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7. Kapitel Der Agent vor der Tür
ОглавлениеRiiiiiiiiiiiiing!
Sie hatten das Geräusch in ihrem Leben sicher schon tausendmal gehört. Trotzdem erschraken die Zwillinge, als es an der Haustür klingelte.
Durch das kleine Fenster an der Tür konnten sie den sehr schmalen und sehr großen Mann sehen, der sein Spiegelbild in der Scheibe kritisch beäugte und über seine buschigen Augenbrauen strich. Er trug einen dunklen Mantel und darunter einen Anzug mit einer mintgrünen Fliege. Das war der einzige Farbtupfer an ihm. Sein tiefschwarzes, mit Gel nach hinten gekämmtes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Als er die Zwillinge im Hausflur stehen sah, winkte der Mann mit beiden Händen, an denen er edle Lederhandschuhe trug.
Agatha öffnete die Tür nur einen Spaltbreit. »Sie wünschen?«, Sie flüsterte, weil Greta hinter ihr an Herrn Schmidt geschmiegt in seinem Körbchen schlummerte. Es war längst Zeit für den Mittagsschlaf der Kleinen. Dass sie vom Geräusch der Klingel nicht wach geworden war, zeigte, wie erschöpft sie war! (Sobald sie schlief, schlichen alle normalerweise nur auf Zehenspitzen um sie herum, um sie ja nicht zu stören.)
Statt eine Antwort zu geben, steckte der Mann unaufgefordert eine Karte durch den Türspalt.
Agatha hielt sie prüfend gegen das Licht. »Hat Ähnlichkeit mit einem Schülerausweis«, stellte sie fest und reichte die Karte an Arnold weiter. Er bewegte sie hin und her, wie man es mit Falschgeld tat. Der Mann sollte gleich wissen, dass sie sich nichts vormachen ließen.
»Orville de Montagne Blanche«, las Arnold leise vor.
»Für euch einfach nur Orville, mes enfants.« Der Mann deutete eine kleine Verbeugung an. »Mit Verlaub, das E am Ende ist stumm«, fügte er hinzu und lächelte. »Genau wie das E von Blanche.«
Der französische Akzent war nicht zu überhören. Das machte den Mann nur noch vornehmer. Es kam Arnold komisch vor, dass er jemanden duzen sollte, der aussah wie ein echter Graf. Eigentlich wirkte Orville, als sei er schon als Baby gesiezt worden.
»Das Foto auf dem Ausweis ist sehr alt«, sagte Orville verlegen. »Außerdem hatte ich da gerade einen schlechten Tag.«
Auf dem Bild war Orville in der Tat um einiges jünger. Seine ungekämmten Haare reichten ihm bis zu den Schultern. Der Mund war merkwürdig verzogen. Aber die Augen blickten genauso eindringlich wie heute.
Mitglied der Elf Augen stand darauf und darunter Diplomierter Spurensucher in mehreren Sprachen, darunter Englisch, Französisch, Chinesisch, Arabisch. Mit dem Daumen ertastete Arnold auch Blindenschrift. Als er den Ausweis umdrehte, sah er das Hologramm: Ein Auge, das sich öffnete und schloss. In der Mitte war keine Pupille, sondern eine Weltkugel.
»Sie sind also definitiv ein Mitglied der Elf Augen«, stellte Agatha fest.
Orville nickte. »Oui. Ich bin einer der sechs Agenten des Königreiches und durchaus stolz, meinem Land auf diese Weise dienen zu können.« Orville fuhr sich durch das Haar. »Wenn ich nun vielleicht eintreten dürfte? Ich sollte allmählich mit meiner Spurensuche beginnen. Je frischer die Spuren, umso besser, das müsst ihr wissen. Erste und wichtigste Spurensucherregel.«
Die Zwillinge tauschten einen Blick aus, fast unmerklich nickten sie sich zu. Agatha löste die Sicherheitskette und öffnete die Tür weiter.
Nachdem er sich die Schuhe sorgfältig abgetreten hatte, kam Orville herein. Dafür musste er seinen Kopf einziehen, so groß war er. Erst jetzt bemerkten die Zwillinge den schwarzen Aktenkoffer, mit dem Orville aussah wie ein verbeamteter Totengräber.
»Die Zeit drängt«, erinnerte Orville die Kinder. »Wenn ich vielleicht direkt an den Ort des Verbrechens könnte?« Als Arnold ihm den Weg in das Schlafzimmer ihrer Eltern zeigen wollte, hob Orville abwehrend die Hand. »Merci, aber ich kenne den Weg. Ich habe damals beim Einzug euren Eltern beim Tapezieren geholfen, müsst ihr wissen.« Mit großen Schritten ging er den Flur entlang, geradewegs hoch in das Schlafzimmer.
