Читать книгу Das Meer der Legenden - Babsi Schwarz - Страница 6

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Mit schrumpeligen Händen schälte Mavi eine weitere Kartoffel. An ihrem Daumen hatte sich bereits eine Brandblase gebildet.

»Du unfähiger Bengel schneidest zu viel ab«, herrschte ein glatzköpfiger Pirat den schmächtigen Jungen neben Mavi an.

Er zuckte zusammen und schnitt sich in den Finger. Auf das klägliche Häufchen geschälter Kartoffeln zu seinen Füßen tropfte Blut.

»Elender Nichtsnutz«, schimpfte der Pirat, packte den Jungen am Kragen und schleifte ihn mit sich, »Dann geh die Flure und das Deck schrubben, vielleicht taugst du ja dazu etwas.«

Die anderen Gefangenen sahen den beiden besorgt hinterher, eine Frau seufzte. Doch niemand wagte es, zu protestieren, denn in der Ecke des Raumes saß ein weiterer Pirat, der zwar nur noch ein Auge hatte, dieses aber wachsam auf sie richtete. Die Gefangenen mussten unter Deck bleiben und arbeiten, ohne Decken auf dem Boden des Gemeinschaftsraumes schlafen und erhielten nur Reste zu Essen.

»Wir werden alle sterben«, murmelte ein Mann, dessen Hände zitterten.

»Aber bisher haben sich die Piraten doch zurückgehalten«, flüsterte eine Frau neben ihm. »Wir sind seit einer Woche hier. Ich habe bisher nur von ein paar gebrochenen Knochen und blaue Augen gehört.«

»Wie naiv Sie sind, gute Frau«, mischte sich ein anderer ein. »Natürlich halten die Piraten sich noch zurück, bis sie am Übergabeort sind. Sie brauchen schließlich Arbeitskräfte, um zwei Schiffe zu manövrieren. Wahrscheinlich bringen sie uns zur Launischen Insel und verkaufen uns dort ans Kolosseum oder schlimmer noch an irgendein Medizinlabor in Wù. Weiß doch jeder, dass da Menschen bei lebendigem Leibe aufgeschnitten werden.«

Mavi schauderte bei dem Gedanken. Die Erinnerung an kalte Klingen und Instrumente auf ihrer Haut lag nur wenige Jahre zurück. Auch die Frau, die eben noch ruhig gewirkt hatte, wurde bleich.

»Wir sind die Gefangenen von Tayon. Dem Tayon. Seit einigen Jahren ist sein Name ständig in der Zeitung, er entwischt der Marine immer wieder wie ein glitschiger Fisch. Er will uns nur in Sicherheit wiegen. Ich habe allerlei scheußliche Geschichten gehört, wie er Frauen und Kinder …«, raunte ein anderer Gefangener.

»Schnauze!«, herrschte der Wächter sie an und das Gemurmel verstummte.

Mavi kniff die Lippen zusammen, setzte ihre Arbeit fort und schälte heiße Kartoffeln. Ihre Fingerspitzen fühlten sich schon ein wenig taub an. Sie wünschte sich, man hätte sie über die Planke geschickt. Für Mavi wäre es die Rettung, aber für die vielen Familien und älteren Menschen der sichere Tod. Das Meer war im Moment launisch, die Winde trieben das Wasser zu haushohen Wellen, die erbarmungslos jede Jolle verschluckten.

Mavi hasste es, nicht selbst Herrin ihres Kurses zu sein. Mit der Hoffnung, ihren Schmuck gewinnbringend in einer großen Stadt zu verkaufen, war sie an Bord des Handelsschiffes gegangen. Keine drei Tage auf hoher See, dann hatten die Piraten zugeschlagen. Nun hatte sie all ihre Besitztümer verloren. Ob sie ihr Leben behalten durfte, vermochten wohl nur die Staubgötter zu sagen.

