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1. Kapitel Ein letzter Tag zu Hause
Оглавление»Herr Schmidt, nimm dich in Acht!« Agatha stolperte die Holztreppe hinunter. Ihr schwarzes, schulterlanges Haar wehte um ihr Gesicht. Weit von sich gestreckt hielt sie ihren Anzug der Jugendfeuerwehr, von dem eine verdächtig gelbe Flüssigkeit auf die Holzdielen tropfte.
Von dem Übeltäter, dem Zwergdackel Herr Schmidt – das »Zwerg« war ihm wichtig, manche hielten ihn tatsächlich für einen winzigen Kaninchendackel – war nichts zu sehen. »Pass doch auf!«, schnauzte Agatha ihren Zwillingsbruder Arnold an, der auf dem Weg nach oben zu den Kinderzimmern war. Mit seiner angelaufenen Taucherbrille hatte er sie nicht kommen sehen.
Normalerweise war Agatha zu ihrem Bruder deutlich netter, immerhin war er dreizehn Minuten älter. Aber sie hatte einfach schon wieder so schlecht geschlafen! Die Anspannung wuchs von Tag zu Tag. Hinter jeder Ecke, hinter jeder Tür befürchtete sie ... ja, was eigentlich? Jedenfalls war sie erschrocken, als ihr Bruder mitten auf der Treppe stand. So plötzlich, wie die nächtlichen Schatten.
Agatha stürzte ins Badezimmer und hielt das linke Hosenbein ihres Anzugs unter heißes Wasser. Ihre Mutter Thea lag in der Badewanne, hatte die Augen geschlossen und summte vor sich hin. Sie war umgeben von einem enormen Berg aus duftendem Schaum. Agatha sah gerade noch ihren Kopf mit den raspelkurzen, blonden Haaren. Wie jedes Mal wunderte sie sich, wie ihre so groß gewachsene Mutter sich so klein zusammenfalten konnte.
»Herr Schmidt hat wieder auf meinen Anzug gepinkelt«, beschwerte sich Agatha. Ihre Mutter reagierte nicht. Da entdeckte Agatha die Kopfhörer auf ihren Ohren. Sie stöhnte. Bestimmt hörte Thea wieder irgendeine Entspannungsmusik.
Agatha wendete ihren Anzug im Wasserstrahl. Dabei achtete sie darauf, nicht mit den ekligen Flecken in Berührung zu kommen. »Mama!«, rief sie entnervt. »Ich komme sicher zu spät.«
Endlich nahm ihre Mutter die Kopfhörer ab. »Agatha-Maus, was sagst du?«, fragte sie blinzelnd.
Agatha hielt den durchtränkten Anzug in die Höhe.
Thea seufzte. »Hat er etwa schon wieder …? Kaum zu glauben, dass so einer adlig ist! Vielleicht solltest du öfter mit ihm spazieren gehen, dann wäre unser Liebling von Neu-Kläffstein nicht so frustriert!«
Woher sollte Thea wissen, dass Herr Schmidt – der sich nach seiner Geburt einen bürgerlichen Namen zugelegt hatte, weil er meinte, alles zu sein, nur kein Angeber – aus reiner Bequemlichkeit ins Haus pinkelte? Außerdem gehörte sich das nun einmal so: Rüden markierten ihr Reich und alles, was sich darin befand: Stühle, Vorhänge, Stehlampen und eben auch den ein oder anderen Feuerwehranzug. Wenn er auf dem Boden lag, wo er sowieso nicht hingehörte.
Agatha, die sich mittlerweile in das nasse Ding gezwängt hatte, überhörte den Vorwurf. »Ich komme zu spät! Dabei hat die Feuerwehr heute extra die Schule gesperrt! Wir üben Großeinsatz! Die brauchen mich!«
Unbekümmert verrieb Thea eine lilafarbene Flüssigkeit unter ihren Augen. »Frag doch deinen Vater, der fährt dich sicher schnell hin. Er ist …«
»Unterm Dach, ich weiß«, unterbrach Agatha ihre Mutter. »Wo auch sonst.« Sie eilte davon.
Ihr Vater Leo hatte die Dachkammer vor einigen Jahren ausgebaut, um einen Rückzugsbereich zu haben. Den Kindern war es streng verboten, den Raum zu betreten. Einen nachvollziehbaren Grund dafür hatten sie bisher nicht erfahren. Jedenfalls war es in ihrem Haus eng geworden, seit für das zu groß geratene Aquarium von Arnold zwei Zimmer zusammengelegt worden waren. Ein Meisterwerk der Architektur, da waren sich alle einig.