Kaum war er nicht mehr zu sehen, schlichen die Zwillinge hinterher. Vertrauen war gut, Kontrolle in diesem Fall aber eindeutig besser. Leider hatte Orville die Tür geschlossen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als durch das Schlüsselloch zu spähen. Agatha durfte als erste.
»Sag schon, was siehst du?«, drängte Arnold.
»Er hat sich den Mantel ausgezogen und über den Bettpfosten gehängt«, flüsterte Agatha. »Jetzt öffnet er den Aktenkoffer.«
»Und was ist drin?«
»Kann ich nicht erkennen.«
»Mann, dann lass mich mal!« Arnold schob seine Schwester zur Seite.
Orville hatte begonnen, den Inhalt des Koffers auf den Boden zu räumen. Lauter kleine Tuben, Dosen und Gläschen. Jetzt nahm er eine Kamera aus dem Koffer und begann, das Zimmer zu fotografieren. Sehr gründlich ging er vor. Er fotografierte wirklich jeden Quadratzentimeter. Das Fensterbrett, den Nachttisch, die Deckenlampe – sogar die Teppichfransen. Als Nächstes begutachtete der Spurensucher die eingetrockneten Blutflecken. Mit einem großen Lineal maß er ihren Durchmesser. Er nahm eine Schere aus dem Koffer und schnitt jeden einzelnen Fleck säuberlich aus. Aus dem Rest schnitt er blitzschnell – vielleicht zur Übung, vielleicht auch nur zum Spaß – eine Sternengirlande.
»Könnte auch ein Scharlatan sein«, murmelte Arnold.
In genau dem Moment hielt Orville für den Bruchteil einer Sekunde inne und lauschte. Arnold erschrak so sehr, dass er freiwillig zur Seite rückte. Agatha blickte wieder durch das Schlüsselloch.
Orville hatte ein gewaltiges Mikroskop aus dem Koffer gehoben. Nacheinander legte er die Bettlakenstücke unter das Objektiv. Es dauerte eine Ewigkeit, denn Orville machte sich in einem kleinen Heft ausführliche Notizen.
»Gibt's was Neues?«, flüsterte Arnold.
»Er zieht mit einer Pinzette kleine Fasern aus dem Lakenstoff. Die stopft er in ein Reagenzglas … und jetzt tropft er eine giftgrüne Flüssigkeit darauf. Irgendwie merkwürdig.«
»Ein Scharlatan, sag ich doch«, flüsterte Arnold.
»Hauptsache, er verschüttet nichts«, flüsterte Agatha zurück.
Orville platzierte das Reagenzglas in einem Ständer auf dem Fußboden, daneben stellte er einen altmodischen Wecker. Dann setzte er sich kerzengerade auf das Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und pfiff leise vor sich hin.
Nach wenigen Sekunden drehte er den Kopf zur geschlossenen Tür. Agatha war, als würde er ihr durch das Schlüsselloch direkt ins Auge sehen. »Mes enfants, könnt ihr mir vielleicht etwas zu trinken bringen? Spurensuchen strengt an. Leo macht doch diese hervorragende Limonade, nicht wahr?«
Wie vom Blitz getroffen wichen die Zwillinge von der Tür zurück.
Ein paar Minuten später brachten sie Orville das gewünschte Glas Limonade, mit einem extra Eiswürfel.
»Merci beaucoup«, sagte Orville, nahm einen großen Schluck und unterdrückte einen Rülpser. »Köstlich. Jetzt gibt es nichts anderes zu tun, als zu warten, bis der Wecker klingelt. Setzt euch doch.« Er klopfte einladend auf die Matratze neben sich.
Zögernd nahmen die Zwillinge Platz. Agatha sah zum Reagenzglas. Die Flüssigkeit darin war so grell, dass ihr die Augen schmerzten. Schnell wandte sie den Blick wieder ab. Ganz anders Orville, der das Reagenzglas anstarrte, jede Farbveränderung registrierte und nur ab und zu von der Limonade trank. Arnold wippte mit den Füßen. Das Ticken des Weckers kam ihm unerträglich laut vor.
