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8. Kapitel Abreise ins Unbekannte
ОглавлениеJetzt gab es keinen Zweifel mehr: Erstens, ihre Eltern waren entführt worden. Zweitens, ihre Träume waren gar keine Träume gewesen. Es war so schrecklich, dass die Kinder es kaum begreifen konnten. Oder wollten.
Arnold atmete schwer aus, seine Schwester schlang ihre Arme um ihn. »Ich mache mir auch Sorgen«, flüsterte sie. »Aber bisher haben wir noch alles hingekriegt, oder?«
Arnold konnte nur mit den Schultern zu zucken. Herr Schmidt jedoch – früher als Greta von seinem Mittagsschlaf erwacht – war äußerst fidel. Unauffällig hatte er dem Spurensucher einen Handschuh stehlen können. Den brachte er nun schnell in sein Geheimversteck im Garten, unter den Heckenrosen. Sorgsam legte er seine neueste Errungenschaft zu seinen bisherigen Schätzen: acht braune Socken von Leo, eine Babysocke von Greta, drei selbst gestrickte Topflappen von Tante Cleo und ein alter Knochen. Jetzt kam noch ein weicher Lederhandschuh dazu. Was für ein Glück!
Währenddessen gaben Agatha und Arnold sich größte Mühe, sich abzulenken. Sie gingen ins Wohnzimmer; Arnold schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle. Agatha nahm sich eine alte Zeitung und schlug die Seite mit den Todesanzeigen auf. Doch heute wurde sie davon nur noch deprimierter.
»Agatha, so geht das nicht!«, platzte es schließlich aus ihrem Bruder heraus. »Wir müssen etwas tun. «
Sofort sprang Agatha auf: »Und ich dachte schon, du wärst so vernünftig und wolltest tatsächlich einfach nur rumsitzen und warten. Das kann ich doch so schlecht!«
»Blöd nur, dass wir Orville einfach so haben gehen lassen.«
Die Zwillinge grübelten, wie sie ihre Hilfsaktion starten sollten. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Mit großen Augen sahen sie sich an. Konnten das Thea und Leo sein? Agatha holte tief Luft und hob ab. Im gleichen Moment verzog sie enttäuscht das Gesicht. Es war bloß Moritz von gegenüber.
»Hey, hör zu«, plapperte er los, »wie versprochen habe ich euer Haus observiert. Na, und vorhin ist doch tatsächlich ein seltsamer Typ durch euren Garten geschlichen. So eine Mischung aus Dracula und Staubsaugervertreter.«
»Orville«, sagte Agatha.
»Wie auch immer, ich wollte nur berichten: Der Typ hat sich in eurem Geräteschuppen verkrochen. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, aber ich dachte –«
Mitten im Satz legte Agatha einfach so auf. Nicht gerade höflich, aber es galt, keine Zeit zu verlieren.
»Wir haben eine erste Spur!«, rief sie und war schon Richtung Garten losgerannt. Arnold schnappte sich Greta. Dann eilte er hinterher.
Die Tür des Geräteschuppens war nur angelehnt. Agatha drückte sie vorsichtig auf, im Gänsemarsch gingen sie hinein. Greta kuschelte sich an Arnolds Brust und gähnte verschlafen. Herr Schmidt, der den Handschuh erfolgreich verbuddelt hatte, drängelte sich vor. Darin war er Profi. Es war eng in dem Holzhäuschen. Rasenmäher, Spaten, Rechen und jede Menge Plastikeimer standen verstaubt in der Ecke, eigentlich war alles wie immer. Sogar Herr Schmidt hatte schon wieder etwas gefunden, auf dem er herumkauen konnte.
»Was frisst du denn da?« Agatha beugte sich zu dem Dackel. »Nicht, dass du dir den Magen verdirbst.«
Widerwillig ließ Herr Schmidt zu, dass Agatha in sein Maul guckte.
»Ach, nur ein Faden«, sagte Agatha. Sie ließ das Hundemaul wieder zuklappen.
»Moment!«, rief Arnold, setzte Greta auf den Boden und beugte sich zu Herrn Schmidt. Er war sichtlich genervt, schon wieder sein Maul öffnen zu müssen. Das war ja schlimmer als beim Zahnarzt. »Der Faden ist mintgrün!«, stellte Arnold fest. »Genau wie Orvilles Fliege.«
Er folgte dem Faden, der von Herrn Schmidts Schneidezähnen am Rasenmäher vorbei führte und sich zur Schuppenwand schlängelte. Dort verschwand er im Boden. Als Arnold auf das Holz an der Stelle trat, gab es etwas nach. Prüfend wippte er darauf herum.
»Eine Falltür«, flüsterte er und kniete sich auf den Boden. Mit beiden Händen zog er die Tür auf.