Ungeduldig klopfte Agatha an die kleine, weiß gestrichene Holztür zur Kammer. Wie so oft überlegte sie, ob sie ihren Eltern von ihrem wiederkehrenden Traum erzählen sollte. Er war so entsetzlich! Aber ihre Eltern waren immer sehr beschäftigt und jetzt war sowieso nicht der richtige Zeitpunkt. Baden war Thea heilig! Und wenn Leo in seiner Kammer arbeitete, hatte er nur dafür Augen und Ohren. Außerdem wollte Agatha so schnell wie möglich zur Feuerwehr. Spaß! Das war es, was sie brauchte!
Als sie sah, wie jemand durch den Türspion blickte, streckte Agatha ihre Zunge heraus. Kurz darauf wurde ein Riegel zurückgeschoben und Leo lächelte ihr durch einen schmalen Spalt entgegen. Er war etwas untersetzt und hatte, wie viele Männer seines Alters, einen kleinen Bauchansatz. In seinen dunklen, grau melierten Locken steckte eine Lupe, die umständlich an einem Gummiband befestigt war.
»Ich habe eine neue Lieferung Briefmarken bekommen, die ich gerade untersuche«, erklärte er. »Ganz seltene Exemplare. Magst du sie sehen? Ich hole sie gerne raus.«
»Vielleicht ein andermal«, sagte Agatha. »Ich muss jetzt zur Feuerwehr. Fährst du mich?«
Ihr Vater nickte, wenn auch widerwillig. »In Ordnung. Ich habe sowieso Kopfweh vom Augenzusammenkneifen. Das ist ziemlich anstrengend, weißt du.«
Arnold trug immer noch seine Taucherbrille, mittlerweile blank poliert. Außerdem hatte er einen Schnorchel im Mund und Flossen an den Füßen. Damit tauchte er in seinem riesigen Aquarium zwischen den Fischen herum. Die Träume hatten selbst ihn, der sonst so gelassen war, ziemlich durcheinandergebracht. Um sich zu entspannen, schwamm und tauchte er. Vor Kurzem hatte er zudem bemerkt, dass der Turm seiner Dekorationsburg schief im Wasser stand. Den wollte er so schnell wie möglich aufrichten: Sein und Agathas zwölfter Geburtstag stand vor der Tür. Dafür sollte alles schön sein!
Blöderweise war das Befestigen des Turms schwerer als gedacht. Arnold fluchte unter Wasser und Blasen stiegen auf – sehr zur Freude seiner Babyschwester Greta, die mit einem Schnuller im Mund vor dem Aquarium saß. Dass ihre Locken dringend mal wieder gekämmt werden mussten, sah Arnold selbst durch das Wasser. Aber von Bürsten jeder Art, ob Haar- oder Zahnbürsten, hielt Greta gar nichts. Und sie war ziemlich willensstark. Selbst Herr Schmidt war stets bemüht, der Kleinen alles recht zu machen. Sonst ließ sie einen Schrei fahren, der einem durch Mark und Bein ging. Außerdem konnte sie blitzschnell wegkrabbeln. Nur mit dem Laufen haperte es noch ...
Arnold kniff die Augen zusammen. Mit was spielte die Krabbelkönigin denn da? War das eine Feder?! Nein, nur ein Plastikfisch. Der nicht mal entfernt Ähnlichkeit mit den anthrazitfarbenen Federn hatte, die Arnold in seinem Traum wie meterhoher Schnee bedeckten. Er winkte Greta und drückte ihr zuliebe seine Nase an der Scheibe platt.
Dann machte er einen Handstand. Kopfüber sah er, dass das Dach der Plastik-Bäckerei halb abgerissen war.
»Verdammt«, blubberte Arnold.
Das war mehr als ärgerlich! Er hatte das Haus erst letzte Woche gebaut! Irgendeiner seiner neuen Goldfische war ein richtiger Rowdy. Oder war es möglich, dass heute Nacht, durch diesen unglaublichen Wind alles durcheinander geraten war?! Arnold schüttelte den Kopf über sich selbst. Schon seit Wochen war das Wetter herrlich. Den Sturm hatte er ja nur geträumt! Genau wie die Federn ... was war nur los mit ihm? Arnold beschloss, dass er zur Beruhigung seiner Nerven dringend eine Stärkung brauchte. Er tauchte auf, kletterte aus dem Glasbecken und nahm sich das gestreifte Handtuch, das am Rand bereitlag.
