Читать книгу Das Meer der Legenden - Babsi Schwarz - Страница 10

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Admiralstabsarzt Wayland zog Mavi durch die Menge von Marinetruppen, Schaulustigen, Geiseln und Helfenden, die den Hafen von Port Bravidor verstopften. Dennoch machten die Leute den Weg für ihn frei, ohne, dass er darum bitten musste. Misstrauisch beäugten sie Mavi, die sich nur widerwillig mitschleifen ließ. Sie hatte gehofft, ihn nie wieder sehen zu müssen.

Und nun hatte er sie an der Angel.

Er war kein unbedeutender Schiffsarzt mehr, sondern eine Person mit Macht und Ansehen - wie die vielen Abzeichen und Anstecker an seiner Jacke bewiesen. Mavi war so nah dran gewesen, nach tagelangen Strapazen endlich ins Meer zu gelangen, zurück in die Freiheit. Doch lieber hätte sie eine Ewigkeit als Geisel der Piraten verbracht, als Wayland wiederzusehen.

»Mein Labor wird dir gefallen. Es ist wie ein kleines Krankenhaus an Bord eines Schiffes. In den letzten Jahren habe ich die Welt bereist, Kuriositäten wie dich erforscht und gesammelt. Aber ich werde dafür sorgen, dass du den Meerwassertank erstmal für dich allein hast. Die Sankt Ignatia ist eines der prächtigsten Schiffe der kaiserlichen Marine. Dir wird es an nichts mangeln, dafür sorge ich. Willst du mir nicht endlich deinen Namen verraten? Ich finde es entwürdigend, dich immer mit Nixenblut ansprechen zu müssen.«

Als ob Wayland ein Verständnis von Würde hätte.

Vor Mavis Augen drehte sich alles. Erinnerungen, vermischt mit schrecklichen Szenarien der Zukunft. Dieser grausame Arzt würde sie umbringen! Aber nicht schnell wie der Stoß eines Dolches oder der Schuss einer Pistole ins Herz – nein, langsam und schmerzhaft. Sie war schließlich ein wertvolles Forschungsobjekt für ihn.

Ihre letzte Begegnung lag einige Jahre zurück. Mavi war noch jünger und unvorsichtiger gewesen, Wayland Arzt an Bord eines Marineschiffs, das ihre Heimat Ular Tidur umkreiste. Die Strömung hatte Mavi weit von der Küste abgetrieben und sie hatte sich auf einem Felsen ausgeruht. Die Marinesoldaten hielten sie für eine Schiffbrüchige und holten sie an Bord. Doch Waylands Misstrauen war geweckt. In seinem Ärztezimmer nutzte er die Untersuchung um sie solange unter Wasser zu drücken, bis sich ihre Beine in einen Fischschwanz verwandelten. Anschließend fesselte er sie auf seinen Operationstisch, studierte und verzeichnete ihren ganzen Körper.

Diese eiskalten Finger!

Als lebendes Nixenblut, als gesundes Mädchen in ihrem Alter war sie eine Sonderheit, eine Rarität. Denn die meisten Kinder von Meerwesen und Menschen starben frühzeitig, ihr Körper war nicht stabil genug für die Belastung und die Verwandlung. Bevor Wayland damals ihren Brustkorb aufschneiden konnte, war Mavi während eines Schichtwechsels geflohen.

»Ich habe dich überall um und auf Ular Tidur gesucht, wenn meine Pflichten es zugelassen haben. Dass du nun in Sonnenfels auftauchst, wundert mich. Stammst du ursprünglich von hier?«

Mavi antwortete nicht. Sie musste sich beruhigen. An Land hatte sie keine Chance gegen ihn. Es kümmerte Wayland nicht, dass sie nicht antwortete. Wieder einmal war ihre einzige Möglichkeit der Ozean. Dort, wo sie niemand beherrschen oder besitzen konnte. Wo sie frei neben Walen und Delfinen tauchte, ein Stückchen mit den kleinen Fischen in den Strömungen herumtollte oder sich am dunklen Grund neben bizarren Kreaturen mit leuchtenden Augen und furchteinflößenden Zähnen ausruhen konnte. In dem Wissen, dass keine Kreaturen des Meeres ihr je böswillig Schaden zufügen würden.

