warf einen letzten Blick über den Abhang und beschloss, den letzten Abschnitt bis zum schützenden Wald zu rennen. Mit weit ausholenden Sprüngen lief der Fuchs über den steinigen Abhang, den hohlen Ast fest mit den Zähnen gepackt. Deutlich waren seine Umrisse im Mondlicht zu erkennen. Schon sah er den Waldrand näher kommen. Die Grauen Raben, die lautlos näherglitten, sah er nicht.