»Na, Greta«, sagte er und rubbelte sich über die dunklen Haare, »hast du auch so einen Hunger?« Begeistert haute Greta ihm zweimal mit dem Plastikfisch gegen das Knie. Das war ein deutliches Ja. Arnold band sich das Handtuch um die Hüfte, nahm seine glucksende Schwester auf den Arm und ging, nasse Fußabdrücke hinterlassend, mit ihr in die Küche.
Im Erdgeschoss war alles ruhig. Spätestens zum Abendbrot würde sich die ganze Familie an dem runden Tisch im Esszimmer versammeln. Prunkstück war Gretas blau getupfter Hochstuhl, in dem sie kaum noch saß. Sie fühlte sich längst viel zu groß dafür! Um ihr den Platz schmackhaft zu machen, hatte Leo sich einmal in das Ding gezwängt. Doch ohne Erfolg. Beim nächsten Essen hatte Greta darauf bestanden, dass er wieder darin Platz nahm. Demonstrativ hatte sie ihm sogar ihr Lätzchen zugeworfen. Sie machte es sich lieber auf dem flachen Sofa oder dem einen Holzstuhl bequem. Auf dem zweiten Stuhl saß nur Thea. Sie hatte die Angewohnheit, ihre Melonenkaugummis (»Meine einzige Sucht«, wie sie gerne erklärte) unter die Sitzfläche zu kleben. Das ekelte ihre Familienmitglieder so sehr, dass Thea den Stuhl immer sicher hatte.
***
Am Abend, als Arnold im Bett lag, überlegte er, zu Agatha zu schleichen. An sie gekuschelt würde er sich nicht so fürchten, wenn es nachts wieder losgehen würde mit dem Gekreisch und Geschrei.
Ablenkung. Das würde ihm guttun. Arnold zwang sich, über seinen und Agathas Geburtstag nachzudenken. Morgen war es schon soweit! Normalerweise dürften seine Gedanken um nichts anderes kreisen. Er fragte sich, ob seine Eltern den kleinen Katzenhai aufgetrieben hatten, den er sich so sehr wünschte. Es war ein ungefährliches Exemplar und würde sich gut zwischen seinen anderen Fischen machen. Schon seit Tagen suchte Arnold nach einem geeigneten Namen für sein neues Haustier, Tom fand er gut. Agatha hatte nur gelacht und gemeint, Hainrich wäre doch viel passender.
Schließlich gab Arnold gab den Versuch einzuschlafen auf. Er wollte noch eine Runde Mitternachtsschwimmen betreiben – sehr zum Leidwesen seiner Fische, die ihre Ruhe brauchten. Aber da hatte Arnold sich schon seine Badehose geschnappt. Langsam ließ er sich ins Wasser gleiten.
Ein Zimmer weiter warf Agatha sich in ihrem zitronengelben Himmelbett unruhig von der einen Seite zur anderen. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. War ihr Leos legendäres Champignonsüppchen mit Knoblauchcroûtons nicht bekommen? Vielleicht waren die Pilze schlecht gewesen. Oder hatte Agatha einfach nur Angst, einzuschlafen – weil sie genau wusste, dass sie kurz nach Mitternacht aufschrecken würde?!
Sie beneidete Herrn Schmidt, der satt und zufrieden neben ihr schnarchte. In der Hoffnung, sich sicherer zu fühlen, hatte Agatha ihn vorhin aus seinem Körbchen gehoben und in ihr Zimmer geschleppt. Kaum richtig aufgewacht war er dabei! Als Wachdackel war Herr Schmidt also ziemlich ungeeignet – da konnte er glauben, was er wollte.
Agatha knipste die Nachttischlampe an und versuchte, sich mit dem Lesen der Tageszeitung abzulenken. Genauer gesagt mit den Todesanzeigen, die ihre Lieblingsrubrik waren.
Agathas Lieblingsverstorbener an diesem Abend war der Dirigent Wladi T. Rohowski. Siebenunddreißig Jahre war er nur geworden, wie Agatha mit leichtem Schaudern ausrechnete. Sie stellte sich vor, wie er sich auf seiner ersten Welttournee vor Aufregung mit dem Taktstock in die Nase gestochen hatte und ins Stolpern kam. Er landete zwischen den Becken des Musikers hinter ihm, der ausgerechnet in diesem Moment sein Instrument mit aller Kraft zusammenschlug. Schädelbruch, gar keine Frage.