Die frische Meeresluft fehlte ihr. Mavi fühlte sich ausgetrocknet wie eine Dörrpflaume. Gewaschen hatte sie sich seit sechs Tagen nicht mehr. Ihr Kopf und ihre Füße begannen bereits zu jucken. Das heiße Wasser der Wäsche, mit dem sie sich absichtlich bespritzte, wenn sie konnte, reichte nicht aus, um ein Gefühl von Sauberkeit zu erzeugen oder ihre Schmerzen zu lindern. Bald würden sich an ihren Füßen und Fingern Brandblasen bilden, dann würde sich die Haut abschälen, anschwellen und unsagbar schmerzen. Wenn sie noch länger vom Meer getrennt war, würde sie hohes Fieber bekommen. Spätestens dann würde irgendjemand Fragen stellen.

Was sollte sie den Leuten sagen? Dass sie krank war?

Ihr Rücken schmerzte, sie saß schon über drei Stunden auf der Stelle und schälte Kartoffeln. Sobald der Bottich voll war, wurden die Knollen weggetragen und nachdem ein kleines Mädchen die Kartoffelschalen mit einem Besen beiseite geschrubbt hatte, musste Mavi von vorne anfangen. Gegenüber saß eine alte, schwerhörige Dame, mit der man sich nicht wirklich unterhalten konnte. Die Stille und die Monotonie machten Mavi zusätzlich müde und ließen ihre Lider schwer werden.

Als endlich alles für das Essen geschält, geschnitten und vorbereitet war, setzte Mavi sich auf. Sie lockerte ihre verspannten Glieder mit einigen Dehnübungen. Die klebrigen Finger wischte sie notdürftig an ihrer ohnehin verdreckten Hose ab. Dann half sie der alten Dame, die offenbar ohne Gesellschaft reiste, auf die Beine und klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken.

Die Tür zur Kombüse schwang auf und alle zuckten zusammen.

»Was für eine stickige Luft!«

Tayon, der Kapitän der Piraten.

Er trug ein dunkelrotes Hemd aus Seide und einen reich verzierten Säbel an seinem Gürtel. Auf den ersten Blick wirkte er freundlich, aber hinter der Fassade lauerte etwas Gefährliches. Mavi erinnerte sich noch gut an den Tag des Überfalls, an dem er einen vorlauten Kaufmann niedergestochen hatte.

Tayon war jung, vielleicht ein paar Jahre älter als Mavi. Seine rötlich braune Haut war von tiefschwarzen Tattoos und Mustern überzogen und die dunklen Haare, die zu langen Locs gerollt waren, reichten ihm bis über die Brust. Dunkelbraune Augen sondierten den Raum wachsam und ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Am rechten Mundwinkel zog sich eine helle Narbe bis unter das Kinn. Offensichtlich belustigte ihn die Furcht seiner Gefangenen. Mavi hätte ihm nur zu gerne die Nase gebrochen. Ihr linker Haken war zwar nicht zu unterschätzen, aber vermutlich hätte sie sich damit selbst mehr geschadet als ihm.

»Jetzt schaut doch nicht so ernst«, sagte er. »Ich habe eine schöne Überraschung für euch.« Er trat näher und teilte die Menge mit einer ausholenden Geste. »Die Hälfte von euch darf sich heute waschen, damit meine Crew nicht vor lauter Gestank eingeht. Schickt zuerst die Kinder und die Alten.«

Zögerlich lösten sich einige ältere Menschen aus der Menge.

»Macht schon«, schnauzte der sitzende Pirat und ein paar weitere Personen sammelten sich. Eltern klammerten sich an ihre Kinder. Der Kapitän kniete sich vor einen Jungen, der sich hinter den Beinen seiner Mutter versteckte und breitete freundschaftlich die Arme aus. »Na kommt schon. Ich bin ganz zahm.«

Der Junge vergrub das Gesicht am Rock seiner Mutter und Tayon trat mit einem tiefen Seufzen einen Schritt zurück. Mavis Kehle war ganz trocken. Die Anspannung im Raum fühlte sich explosiv an. Tayon schritt vor den Gefangenen auf und ab. Die meisten wandten den Blick ab.

»Ihr traut euch nicht recht, oder? Wir haben noch etwas Platz. Frisches Wasser, Seife – das klingt doch herrlich, oder?«

Mavi wägte ab. Würden die Piraten ihr Versprechen halten und die Leute wirklich zu den Waschzubern lassen? Ihre Füße und Hände brannten und juckten so sehr, allein der Gedanke an Wasser ließ einen wohligen Schauer durch ihren Körper fahren. Der Piratenkapitän schnaufte, dann zog er sich ein paar Personen aus der Masse und schob sie bestimmt in Richtung der Waschgruppe. Mavi stutzte, als die alte schwerhörige Dame ihr mit der Hand bedeutete, herüberzukommen. Ihr Puls raste.