Mavi hätte viele Gründe gehabt, das Fischblut ihres Erzeugers zu hassen und doch fühlte sie sich dem Ozean so verbunden. Seit ihre Mutter gestorben war, fühlte sie sich unter den Menschen so schrecklich einsam.

Gab es überhaupt jemanden, dem sie vertrauen konnte? Der sie akzeptierte wie sie war, ohne Hintergedanken? Manchmal wünschte sie sich, sie könnte einfach am Meeresgrund einschlafen. Vielleicht würde sie ihre Mutter bald wieder in die Arme schließen, wenn ihre Seele ebenfalls ein Stern am Nachthimmel wurde?

Nein!

Mavi schüttelte den Gedanken ab. Noch war sie nicht im Labor dieses Tyrannen, noch hatte sie eine Chance. Auch die Sankt Ignatia war ein Schiff, das auf dem Meer segelte. Nur ein kurzer Moment der Ablenkung, der Unaufmerksamkeit seitens Wayland und Mavi wäre im Wasser, auf und davon. Sie konnte zwar unmöglich den ganzen Weg zurück nach Ular Tidur am Stück schwimmen, aber irgendetwas würde ihr schon einfallen.


Vor der Sankt Ignatia tummelten sich Marinesoldaten, die Waren aufluden. Möwen kreisten über dem prächtigen Marineschiff und tanzten mit den Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brachen. Das Schiff war ein gewaltiger Viermaster mit jadegrünem Schiffsbauch und weißen Segeln geziert von Stickereien des kaiserlichen Siegels.

Die Gallionsfigur zeigte die Großmutter des amtierenden Kaisers in jungen Jahren - ein beliebtes Motiv bei seinen Anhängern. Die goldene Ikone saß aufrecht an der Spitze des Bugs, ein Kranz aus Edelsteinblumen auf dem Kopf und im ausgestreckten Arm eine Laterne, in der ewiges Feuer aus einem heiligen Vulkan loderte. Ihre Brüste wurden von goldenem Haar bedeckt und vor ihrem Unterleib hielt sie einen verzierten Degen, der denen ähnelte, die hochrangiges Personal der Marine zum Amtsantritt bekamen. Ein Meisterwerk der Schmiedekunst, das Mavi mit seiner Erhabenheit zu verhöhnen schien.

Wayland zerrte sie vor einen Offizier, der alle Warenbewegungen protokollierte. Dieser begrüßte seinen Vorgesetzten überaus höflich.

»Herr Admiralstabsarzt, wenn die Evakuierung des Handelsschiffs abgeschlossen ist, können wir jederzeit aufbrechen. Die befreiten Geiseln werden in die Obhut der Stadtwache von Port Bravidor übergeben. Die Viva Ilona verfolgt weiterhin die Piraten. Noch gibt es keine weiteren Berichte. Führen Sie Güter oder Personen mit aufs Schiff?«

Wayland nickte desinteressiert und zog einen Füller, um seine Unterschrift auf die Liste zu setzen. Mavi, die sich die ganze Zeit brav gefügt hatte, nutzte diesen kurzen Moment, in dem sich seine Aufmerksamkeit verschob und sein Griff sich lockerte und riss sich los. Der Spalt zwischen dem Kai und dem Schiff war nur wenige Schritte entfernt. Sie setzte zum Sprung an. Starke Arme umfassten ihre Taille und zerrten sie zurück.

»Nein!«, kreischte sie aus voller Lunge, strampelte und schlug, doch Wayland war kräftiger geworden.

Es kostete ihn keinerlei Anstrengung, sie in Schach zu halten. Eine Hand lag noch immer um ihre Taille, die andere um ihren Hals. Sein Atem war heiß an ihrem Ohr und Mavis ganze Haut fühlte sich verseucht davon an.

»Hab keine Angst. Du musst nicht vor mir weglaufen. Du wirst es gut bei mir haben. Versprochen.«

Er presste seinen Daumen an eine Kuhle in ihrer Schulter und es war als würden all ihre Muskeln sich verflüssigen. Sie brüllte, doch sie konnte nicht entkommen. Hilfesuchend sah sie den Offizier an, der nur eine Augenbraue hochzog und sich dann wieder seiner Arbeit zuwandte.