Agatha, die im Schneidersitz auf ihrem Bett saß, schnitt die Anzeige sorgfältig aus und heftete sie an die Rosentapete hinter sich. Dort hingen neben anderen Todesanzeigen auch Zeitungsartikel über aufregende Kriminalfälle und tragische Unfälle. Agatha las die Zeitung von vorne bis hinten, aber müde wurde sie nicht. Sie beschloss, rasch einen Blick auf ihre Familie werfen und sich zu vergewissern, dass in der Zwischenzeit keiner an einer Pilzvergiftung gestorben war. Außerdem wollte sie aus dem Fenster sehen, um sicherzugehen, dass kein wild gewordener Vogelschwarm das Haus belagerte. So, wie sie sich früher immer vergewissert hatte, dass unter ihrem Bett kein Monster saß. Pfff ... ein Monster! Agatha musste fast lachen. Ein Monster! Wie harmlos gegen diese Wesen, die sie in ihren Träumen besuchten.
Im Dunklen schlich Agatha durch das Haus. Huch, was war denn das? Beinahe wäre sie gestolpert. Auf dem Teppich vor der Haustür lag etwas. Ein dicker Brief, der im Mondlicht schimmerte. Sollte sich doch ihr Vater darum kümmern, immerhin war er hier der Postbote! Als Agatha weitergehen wollte, fiel ihr auf, dass die Briefmarke sich ständig veränderte: Eben leuchtete sie noch grün, jetzt war sie dunkelblau. So etwas hatte Agatha noch nie gesehen und das sollte schon etwas heißen, schließlich war sie die Tochter eines leidenschaftlichen Postboten und noch leidenschaftlicheren Briefmarkensammlers. Agatha betrachtete die Marke genauer.
Es war eine Art Hologramm. Wenn man die Briefmarke von der einen Seite anschaute, war ein Auge zu sehen, von der anderen Seite sah man eine Weltkugel. Leo wäre begeistert, sicher war die Briefmarke ein sehr seltenes Exemplar. Agatha würde ihren Vater gleich morgen früh fragen, in welchem Land es so schicke Marken gab.
Agathas Bedenken waren unbegründet. Allesamt schlummerten sie friedlich; Leo, Thea und Greta, die wieder einmal durchgesetzt hatte, bei ihren Eltern in der Ritze zu schlafen. Bis zum Morgen würde sie ihren Vater mit Sicherheit auf den Fußboden geschoben haben. Fehlte nur noch Arnold. Agatha machte sich auf den Weg zum Zimmer ihres Zwillingsbruders. Der Anblick des beleuchteten Aquariums versetzte sie immer in eine ruhige Stimmung. Vor allem nachts, wenn das ganze Zimmer blau schimmerte. Die Pflanzen im Wasser bewegten sich langsam hin und her, die meisten Fische hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen, nur ein paar schillernde Guppys waren zu sehen. Dazwischen drehte Arnold seine Runden.
Flink kletterte Agatha die Strickleiter am Aquarium hoch und setzte sich auf die Luftmatratze, die im Wasser trieb.
»Na«, begrüßte sie ihren Bruder, der sich zu ihr auf die Matratze zog. Sie gab sich alle Mühe, gut gelaunt zu klingen. Über ihre Träume hatten sie genug geredet, stundenlang. Nur waren sie dabei nicht weitergekommen. Deshalb hatten die Zwillinge beschlossen, das Ganze so gut es ging, zu ignorieren. Vielleicht hörte es ja von selbst auf.
»Glaubst du, du kriegst den Hai?«, fragte Agatha.
»Ich hoffe es!«
Es begann eine Diskussion über den perfekten Geburtstagskuchen. Arnold, der Sahniges bevorzugte, war für eine klassische Schwarzwäldertorte. Agatha wünschte sich einen Apfelkuchen.
Als sie sich gerade auf Kirschapfelkuchen geeinigt hatten, mit Sahne auf der einen Seite, schliefen sie ein. Auf der Luftmatratze war zwar nicht viel Platz, aber dafür war es ziemlich gemütlich.
Ein paar Stunden später wachte Agatha auf. Sie lauschte und blinzelte. Alles war ruhig. Kein bedrohlicher Schatten war zu sehen. Sie beschloss, in ihr eigenes Bett zu gehen, bevor sie doch noch ins Wasser fiel. Außerdem wartete da ja immer noch Herr Schmidt, der sicher beleidigt wäre, wenn er am Morgen ganz allein aufwachen würde.
Agatha war kaum wieder eingeschlafen – kurz nach Mitternacht – als es los ging.