Читать книгу Das Meer der Legenden - Babsi Schwarz - Страница 12

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Tayon sah Mavi dabei zu, wie sie gierig ihr Essen verschlang. Vermutlich war es ihre erste vernünftige Mahlzeit seit mehreren Tagen. Er war überrascht, dass ausgerechnet sie sich an Bord geschlichen hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie kühl und vorsichtig gewirkt – nicht wie jemand, der sich im Bauch eines Piratenschiffes versteckte. Das war töricht. Zumal die Zeitungen kein gutes Haar an ihm ließen. Wobei nicht alles davon erstunken und erlogen war. Tayon kratzte sich am Oberschenkel, wo eine alte, wetterfühlige Narbe prangte.

»Und du machst Schmuck aus allem, was dir so an den Strand gespült wird?«, fragte er.

Mavi nickte zögerlich. In ihren grünblauen Augen lag Misstrauen.

Verständlich.

Auch Tayon wusste nicht so ganz, was er von ihr halten sollte. Aber sie weckte seine Neugier, er wollte ihre Geschichte hören.

»Manchmal tauche ich auch ein bisschen. Nach Perlen und Muscheln. Ich kann gut die Luft anhalten«, sagte sie und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Sie hatte schöne, glänzende Haare, dunkelbraun mit einem leichten Blaustich wie der Nachthimmel. Ihre Haut hatte die Farbe von Sand. Es war Tayon als strahlte sie, ganz anders als die blasse, zerbrechliche Frau, die er in der Krankenstation gesehen hatte.

»Und arbeitest du auch mit Metallen und Edelsteinen?«, wollte Sumiré wissen, die an ihrem goldenen Lieblingsarmreif spielte.

»Nicht oft, die Rohstoffe sind teurer in der Beschaffung. In der Schmiede meines Onkels arbeite ich manchmal damit«, erzählte Mavi.

Sie zog für einen Moment die Augenbrauen zusammen, als wäre ihr etwas Unangemessenes herausgerutscht.

»Kannst du damit deinen Lebensunterhalt verdienen?«, fragte Sumiré.

»Ja. Die meisten Leute finden den Schmuck wertvoll, der schön aussieht, deshalb arbeite ich gerne mit Naturmaterialien. Und Gold lässt sich inzwischen sehr gut fälschen.«

Sumiré schob mit skeptischem Blick die Armreifen an ihrem Handgelenk zusammen.

»Und warum hast du dir diesen Beruf ausgesucht?«, hakte Tayon weiter nach.

Seine Beine und Arme fühlten sich schwer an, aber sein Geist war wach, seine ganze Aufmerksamkeit auf Mavi gerichtet. Es fiel ihm schwer sie einzuschätzen. Einerseits wollte er wissen, ob sie seiner Crew schaden konnte, aber ein anderer Teil von ihm war ehrlich interessiert. Sie wirkte so kühl und in sich gekehrt und doch erzählte sie nun bereitwillig mehr über sich und ihr Leben. Aus Angst, sonst aufgeknüpft zu werden? Doch bei dieser Frage schien sie ins Stocken zu geraten.

»Ich … Meine Mutter … Die Familie meiner Mutter arbeitet schon lange im Schmiedehandwerk. Mein Onkel stellt alles her, wenn die Leute genug zahlen. Ich mag das künstlerische Arbeiten aber mehr.«

War etwas mit ihrer Familie? Tayon entging nicht, wie Mavis Stimme für einen kurzen Moment gezittert hatte. Aber auch wenn ihm eine weitere Frage auf der Zunge kitzelte, hielt er sich zurück. Er wollte nicht, dass Mavi wieder weinen musste. Der Anblick hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Vielleicht konnte er das Thema Eltern geschickt umschiffen.

»Hast du nie etwas anderes gewollt?«

Doch auch diese Frage schien Mavi weiter in ihr Schneckenhaus zurückzudrängen. Sie kaute verdächtig lange auf dem letzten Bissen ihres Essens, ehe sie halbherzig den Kopf schüttelte.

»Ich denke, es wird höchste Zeit fürs Bett«, unterbrach Sumiré mit einem lauten Gähnen. Mavi nickte eilig.

Tayon räkelte sich und seufzte. »Ja, du hast Recht. Es war ein langer Tag.«

»Ich darf also an Bord bleiben?«, fragte Mavi kleinlaut.