Wayland trug sie über die ausgefahrene Treppe an Bord und Tränen sammelten sich in Mavis Augen, als sie unter sich die Holzplanken eines Schiffes statt Wasser sah. Wayland stellte sie wieder auf ihre Füße, ohne ihren Arm loszulassen und wischte ihr die Tränen mit dem Daumen weg. Zu Mavis Entsetzen leckte er den Tropfen auf und sah ihr dabei weiterhin in die Augen.

»Deine Tränen sind bitter«, stellte er interessiert fest. Dabei leuchteten seine blaugrauen Augen auf wie die eines kleinen Kindes. Er lächelte sie an. »Alles an dir ist faszinierend! Ich würde dich gerne in deiner natürlichen Umgebung beobachten, aber es gibt so vieles, was ich erst herausfinden möchte. Du bist einzigartig. Zu kostbar, um schutzlos im offenen Ozean zu schwimmen.«

»Du mieser …«

Mavi fielen keine Worte ein, die sie ihm an den Kopf werfen könnte. Jede Faser ihres Körpers sträubte und ekelte sich. Sie streckte sich so weit weg von ihm, wie es sein Griff erlaubte.

Nur ein paar Marinesoldaten sahen kurz zu ihr und Wayland. Eine Soldatin verzog das Gesicht, sonst zeigte niemand eine Gemütsregung. Es schien niemanden zu verwundern, dass Wayland irgendwelche Zivilisten auf sein Schiff verschleppte. Die kaiserliche Marine sollte den Menschen helfen und sie beschützen. Stattdessen sahen sie weg, wenn ihr Vorgesetzter Leute entführte und quälte. Mavi sollte wütend sein, stattdessen nistete sich die hässliche Gewissheit in ihr ein. Eine Kerbe für die Staubgötter - eine Bestätigung dafür, wie grausam diese Welt war.

»Oh, was für einen süßen Fisch hast du da denn an der Angel, Wayland?«, erklang eine Stimme und Wayland versteifte sich.

Ein Marineoffizier mit dunkelbrauner Haut und schwarzem Vollbart trat zu ihnen. Er trug einen weiten Mantel, an dem zahlreiche Abzeichen befestigt waren.

»Konteradmiral Guivante«, begrüßte Wayland den Mann und salutierte.

»Bitte helfen Sie mir!«, schrie Mavi und zerrte und zog, doch Wayland ließ sie nicht los.

»Na na, kleines Täubchen. Unser Doktor wird dir schon nichts tun«, wollte der Konteradmiral sie beruhigen, aber das listige Grinsen auf seinem Gesicht enttarnte ihn.

Mavis Magen drehte sich um. War denn jeder auf diesem gottverdammten Schiff ein Ekel? Grob packte Guivante ihr Gesicht und musterte sie eindringlich.

»Hübsches Ding, Wayland. Aber noch ganz wild. Falls du jemanden brauchst, der ihr ein paar Manieren beibringt, sag Bescheid.«

»Nein, danke«, zischte Wayland und fixierte den Konteradmiral mit stechendem Blick.

»Zu schade«, schnaubte Guivante und drehte sich um, »Weiterarbeiten.«

»Sei unbesorgt, ich lasse nicht zu, dass dieser Widerling dir nochmal zu nahekommt«, flüsterte Wayland und zog Mavi näher zu sich.

»Du bist hier der Widerling«, fauchte Mavi und nahm ihre letzten Kräfte zusammen.

Weil er sie nur am Arm gepackt hielt, hatte sie mehr Bewegungsfreiheit. Sie rammte ihren Kopf gegen sein Kinn und als sich seine Finger lockerten, hob sie ihr Knie und donnerte es mit voller Wucht in seinen Bauch. Wayland taumelte und ging auf die Knie.

Mavi wankte, die Umgebung vor ihren Augen verschwamm. Doch sie wartete nicht, bis sich ihre Sicht geklärt hatte. Ihr war schwindelig, also schloss sie die Augen und folgte ihren Instinkten.