Endlich klingelte es.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte Orville. »Jetzt heißt es Daumendrücken, mes enfants.« Er krempelte sich die Ärmel hoch. »Ich werde nun einen Streifen Humanopapier in das Reagenzglas halten. Färbt sich der Streifen, haben wir ernsthaft Grund zur Sorge.«
Orville war so angespannt, dass sich sein Akzent verstärkte. Vorsichtig nahm er einen Papierstreifen aus dem Aktenkoffer und tunkte ihn in die grüne Flüssigkeit. Nach einigen Sekunden zog er den Streifen wieder heraus . Die Flüssigkeit perlte ab, der Streifen war so weiß wie zuvor. Orville hielt ihn ein zweites Mal in die Flüssigkeit: Wieder blieb der Streifen weiß. Erleichtert atmete der Spurensucher aus. Arnold spürte, wie ein Teil der Anspannung von ihm wich. Zwar wusste er nicht warum, doch mit einem Mal hatte er Vertrauen in diesen seltsamen Typen.
Agatha wollte es genauer wissen: »Was bedeutet das?«
Orville schraubte das Reagenzglas zu.
»Alors, die zu untersuchende Substanz …«, begann Orville, wurde jedoch von Arnold unterbrochen: »Du meinst das Blut.«
Orville zog die Augenbrauen hoch. »Ob es Blut ist, musste erst überprüft werden. Nimm nichts als das, was es scheint. Erste Spurensucherregel.« Er kratzte sich am Kopf. »Nein, das ist die zweite Regel. Die hab ich schon während meiner Ausbildung immer verwechselt. Aber ja, in diesem Fall ist es tatsächlich Blut. Das hat meine Analyse mit dem Mikroskop eindeutig gezeigt.«
Agatha stöhnte sichtlich genervt: »Und was war das mit dem grünen Zeug eben?«
Oberlehrerhaft erklärte Orville: »Das grüne Zeug ist ein Molekül-Lösungsmittel. Es hat das Blut von dem Stoff gelöst. Dadurch konnte ich den Test mit dem hochwertigen Humanopapier durchführen. Da sich dieser Streifen nicht verfärbt hat, können wir davon ausgehen, dass es sich nicht um menschliches Blut handelt. D'accord?«
Jetzt verstand Agatha, warum Orville so erleichtert war. »Das heißt, Mama und Papa sind gar nicht verletzt?«
»Zumindest nicht schwer«, sagte Orville. »Und das hätte mich auch gewundert. So gut, wie eure chère maman trainiert ist.«
»Aber woher stammt das Blut dann?«
»Gute Frage. Schwere Frage«, Orville wog den Kopf. »Um sie endgültig beantworten zu können, muss ich die Proben mit in mein Labor nehmen. Dort habe ich mehr Gerätschaften. Vorher sollte ich noch eine Luftprobe nehmen.«
Orville hob ein braunes Päckchen aus seinem Koffer. Unter normalen Umständen hätte Agatha sich gewundert, wie all die Dinge darin überhaupt Platz hatten. Aber das hier waren alles andere als normale Umstände.
»Diese Luftsauger sind unglaublich teuer«, erklärte Orville. »Kaum kauft man einen, gibt es ein halbes Jahr später schon wieder einen besseren. Dieser hier ist noch brauchbar, hat ja auch euer Vater entwickelt, wie der Fachmann unschwer erkennt.«
Er hatte das Packpapier entfernt und strich mit den Händen liebevoll über eine Art Staubsauger im Miniformat. Die Maschine war, wie die Geräte aus der Dachkammer, mit einer samtartigen Schicht überzogen. Ein langes Kabel hing zu Boden. Orville schob das Ende in die Steckdose hinter dem Nachttisch. Im gleichen Moment begann das Sauggeräusch. Die Maschine hob ab. Kaum eine Handbreit schwebte sie über den Boden. Verdutzt nahmen die Zwillinge die Füße hoch, damit die Maschine unter ihnen entlanggleiten konnte.
Orville schien sehr zufrieden. »Wirklich ein gutes Gerät. Lässt keine Ecke aus. Früher hatten wir zum Sammeln von Luftproben nichts als Schraubgläschen. Die musste man mit der Hand durch die Luft schwenken, das gab Muskelkater! «
Nachdem der Luftsauger den Boden abgeflogen war, positionierte er sich in der Mitte des Raumes. Hier schwenkte er sein Saugrohr Richtung Decke, saugte einen Moment, stockte – und bekam einen Hustenanfall. Nach einem letzten Ächzen verstummte der Sauger. Das Rohr war verstopft.
Orville kniete sich neben die Maschine und klopfte ein paar Mal auf das Gehäuse. Da spuckte der Sauger im hohen Bogen etwas aus, das langsam zu Boden segelte.
Es war eine anthrazitfarbene Feder.