»Bis jetzt hast du mir keinen Grund gegeben dagegen zu entscheiden«, sagte Tayon mit einem Grinsen. »Wie gesagt, wir finden für jede Person irgendeine Arbeit auf dem Schiff. Und ich habe sogar schon ein paar Ideen für dich.«

Mavi knetete ihre Hände und bedankte sich, ehe sie Sumiré zu ihrer Schlafkoje folgte. Tayon ließ seine Schultern kreisen und seufzte. Seine Intuition sagte ihm, dass Mavi nichts Böses im Schilde führte. Dennoch wollte er sie die nächsten Tage im Auge behalten. Und der Gedanke war ihm auch gar nicht zuwider. Als er sich in seine weichen Kissen sinken ließ, konnte er noch ganz leicht ihren Duft wahrnehmen.


»Seid ihr immer so freundlich Fremden gegenüber?«, fragte Mavi leise und folgte Sumiré durch die finsteren Gänge des Schiffes.

Es war viel ruhiger geworden. Die Öllaternen flackerten und tauchten alles in schummriges, orangefarbenes Licht.

»Tayon ist ein besonderes Exemplar«, sagte Sumiré mit einem Lachen. »Er ist sehr offen und neugierig. Ein richtiger Idealist, wenn du so willst. Er glaubt daran, dass jeder eine Chance verdient hat.«

»Eine Chance?«

»Auf einen Neuanfang.«

»Er ist ganz … anders als die Zeitungen berichten«, murmelte Mavi.

»Oh ja, da sind die Schreiberlinge wirklich kreativ. Mein persönlicher Favorit ist ‚gnadenloser Eingeweide-Fresser‘«, erklärte Sumiré mit einem Kichern. »Aber du wirst schnell merken, dass er das Herz am rechten Fleck hat. Wir nehmen öfter streunende Seelen auf, du wirst also sicher nicht lange ‚die Neue‘ bleiben.«

Mavi war überrascht, wie einfach ihr die Unterhaltungen mit Sumiré fielen.

»Aber habt ihr keine Angst, dass euch Leute hintergehen? Wenn ihr Treibgut wie mich auflest, das am nächsten Hafen wieder verschwindet? Und der Marine wichtige Informationen verrät?«

Sumiré warf einen Blick über ihre Schulter. Ihre Augen blitzten gefährlich, doch sie trug noch ein Lächeln auf den Lippen.

»Die Klatschpresse übertreibt mit ihren Beschreibungen über Tayons Blutlust. Aber ganz aus dem Nichts kommen diese Berichte nicht.« Mavi schluckte unwillkürlich, doch Sumiré kicherte und klopfte ihr auf die Schulter. »Aber wenn du dich gut benimmst, hast du nichts zu befürchten. Und ich glaube, du bist klug und hast dein Leben lieb.«

Mavi nickte eilig und stieß beinahe mit Sumiré zusammen als diese endlich vor einer Tür stehen blieb.

Die Koje war etwas geräumiger als einige der Hängemattenlager, die sie im Vorbeigehen gesehen hatten. Es gab mehrere unbenutzte Stockbetten, zwei Schränke, einen Spiegel und eine Ecke mit Schemel und Waschzuber.

Ein kleines rundes Bullauge aus Kristallglas, das mit Metallnieten gesichert war, lag nur wenige handbreit oberhalb des Wassers. Wellen schlugen rhythmisch gegen das Fenster. Das Gluckern des Meeres war zu hören, auch wenn das Schiff aus massivem Holz war. Zum Teil schien es bereits mit Metallplatten verstärkt wie die modernen Schiffe. Die sichtbare Nähe zum Meer beruhigte Mavi sofort.

Die Betten waren simpel, aber frei von seltsamen Flecken oder Ungeziefer. Zwar war Mavi immer noch nervös und fürchtete, morgens mit einem Dolch an der Kehle geweckt zu werden, aber der Anblick des Nachtlagers ließ die Müdigkeit alle anderen Gefühle übertönen.

»Da kannst du schlafen«, flüsterte Sumiré und deutete auf die obere Matratze eines Hochbetts. Mavi nickte. »Morgen schauen wir auch mal, ob wir was Passendes zum Anziehen für dich haben. Schlaf gut. Und nur um sicherzugehen: Kein nächtliches Herumschleichen. Es gibt hier keine dritten Chancen«, stellte Sumiré klar.