Ins Meer! Ins Meer!

»Haltet sie!«, brüllte Wayland und mehrere schwere Stiefelpaare setzten sich trampelnd in Bewegung.

Mavi öffnete die Augen und duckte sich. Sie rammte einen Soldaten, der nach ihr greifen wollte, mit der Schulter, und brachte ihn damit zu Fall. Mit einem großen Satz sprang sie über die Reling.

Sie warf keinen Blick zurück, als sie ins kalte Wasser eintauchte und die Wellen über ihrem Kopf zusammenschlugen. Neben ihr schlugen Pistolenkugeln ein, doch sie tauchte sofort unter das Schiff.

»Nicht schießen! Ich brauche sie lebend«, hörte sie Wayland noch bellen.

Im trüben Wasser des Hafenbeckens würde man sie nicht sehen. Bis er Taucher losgeschickt hatte, war sie schon längst im offenen Ozean verschwunden.

»Was nun, Herr Admiralstabsarzt?«, spottete Guivante.

Die Stimmen verhallten als Mavi tiefer tauchte. Doch sie wusste, Wayland würde nicht so leicht aufgeben.


Der Kraken hatte gedöst, doch er wurde wach als er die vertrauten Schritte seines Meisters hörte. Vorsichtig lugte er aus dem Wasserbecken hervor. Keuchend kam Wayland vor ihm zum Stehen. Er sah wütend aus und der Krake kringelte nervös seine Fangarme. Weswegen war der Meister wütend? Es war nicht gut, wenn er wütend war. Wayland leckte sich etwas Blut von den Lippen und zog seinen Schlüsselbund hervor.

»Ich habe eine Aufgabe für dich.«

Er zog Hebel und drehte Räder, um die Schleuse ins Meer zu öffnen.

»Finde die Nixe und bring sie mir zurück«, sagte Wayland und der Krake tauchte unter.

Im Meer war er wegen seiner grünblau schillernden Farben gut getarnt, doch er fürchtete sich ein bisschen vor den unendlichen Weiten. Die anderen Meereswesen waren ihm gegenüber misstrauisch, weil er ihre Sprache nicht verstand. Aber der Kraken kannte es nicht anders, war er doch seither nur seinen Meister Wayland gewohnt.

Mit seinen acht kräftigen Armen zog er sich durch die Schleuse und ließ sich von der Weite des Meeres in Empfang nehmen. Das Wasser hier schmeckte jedoch viel frischer und kitzelte angenehm auf seiner Haut.

Er brauchte nicht lange, um die Nixe ausfindig zu machen, die sich unterhalb des Schiffs versteckte. Ihre dunklen Haare tänzelten in der Strömung und ihre Haut war braun wie Sand. Silberne und goldene Schuppen bedeckten einen Großteil ihres Körpers von der Brust bis zum kräftigen Fischschwanz mit den geschmeidig wirkenden Flossen. Hier und da war das Schuppenkleid mit schwarzen Tupfen wie von Tinte gesprenkelt.

Der Meister wollte sie haben. Vielleicht würde sie ihm bald Gesellschaft leisten?

Langsam näherte sich der Kraken, rollte seine mit Saugnäpfen bedeckten Arme nach ihr aus. Abrupt riss sie den Kopf herum und mit einem Peitschen ihrer Schwanzflosse war sie außerhalb seiner Reichweite. Wütend funkelte sie ihn an. Grünblaue Augen, umgeben von einer schwarzen Iris, eine Reihe scharfer Fangzähne entblößt, das Gesicht umrahmt von einem Kranz aus dunkelbraunem Haar. Der Kraken zuckte zurück.

Sie war wunderschön, aber unheimlich.

»Was willst du?«, zischte sie.

»Der Meister sagt, ich soll dich fangen«, sagte der Kraken unruhig.

Würde sie ihn angreifen?

»Der Meister? Wayland?«, hakte sie nach, ihre Flosse zuckte unruhig durchs Wasser.

Schüchtern nickte der Kraken. Mochte sie den Meister nicht? Die Nixe kniff die Augen zusammen und bleckte die Zähne.

»Verräter«, fauchte sie und rauschte davon.