»Na komm, du auch«, rief der Kapitän und Mavi zuckte unter seinem unsanften Griff zusammen.

Seine Finger waren rau, seine Haut ganz warm, als wäre er länger in der Sonne gelegen. Ihr Herz beruhigte sich erst, als er sie endlich losließ. Sie drückte erleichtert den Arm der älteren Dame.

Waschen. Was für ein wundervoller Gedanke.

»Korn, ich schick dir gleich Jurd und Derek, dann kannst du dich für heute aufs Ohr hauen.«

»Aye, Käpt’n«, murrte der Hüne auf dem Stuhl.

»Vorwärts Marsch!«, herrschte der Kapitän das Grüppchen an und trieb sie wie Vieh vor sich her.

Im Gang standen weitere Piraten, die meisten breit und muskulös, von der Sonne gebräunt, mit Spuren aus allerlei Schlachten. Niemand aus der Gruppe wagte einen Fluchtversuch zu unternehmen.

Mavi stützte die ältere Dame beim Gehen und hielt die Hand eines kleinen Mädchens mit zerzaustem Haar, das vergeblich versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Durch die engen Gänge tappten sie in die Waschküche des Schiffes.

Die Luft war feucht, Laken und Kleider hingen auf Leinen quer durch den Raum. Eine füllige Frau mit breiten Oberarmen trat zwischen den Zubern hervor. Ihre schwarzen Haare waren zu einem strengen Knoten zurückgebunden. Ihre schmalen Augen waren mit dunklem Kajal umrandet und endeten an ihren Schläfen. Diese Art der Gesichtsbemalung war üblich in Nebelwalden. Offensichtlich hatten die Piraten Leute aus der ganzen Welt eingesammelt.

Wie lange sie wohl schon die Meere bereisten?

Die Piratenangriffe hatten zugenommen seit der berüchtigte Kapitän Kematian vor vielen Jahren einen Großteil der kaiserlichen Flotte an den Tigerklauen-Stromschnellen versenkt hatte. Piraterie versprach große Schätze, Freiheit, Abenteuer … und eine Menge Gewalt. Piraten waren keine Abenteuerhelden wie in den Romanen. Mavi erinnerte sich dumpf an eine brennende Taverne in ihrem Heimatdorf und ein kleines Schiff mit roten Segeln, das bedrohlich im Hafen lauerte.

Sie rieb sich über die juckende Haut.

»Eure schmutzigen Klamotten auf einen Haufen. Jeder bekommt von mir ein Stück Seife. Dann nehmt ihr einen kleinen Zuber und spült euch damit ab. Da hinten liegen frische Sachen. Nehmt, was passt. Alle brav in einer Reihe. Nicht trödeln«, sagte die Piratin und beobachtete mit mürrischer Miene die Waschprozedur.

Niemand sagte etwas, alle waren froh, die verschwitzten Sachen loszuwerden. Die Jüngeren zierten sich ein wenig, aber letztlich siegte der Wunsch nach Sauberkeit über die Scham sich vor Fremden auszuziehen.

Mavi legte mit zitternden Fingern ihre schmutzigen Kleider ab und verzog sich mit ihrem Zuber in eine Ecke. Sie versuchte, sich vor dem Blick der Piratin zu verstecken und seifte sich ein. Der Geruch der Kernseife überdeckte bald den Schweiß, auch wenn sie ihre Füße ziemlich schrubben musste, um den Schmutz abzubekommen. Möglichst langsam und bedächtig wusch sie den Schaum ab, um kein Wasser zu verschwenden.

Das kühle Nass linderte den Schmerz der trockenen, geschundenen Haut. Eine einzelne Schuppe schimmerte verräterisch auf ihrer Haut, doch das gefilterte Meerwasser reichte nicht aus, um die Verwandlung auszulösen, die aus ihrem Unterleib einen Fischschwanz machte. So sah man Mavi nicht an, dass sie nur zur Hälfte ein Mensch war.