Mavi bedankte sich und kletterte die Leiter so leise wie möglich nach oben. Sie kuschelte sich ein und konnte ein zufriedenes Seufzen nicht unterdrücken als sie die Decke bis zum Hals hinaufzog.

Sumiré lächelte ihr zu und löschte dann die Laterne, um sich selbst hinzulegen.


Wayland saß an seinem Schreibtisch und ging die Passagierliste des Handelsschiffes durch, auf dem seine kleine Perle sich befunden hatte. Er war ihr das erste Mal vor der Küste Ular Tidurs begegnet und nun war sie auf einem Schiff gewesen, dass von Ular Tidurs südlichster Großstadt Pelabuhan aufgebrochen war. Ohne Zweifel hatte sie ihr Zuhause irgendwo im südwestlichen Radius des Kontinents. Ihr war es gelungen trotz der Gefangenschaft durch die Piraten nicht auszutrocknen, also musste sie Zugang zu etwas Wasser gehabt haben.

Wayland notierte die Tage, das Wetter und die vermutete Route des Schiffes. Seine Befragungen bei den Passagieren hatten nichts ergeben. Kaum jemand erinnerte sich an sie, bis auf eine schwerhörige alte Frau, die nur von ihren schönen Haaren sprach.

Dazu brauchte Wayland keine Hilfe. Ihre grünblauen Augen erinnerten ihn an das Wasser in den Aquädukten der Kaiserstadt. Ein Haar von ihr klebte noch an seiner Uniform. Dicke braune Haare, die ihr Gesicht einrahmten. Dazu die sandfarbene Haut, die langen, schlanken Gliedmaßen und die feinen Konturen ihres Gesichts. Damals waren ihre Haare ihr bis zu den Hüften gegangen, doch nun endeten sie auf Höhe ihrer Brüste.

In seinem Notizbuch hatte Wayland bereits einige Skizzen ihrer Anatomie angefertigt und auch ein aktualisiertes Portrait. Das Haar klebte er dazu. Mit dem Finger fuhr er über ihr Abbild. Er wollte sie nicht verscheuchen oder ängstigen. Damals war er zu jung, zu eifrig, zu naiv gewesen. Heute war er ein anderer Mann, ein angesehenes Mitglied der Marine – mit Geld, Macht und Verstand. Und geduldiger. Er würde ihr ein gutes Leben bieten, sie vor den schmierigen Fingern der Sklavenhändler und Sammler beschützen, die sie in irgendeinem Aquarium wegsperren oder als Attraktion an fahrende Schausteller verscherbeln würden.

Er klappte das Buch zu und warf einen Blick auf seine Apparaturen. Das ständige Piepsen des Radargerätes hatte etwas Beruhigendes. Es hieß, dass sein Kraken weiterhin unterwegs war, dass er die Spur nicht verloren hatte.

Wayland gähnte und streckte seine müden Glieder. Der Tee in seiner Tasse war schon kalt, als er endlich auf der letzten Seite der Passagierliste angelangt war. Im ersten Schritt hatte er alle Männer durchgestrichen, dann alle Namen der Geiseln, die sich zur Zählung gemeldet hatten, die Namen der Toten. Wieder strich er einige Personen von der Liste. Dann blätterte er alle Seiten durch, überflog die Buchstaben bis er schließlich den einzigen Namen fand, der nicht durchgestrichen war.

»Mavi«, las Wayland vor und zog jede Silbe in die Länge, »Mavi also. Meine Mavi …«


Es war wohl der Erschöpfung zu verdanken, dass Mavi erst aufwachte, als jemand sie in die Wange kniff. Mühsam blinzelte sie dem Licht entgegen, das von einer kleinen Laterne ausgestrahlt wurde.

»Aufwachen, Neuling! Hier wird nicht gefaulenzt. Sumiré hat gesagt, ich soll dir in der Waschkammer neue Kleidung geben«, sagte ein Mädchen mit blonden, lockigen Haaren. Ihre Haut war weiß mit einem rosigen Unterton. Ihre Nase und ihre Stirn waren gerötet, vermutlich von der Sonne verbrannt. »Ich heiße Emirea, wie ist dein Name?«

»Ich bin Mavi«, antwortete Mavi verschlafen und rieb sich die Augen.

Sie brauchte einen Moment, um die Ereignisse des letzten Tages zu wiederholen. Eigentlich hätte der Schreck sie umwerfen müssen, aber in ihrem Herzen war nur Resignation? Gleichgültigkeit? Vielleicht war es die Müdigkeit. Oder eine Schockstarre. Eine Seelenärztin hätte ihr bestimmt eine gute Erklärung liefern können.