Sie war viel schneller, aber er würde ihre Fährte nicht so leicht verlieren. Obwohl er sich ein wenig fürchtete, verspürte er auch so etwas wie Neugier.


Mavi schwamm so schnell sie konnte und ließ den Hafen von Port Bravidor, die Marineschiffe und den absonderlichen Kraken hinter sich. Hier draußen würde Wayland sie nie zu fassen bekommen.

Sie orientierte sich an den Strömungen, folgte Fischschwärmen und wagte es mehrere Stunden nicht, sich der Wasseroberfläche zu nähern. Unter ihr verschwanden der sandige Boden und die Felsen in der Dunkelheit der Tiefe. Seit längerem hatte sie keine Schiffe oder Inseln mehr gesehen, sie war nun mitten im Ozean. Mavi wusste, dass dort unten Schiffswracks und wundervolle Kreaturen hausten. Normalerweise erkundete sie diese Abschnitte des Meeres gerne, doch sie musste ihre Kräfte aufsparen.

Ihre wiedergewonnene Freiheit schmeckte bittersüß. Ständig glaubte sie, Waylands Stimme zu hören und vermutete hinter jedem Tintenfisch den seltsamen Kraken.

Das Meerwasser regenerierte und reinigte ihren Körper. So sehr sie die Sonne am Strand, das weiche Gras und den Wind auch vermisste – alle ihre Sinne waren im Wasser schärfer. Das Element verlieh ihr Kräfte, die sie an Land nicht hatte. Wenn ihre Lungen sich mit Flüssigkeit füllten, öffneten sich die Kiemen hinter ihren Ohren und sie konnte tief hinabtauchen.

Die anderen Fische und Meeressäuger waren vertraut wie alte Bekannte. Sie schwamm inmitten von Sardinenschwärmen, die wir Sterne glitzerten, ließ sich von den Luftblasen der Buckelwale umherwirbeln und folgte kichernden Delfinen. Das Gift der Quallen spürte sie durch ihre schuppige Haut lediglich als sanftes Kitzeln.

Eine Weile ließ sich Mavi von einer Riesenschildkröte ziehen, ehe sie in der Ferne einen dunklen Körper unter der Wasseroberfläche entdeckte. Neugierig tauchte sie nach oben.

Konnte sie auf dem Schiff eventuell die Nacht verbringen?

Sie war zwar zur Hälfte ein Meereswesen, doch sie konnte nicht wie das Volk ihres Vaters ständig auf dem Meeresboden leben. So wie sie an Land nicht zu lange ohne das Meer konnte. Im Wasser erfror sie nach einer Weile, an Land vertrocknete sie.

Eine Ausgestoßene beider Welten.

Die Erinnerung an ihre Mutter ließ Mavis Schultern schwer werden. Doch sie wollte nicht in Selbstmitleid baden. Sie lebte und ihr Leben war gut. Zuhause in Ular Tidur, in der Schmiede ihres Onkels würde sie wieder Arbeit und Zuflucht finden. Sie musste ganz von vorne anfangen. Aber sie lebte.

Das Schiff, das sie gefunden hatte, war ein Dreimaster und trieb verschlafen in den Wellen der untergehenden Sonne, die den Horizont wie glühende Lava aussehen ließ. Flaggen und Segel waren eingerollt, an Bord herrschte Stille.

In einiger Entfernung kroch bereits der Nebel über die Wellen, gefolgt vom Schleier der Nacht. Mavi beobachtete und verfolgte das Schiff eine Weile. Als jemand vom Ausguck herunterkletterte und ein anderer sich auf den Weg nach oben machte, beschleunigte Mavi und suchte an den Seiten des Schiffes nach einem Eingang.

Mit einem kräftigen Schlag ihrer Flosse schaffte sie es am Bug hochzuspringen und sich an einem Holzriss festzuhalten. Sobald die letzten Tropfen Meerwasser aus ihren Lungen frischer Nachtluft gewichen waren, begann sich die Nixenseite zurückzuziehen.