»Und?«, fragte Agatha, die sich schon wieder eine Haarsträhne in den Mund geschoben hatte. »Was siehst du?«
»Eine Treppe«, sagte Arnold.
»Was für eine Überraschung!«
Agatha nickte, als hätte sie sich das schon gedacht.
Die Zwillinge warfen sich einen Blick zu. Sie wussten, sie würden dort hinuntersteigen. Und sie ahnten, dass die Treppe sie an einem völlig fremden Ort bringen würde. Dafür mussten sie einige Vorbereitungen treffen.
Zurück im Haus begann Agatha, ihren großen Rucksack zu packen: Ein Taschenmesser, ein Fernglas, ein Ersatzschnuller für Greta und jede Menge Windeln. Als sie alle zehn Bände von Krankheiten von A-Z anschleppte, schüttelte Arnold den Kopf. »Dann kannst du gleich bei R wie Rückenschmerzen nachschlagen«, sagte er. »Ich trage das auf keinen Fall.«
Natürlich hatte er recht! Auf ihrer Reise würde jedes Kilo mehr zur großen Last werden. Schweren Herzens stellte Agatha die Bücher zurück ins Regal, bis auf den Band Sw-Ve. »Den brauchen wir unbedingt«, erklärte sie. »Unter T sind alle tropischen Krankheiten zusammengefasst. Und unter U alle unbekannten Krankheiten.«
Da Agatha für alle Fällte gerüstet sein wollte, packte sie auch die Kinderausweise und Herr Schmidts Hundepass ein. Außerdem jeden Impfpass, den sie finden konnte und schließlich noch ein dickes Seil.
»Wofür soll denn das gut sein?«, fragte Arnold.
»Mal angenommen, ein Feuer bricht aus«, begann Agatha und stemmte die Hände in die Hüften. »Und wir befinden uns im wer-weiß-wievielten Stock eines Hochhauses. Dann können wir immerhin Greta und Herrn Schmidt abseilen.«
Das schien Arnold, der an leichter Höhenangst litt, durchaus sinnvoll.
Als Nächstes diskutierten sie eine Weile, ob sie die Briefmarkensammlung ihres Vaters mitnehmen sollten. Weil sie es nicht verantworten konnten, die wertvollen Stücke zu Hause zu lassen, verstauten sie das Album ganz unten im Rucksack. Es sorgte dafür, dass sie sich ihren Eltern näher fühlten.
Während Agatha den Rucksack ein letztes Mal prüfte, ging Arnold rüber zu Moritz. Er gab ihm eine Kurzfassung dessen, was geschehen war – er erwähnte die Klyore, nicht aber die Elf Augen. Außerdem bat er Moritz, seine Fische zu füttern und Tante Cleo auszurichten, sie solle sich keine Sorgen machen.
»Bitte beobachte auch unser Haus weiter.«
»Ehrensache«, sagte Moritz. »Wenn was Außergewöhnliches geschieht, schicke ich eine Mail. Zwischenzeitlich recherchiere ich, was es mit diesen Klyoren auf sich hat. Ob das die Viecher waren, die ich heute Nacht gesehen habe? Klingt jedenfalls spannend!«
Spannend, dachte Arnold. So konnte man es auch nennen.
Ungeduldig wartete Agatha vor dem Geräteschuppen. Arnold half ihr, den Rucksack aufzusetzen. Dann drückte er ihr Herrn Schmidt in den Arm und hob Greta auf seine Schultern.
»Hoffentlich gibt es da unten keine Ratten«, sagte Agatha, als sie vor dem Loch im Schuppen standen und in die Tiefe blickten. Greta quietschte vor Aufregung. Sie hatte noch nie eine Ratte gesehen und freute sich immer, wenn sie neue Tiere treffen konnte. Auch Herr Schmidt hatte nichts gegen eine kleine Rattenjagd einzuwenden. (Bei den Nachbarshunden war sein Spitzname nicht ohne Grund: Der Rattenfänger von Nebenan.)
Agatha setzte ihren Fuß auf die erste Stufe. Da begann sich die ganze Treppe zu bewegen! Eine Rolltreppe! Damit hatte Agatha nicht gerechnet. Vor lauter Schreck verlor sie das Gleichgewicht. Mit dem rechten Arm hielt sie Herrn Schmidt fest umklammert, mit dem linken ruderte sie in der Luft. Im letzten Moment bemerkte sie das Geländer neben sich. Blitzschnell griff Agatha zu und fing sich wieder. »Das hätte man auch sicherer bauen können«, murmelte sie, bevor sie verstummte.
In kompletter Dunkelheit fuhren die Kinder auf der Treppe nach unten. Sie sprachen kein Wort, hingen ihren Gedanken nach. Allmählich verloren sie jedes Zeitgefühl.
Da hörten sie diese Stimme.