Agatha und Arnold stockte der Atem. Die kannten sie aus ihrem Traum! Der ihnen von Minute zu Minuter echter schien. War die Feder nicht der letzte Beweis? Das, was sie Nacht für Nacht sahen und hörten, war Realität!
Auch Orville war von der Entdeckung nicht angetan.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Er drehte seinen Fund hin und her. »Diese Feder stammt von einem Klyor. Und zwar von einem ausgewachsenen.«
Klyor? Das Wort hatten die Zwillinge noch nie gehört. Sie wussten nicht, ob sie mehr erfahren wollten. Zu groß ihre Angst, dass alles, was sie hören würden, einfach nur schrecklich war. Aber immerhin ging es hier um ihre Eltern. Agatha nahm ihren Mut zusammen und fragte mit zitternder Stimme nach.
»Nun, wie erkläre ich euch am besten, was ein Klyor ist?«, begann Orville, steckte die Feder in eine Tüte, beschriftete sie und packte den Luftsauger wieder ein. »Ein Klyor ist ein Vogel, der eigentlich schon vor langer Zeit ausgestorben ist …« Er hielt inne. »Ich denke zumindest, dass es ein Vogel ist. Immerhin hat er einen Schnabel, einen enormen Schnabel, um genau zu sein und …« Orville brach ab. »Wer wirklich wissen will, was ein Klyor ist, sollte sich das Skelett im Königlichen Museum von Masalar ansehen. Das kann ich euch wirklich empfehlen. Vom direkten Kontakt mit einem lebenden Exemplar kann ich hingegen nur abraten.«
Arnold kratzte sich am Kopf. Masalar? Was war das nun schon wieder? Er war sich ziemlich sicher, den Namen im Erdkundeunterricht noch nie gehört zu haben. War dieser Spurensucher vielleicht doch ein Schwindler? Aber immerhin hatte er die Feder gefunden ...
Orville klappte seinen Aktenkoffer zu. »Ich vermute, dass eure Eltern in der Nacht von Klyoren angegriffen wurden. Meistens planen die Viecher ihre Angriffe Tage voraus, gehen auf Erkundungsflug, um den besten Zeitpunkt herauszufinden.«
Mit einem Mal ergab alles Sinn. Oder zumindest: sehr vieles. Agatha konnte nicht an sich halten.
»Wir haben sie gesehen«, rief sie. »Die Klyore! Jede Nacht haben mein Bruder und ich sie gesehen. Aber wir dachten, es sei nur ein Traum!«
Orville schien unbeeindruckt.
»Das sieht den Klyoren ähnlich«, sagte er. »Sie tarnen sich als Alptraumwesen. Auch sonst haben sie es faustdick hinter den Ohren. Um zu vermeiden, dass es Zeugen von ihren Angriffen gibt, sondern sie bei Bedarf einen betäubenden Geruch ab. Der sorgt dafür, dass man alles vergisst.«
»Bestimmt haben die das bei Greta gemacht«, sagte Arnold. »Zum Glück! Die Arme hat ja im Bett bei Mama und Papa geschlafen!«
»Eure Eltern haben sicher ihr Bestes gegeben, um sich zu verteidigen«, meinte Orville. »Sie haben ihre Angreifer ja sogar verwundert. Aber offensichtlich wurden sie trotzdem überwältigt und verschleppt. Kaum zu glauben ... na, das Laborergebnis wird zeigen, ob meine Vermutung stimmt.«
Einen Moment stand Orville beinahe regungslos da. Agatha räusperte sich.
»Sind frische Luftproben nicht besonders brauchbar?«
»Oui, in der Tat«, gab er ihr recht. »Hast du schon an eine Karriere als Spurensucherin gedacht? Ein ausgesprochen anregender Beruf, wenn man Liebe für Details hat. Sobald die Testergebnisse vorliegen, melde ich mich bei euch, mes enfants.« Etwas zögerlich fügte er hinzu: »Am besten, ihr wartet brav hier zu Hause und bleibt erreichbar.« Der Satz klang wie auswendig gelernt. Widerwillig nickten die Zwillinge.
»Dann ist ja alles geklärt«, sagte Orville und zwinkerte merkwürdig. »Ich finde allein raus, vielen Dank.« Er nahm seinen Mantel und war schon halb aus dem Zimmer, als er sich noch einmal umdrehte. Aus seiner Westentasche zog er zwei gelbe Blumen. Sie hatten starke Ähnlichkeit mit den preisgekrönten Narzissen aus dem Nachbargarten. »Fast hätte ich es vergessen: Bon anniversaire, mes enfants.« Er überreicht den Zwillingen die Blumen mit einer Verbeugung. So tief, dass seine Nasenspitze den Boden berührte.