Die Verwandlung ihrer Flosse in Beine war weitaus weniger schmerzhaft als umgekehrt. Die Schuppen blätterten von ihr ab und der glitzernde Staub wurde von den Wellen davongetragen. Noch waren ihre Beine kalt und wackelig, doch bald würde sie wieder genug Kraft haben, um aufrecht zu gehen. Ihre Zehenspitzen prickelten und als Mavi sicher war, dass sie sich mit ihren Füßen auf einer Holzverstärkung ein wenig abstützen konnte, benutzte sie einen Arm, um die Klappe zu öffnen. Sie quetschte sich durch den schmalen Spalt, aus dem sonst nur ein Kanonenrohr schaute, ins Schiffsinnere.

Wie erwartet war es im Kanonenraum ruhig, nur ein paar Ratten huschten durch die Schatten. Im Schiffsbug war es stickig und Mavi bemerkte, dass die Kanone, hinter der sie kauerte, noch warm war. Es roch nach Schießpulver. Vorsichtig linste sie hinter dem metallenen Gestell hervor, in dem das Kanonenrohr befestigt war.

An den Wänden hingen Halterungen gefüllt mit Säbeln, Degen, Fischerhaken und Speeren. Daneben waren dicke Taue aufgerollt, Fässer und Kisten stapelten sich bis unter die niedrige Decke.

Vorsichtig schlich Mavi weiter. Sie war barfuß und machte deshalb kaum Geräusche auf dem Holzboden. Ihre nassen Fußabdrücke würden getrocknet sein, bevor irgendjemand sie bemerken konnte. In der Mitte des langgezogenen Raums befand sich ein Gitter, durch das schwaches Licht hereinfiel. Mavi machte einen großen Bogen darum, damit niemand von oben ihre Bewegungen sah. Als sie eine halbleere Kiste mit Stoffen fand, krabbelte sie hinein. Wenn sie sich ein wenig zusammenrollte und eingrub, würde man sie nicht sehen, selbst wenn man direkt vor der offenen Kiste stand.

Mavi wartete, schnaufte kurz durch und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie wusste nicht, welchen Kurs das Schiff nahm, aber die Nacht würde sie hier ausruhen können. Ihr Magen knurrte laut und Mavi zuckte zusammen. Vorsichtig sah sie sich um, aber natürlich hatte niemand das leise Grummeln gehört. Dafür waren die Umweltgeräusche viel zu laut. Die Wellen, die gegen den Bug klatschten, das Tippeln der Ratten und das Knacken und Rumoren des Holzes. Es war ihre Aufregung, die ihr vorgaukelte, dass man jeden ihrer Atemzüge hören konnte.

Mavi lugte aus ihrer Kiste hervor und sah sich um. Vielleicht befand sich irgendwo in den Fässern etwas Essbares? Sie hob einige Deckel an und versuchte im schummrigen Licht zu erkennen, welche Schätze dieses Schiff bereithielt. Sie fand ein Fass voller Äpfel und nahm sich gleich mehrere mit. Mit einem Stück Stoff, das sie sich zu einem Tragetuch umgebunden hatte, sammelte sie ihre Beute.

Als sie dem Quieken und Scharren der Ratten folgte, fand sie einen angebrochenen Sack mit Haferflocken und Trockenfrüchten. Zum Glück hatten die Schädlinge noch keinen Weg in den Sack gefunden, sondern futterten fiepend, was von oben herunterrieselte. Mavi löste das Seil und nahm eine Handvoll heraus. Das würde den gröbsten Hunger stillen.

Aber die Neugier kitzelte ebenso drängend in ihren Gliedern. Was für Fracht hatte das Schiff noch geladen? Vielleicht konnte sie etwas davon nutzen. In einer Kiste entdeckte sie hochwertige Stoffe, Leder und Taschen. Ein kleiner Lederbeutel würde auch genügen, um unter Wasser ein paar Münzen mitzunehmen oder Muscheln zu sammeln. Sie wühlte ein wenig und ging dann über zu einer weiteren, kleineren Kiste.

Als sie den Deckel anhob, wurde ihr ganz kalt. Darin befand sich neben Tüchern, Puderdosen und losen Perlen etwas, was ihr nur zu gut bekannt war. Es waren ihre eigenen Schmuckkreationen.