Sie hatte einen schlanken Körperbau, lange Beine und angenehme Rundungen. Die üppigen Kurven ihrer Mutter hatte sie leider nicht geerbt. An guten Tagen wellten sich ihre langen dunkelbraunen Haare. Ihre Haut hatte die Farbe von Sand, aber vermutlich war ihr Teint gerade alles andere als frisch. Ihre Nase war lang und spitz, zu groß für ihr Gesicht wie sie fand. Sie benetzte ihr Gesicht mit Wasser, fühlte ein wohliges Schaudern, doch ein Funken Angst blieb. Der Zuber war leer und Mavis Haut juckte und ziepte noch immer. Sie lenkte sich ab, indem sie der älteren Dame dabei half, den Schaum aus dem Haar zu spülen.

»Ich muss schleunigst ins Meer«, murmelte Mavi und suchte sich aus einem Stapel Kleidung ein Wickelkleid und ein Schultertuch.

Sie wurden zurück in den Gemeinschaftsraum geschickt, wo der Boden mit einigen Tüchern und Kissen ausgelegt war. Müde ließ Mavi sich nieder und betrachtete ihre nackten Füße. Sie waren immer noch rot und heiß. Lange würde sie es nicht mehr aushalten. Sie musste es irgendwie ins Meer schaffen. Nur wie?

Mavi hatte gerade die Augen geschlossen und sich zusammengerollt, als wieder einer der Piraten Befehle in den Raum brüllte.

»Hey, faules Pack. Aufstehen! Der Kapitän möchte Gesellschaft«, blaffte ein großer Mann mit einem Schwert am Gürtel.

Seine Haut war weiß wie Kalk und seine Haare rotblond. Er sah aus wie ein Gespenst. Mavi schauderte und versuchte, sich mit der Decke zu verhüllen. Der Pirat zeigte auf ein paar Personen, die angstvoll wimmerten. Doch er brauchte nur seine Hand auf den Schwertknauf zu legen und sie leisteten seinen Befehlen folge. Mavi wich seinem Blick aus.

»Du da. Du auch!«, brüllte er.

Köpfe wandten sich zu ihr und sahen sie besorgt an. Mavi knirschte mit den Zähnen und ihre Knie schlotterten, als sie sich langsam erhob.

Der Kapitän wollte Gesellschaft.

Der blasse Pirat pickte sich junge, gesunde Menschen heraus. In Mavis Kopf spielten sich Horrorszenarien ab. Hatte er deswegen so viele Leute zu den Waschzubern gelassen? Wollte er seine Beute sauber? Mavi würde lieber sterben als sich von diesem Kerl anfassen zu lassen.

Gemeinsam mit acht anderen Menschen wurde sie zur Kapitänskajüte geleitet. Hinter der Holztür war Gelächter und Gerede zu hören, Gläser klirrten und es klang nach einer feuchtfröhlichen Gesellschaft. Mavi sah sich um, suchte nach einer Möglichkeit zu fliehen. Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter.

»Versuch’s gar nicht erst, Mäuschen«, raunte der Pirat, »Der Kapitän ist vielleicht nett zu dir, wenn du ihn so ängstlich anwinselst, aber das gilt nicht für mich.«

Mavi biss sich auf die Lippe, eine andere Frau wimmerte. Der Pirat stieß die Tür auf, warme Luft schlug ihnen entgegen. Der Raum war voller Menschen und in der Mitte saß der Kapitän breitbeinig auf einem Sofa.

Tayon trug einen prächtigen Hut, den er sicherlich einem Kaufmann entwendet hatte. Das rote Seidenhemd war aufgeknöpft und gab den Blick auf seine muskulöse Brust frei. In seinen Armen lag eine leicht bekleidete Frau und aß Trauben.

Mavis Mund wurde zu einem Strich. Ekel überkam sie, ließ ihren Magen schwer wie einen Stein werden. Sie ballte die Hände zu Fäusten, ihre Fingernägel drückten sich schmerzhaft in ihren Handballen.

Wenn dieser Widerling sie irgendwo anfasste, würde sie ihm die Hand abbeißen.

Sein Blick traf Mavi und er lächelte.

Das Meer der Legenden

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