Sie war an Bord eines Piratenschiffes und würde ein Mitglied der Crew sein bis sie einen Hafen erreichte, von dem aus sie sicher nach Hause konnte.

Würde sie andere Schiffe überfallen müssen? Geiseln herumkommandieren? Kanonen abschießen?

Das entspannte Gespräch des Vorabends mit Tayon und Sumiré wirkte wie ein ferner Traum. Die Lage war verzwickt. Konnte sie zu ihrem alten Leben zurückkehren, wenn das hier vorüber war? Mavi hatte sich als Kind viele Berufe ausgemalt – Körperärztin, Perückenmacherin, Köchin, Entdeckerin. Aber Piratin war nicht auf der Liste gewesen. Andererseits war alles besser als in die Fänge eines grausamen Wissenschaftlers zu geraten oder vor Kälte und Erschöpfung am Meeresboden zu verenden.

Mavi schwang die Beine über die Kante des Bettes und hüpfte herunter. Emirea war gut einen Kopf kleiner als Mavi, sie grinste breit und ihr fehlte ein Schneidezahn. Sie bedeutete Mavi ihr zu folgen und steuerte zielsicher durch die immergleichen Gänge.

»Wie alt bist du Emirea?«, fragte Mavi.

»Ich glaube 15.«

»Du glaubst?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich habe mein Leben lang auf der Launischen Insel zugebracht und immer mal wieder den Besitzer gewechselt, bis Käpt’n Tayon mich eines Tages gerettet hat. Er hat meinem Besitzer den Bauch aufgeschlitzt und mich auf sein Schiff mitgenommen«, erklärte Emirea so unbekümmert als würde sie über das Wetter sprechen.

Mavi wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, aber Emirea schien keine Antwort zu erwarten. Sie machte Halt vor einer kleinen Kammer. Im ganzen Flur roch es angenehm nach Seife.

»Da wären wir. Die Tür rechts daneben ist die Waschküche. Da wirst du sicher auch mal aushelfen müssen.« Emirea entzündete das Licht in der kleinen Kammer und deutete auf das mit Klamotten vollgestopfte Regal. »Nimm dir was du willst. Die alte Kleidung kannst du gleich in die Waschküche geben.«

Mavi suchte zuerst nach frischer Unterwäsche und dachte über Emireas Worte nach.

»Und dir gefällt es hier?«, fragte Mavi vorsichtig.

Sie fand ein dunkelgrünes Oberteil aus leichtem Stoff und einen weiten Wickelrock, der ihr bis zu den Waden reichte. Es fühlte sich gut an, wieder saubere und passende Kleider zu tragen. Die dreckigen Klamotten legte sie in einen Korb in der Waschküche und folgte Emirea.

»Ich weiß, was du andeuten möchtest«, sagte Emirea, »Tayons Befehle muss man befolgen, aber man kann jederzeit gehen. Er lässt jedem eine Wahl. Manchmal bedeutet das allerdings die Planken. Ich habe einige Monate in einer Stadt gelebt und gemerkt, dass ich keine Ahnung habe, wie das geht, was die Leute als ‘ordentliches’ Leben bezeichnen. Hier an Bord kann ich nützlich sein, ich vertraue den Menschen wir sind alle gleich.«

Mavi schmunzelte. »Das klingt schön.«

»Das ist meine Familie und hier gehöre ich hin, auch wenn wir uns nicht immer verstehen oder einer Meinung sind. Wo ist deine Familie, Mavi?«

Die letzte Frage erwischte Mavi wie ein kalter Schwall Wasser. Emireas braune Augen sahen nicht aus wie die eines jungen aufgeweckten Mädchens. Ihr Äußeres täuschte, denn auch wenn ihr Körper jung war, hatte ihre Seele schon Erfahrungen und Schmerzen im Wert eines ganzen Menschenlebens gesammelt.

»Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, meinen Vater habe ich nicht gesehen seit ich fünf Jahre alt war. Ich lebe bei Verwandten«, hörte Mavi sich tonlos sagen.

»Ich hoffe, du findest deine Familie«, sagte Emirea und lächelte wieder. »Na komm. Der Käpt’n hat gesagt, du sollst mir beim Sortieren der Beute helfen.«

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