Aber das würde ja bedeuten…?

Im Augenwinkel nahm Mavi eine Bewegung wahr, doch bevor sie reagieren konnte, legte ihr jemand eine Klinge an den Hals.

»Keine schnellen Bewegungen. Hände hoch, dahin, wo ich sie sehen kann.«

Langsam leistete Mavi dem Befehl folge und hob die Hände. Sie wollte schreien, weinen und um sich treten. Sie war unachtsam und gierig gewesen! Anstatt die Kisten zu durchwühlen wie ein ungeduldiges Kind, hätte sie eine der Waffen von der Wand nehmen sollen.

Die Klinge lag kalt an ihrem Hals und schabte über ihre Haut. Die Staubgötter meinten es nicht gut mit ihr.

»Skip, was machst du denn da unten? Bist du zu betrunken, um den Weg zu finden? Den Fusel haben wir doch in den rechten Lagerraum geräumt, damit er hier nicht verdunstet.«

Mavi erkannte die Stimme von Kapitän Tayon wieder. Was sollte sie tun?

»Käpt’n. Wir haben eine blinde Passagierin«, raunte der Kerl an ihrem Ohr und zog sie ins Licht, das durch das Gitter fiel.

Mavi sah sich erneut Auge in Auge mit dem hochgewachsenen Piratenkapitän. Schweiß glänzte auf seinen Muskeln. Er trug eine knöchellange Leinenhose und bunte Tücher und Gürtel um seine Hüften, in denen Messer und Pistolen befestigt waren. An seiner Schulter prangte ein Verband, der sich ganz leicht rot färbte.

»Nanu?«, machte Tayon erstaunt und kam auf sie zu. »Wir kennen uns doch. Wolltest du uns beitreten? Dann hättest du das nur sagen müssen. Du siehst besser aus als bei unserer letzten Begegnung, nicht mehr so blass.«

Er musterte sie amüsiert, ehe er das Tragetuch um ihre Schultern löste und den Inhalt inspizierte. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an.

»Hunger?«

»Kapitän?«, fragte Skip verwirrt.

»Nimm ihr das Messer von der Gurgel, sie kann ja kaum atmen.«

Irritiert leistete Skip seinem Kapitän folge, doch er behielt den Dolch in der Hand und blieb dicht bei Mavi, damit sie keinen Fluchtversuch unternehmen konnte.

»Du solltest eigentlich mit den Geiseln in Port Bravidor sein. Wie hast du dich an Bord geschlichen? Nicht schlecht für jemanden, der gestern Abend vor Fieber kaum laufen konnte. Ich bin Tayon, Kapitän dieses prächtigen Schiffs und der räudigen Streuner hier an Bord – aber das weißt du ja vermutlich bereits. Wie heißt du?«

»Ich heiße Mavi«, antwortete Mavi leise.

Tayon war viel zu freundlich und unbesorgt, das machte sie misstrauisch. Was spielte er für Spiel?

»Mavi. Na, dann komm mal mit. Du hast dich aufs Schiff geschlichen und ich könnte dich eigentlich dafür aufknüpfen lassen, aber ich habe gute Laune, also darfst du mir bei einem Abendessen erklären, was du hier zu suchen hast.«

Tayon streckte ihr seine Hand auffordernd hin, doch Mavi blieb wie versteinert stehen.

»Hast du schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht?«, erkundigte er sich besorgt.

»Jede Frau hat schon mal schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht«, brummte Skip ungehalten.

Mavi konnte sich ein Nicken nicht verkneifen und Tayon seufzte.

»Na gut. Würde es dich beruhigen, wenn Sumiré dabei ist? Ich verspreche, ich will mich nur unterhalten. Ich werde dir nicht wehtun oder dich von Bord werfen, aber du hast dich unerlaubt hier reingeschlichen. Wir müssen besprechen, wie es weitergeht.«

Mavi wäre es lieber gewesen, er hätte sie von Bord geworfen, um dieser Situation zu entgehen, aber sie schwieg. Ihr blieb nichts anderes übrig als vorerst zu kooperieren.

Zögerlich legte sie ihre Hand in die von Tayon.

Das Meer der Legenden

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