Читать книгу Das Meer der Legenden - Babsi Schwarz - Страница 9

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Die Kanonenkugeln donnerten über das Schiff hinweg. Nur um Haaresbreite schossen sie an ihrem Ziel vorbei, unter dem Steg, dem queren Balken, an dem das Hauptsegel befestigt war, hindurch. Tayon duckte sich als eine Kugel das Schiff knapp verfehlte und in einiger Entfernung ins Meer einschlug. Die Explosion riss ein Loch in die Wellen und das Wasser spritzte meterweit.

»Die Mistkerle sind hartnäckig«, fluchte Derek.

Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um, versuchte die Schäden abzuschätzen, die am Schiff entstanden waren. In den engen Hafenbecken von Port Bravidor hatten mehrere Kanonenkugeln ihr Ziel getroffen. Die Staubgötter mussten ihnen gewogen sein, dass diese waghalsige Flucht aufs offene Meer hinaus gelungen war, nachdem die Marine schon mit Enterhaken und gezogenen Säbeln an Bord gestanden hatte.

»Das ist Barrys Schiff, der hat ein persönliches Anliegen mit mir. Vor allem, nachdem ich ihn vorhin mit meiner Faust von Bord befördert habe. Leider scheinen seine Leute ihn aus dem Meer gefischt zu haben«, sagte Tayon mit einem Lachen und spähte mit dem Fernrohr auf das kleiner werdende Schiff der kaiserlichen Marine.

»Wenn wir keine Kugel mehr kassieren, haben wir sie bald abgehängt«, sagte Korn, während er das Steuerrad herumriss, um mit dem Wind zu fahren.

»Das lief fast schon zu gut diesmal, oder?«, spottete Skip und erntete einen finsteren Blick von Korn, dem der Schweiß von der Stirn lief.

»Dafür, dass die Marine uns im Hafen überrascht hat? Auf jeden Fall«, antwortete Tayon und bemerkte zufrieden, wie das andere Schiff beidrehte.

Mit nur zwei Masten waren sie deutlich unterlegen, doch Tayon wusste, dass Barry wie ein tollwütiger Hund war, der sich an seiner Beute festbiss. Tayon tastete nach seiner verwundeten Schulter. Sein Hemd war nass vom Blut.

»Es ist wahrlich ein Wunder, dass wir da rausgekommen sind«, knurrte Korn finster.

»Wenn ich einen Sandschlecker wie Barry mit meinem Schlag über Bord befördern darf, ertrage ich gerne die ein oder andere Blessur.«

Tayon wusste, dass es knapp gewesen war. Ein paar Kanonenkugeln, Enterhaken und Marinesoldaten mehr und es wäre nicht so glimpflich ausgegangen. Zum Glück liebte Barry dramatische Auftritte und hatte seine Leute zurückgehalten. Tayon hoffte, dass der gezielte Schlag ins Gesicht ihm die Nase gebrochen hatte.

Der Wind blähte ihr Segel auf und schob sie weiter über die Wellen. Bald würde das Marineschiff nur noch ein Staubkorn am Horizont sein. In der Ferne konnte man bereits die dichte Nebelwand erahnen, die den Eingang zu den Gewässern markierte, die man die Ungeheuren Quellen nannte. Gefährliches Terrain, gefüllt mit Geschichten von riesigen Monstern, Mahlströmen und Stürmen. Und perfekt, um lästige Verfolger abzuhängen.

»Lass die Wunde lieber verarzten, auch wenn es ein glatter Durchschuss ist«, meinte Skip zu Tayon.

Derek schnappte sich das Fernrohr und nickte dann. »Jepp, scheint, sie haben uns aufgegeben. Wir können uns vorerst entspannen.«

Korn atmete auf und streckte sich.

»Ich könnte jetzt einen Krug Rum und ein Fladenbrot vertragen«, brummte er und überließ Skip das Ruder.

Tayon schlurfte widerwillig ins Lazarett und ließ sich von Sumiré verarzten. Sie drückte ihm einen alkoholgetränkten Lappen gegen die Wunde, ehe sie diese mit zwei Stichen zunähte. Er zischte und verzog das Gesicht vor Schmerz.

»Du hast mal wieder Glück gehabt. Scheint die Staubgötter können noch eine Weile auf dich verzichten«, murrte Sumiré, während sie Tayons Schulter mit Mullbinden umwickelte.

»Aber kein Glück mit den Frauen«, brummte Tayon und seufzte schwer. »Unsere süße Fieberpatientin wollte sich uns nicht anschließen.«

Sumiré betrachtete mit einem Schmunzeln die filigran geschmiedete, mit Muschelsplittern verzierte Kette um ihr Handgelenk.

»Vielleicht ist das besser so. Sie schien mir recht starrköpfig. Und du weißt, wie es mit deiner letzten Flamme in der Crew lief. Eine so gute Späherin wie Carmen werden wir nie wiederfinden.«

»Gibst du mir immer noch die Schuld daran, dass sie abgehauen ist?«, fragte Tayon und atmete scharf ein, als Sumiré den Verband fest anzog. »Ich kann doch nichts dafür, dass sie mehr von mir wollte als ich ihr geben konnte.«

»Jaja, spar mir das Gesäusel. Ich weiß, dass du lieber ungebunden bist. Vielleicht wäre es besser ausgegangen, wenn du Carmen gegenüber wenigstens offen gewesen wärst. Liebe ist nicht die Fußfessel, für die du sie hältst.«

Sumiré wusch sich die Hände und räumte ihre Utensilien auf, während Tayon prüfend seine Schulter kreisen ließ.

»Danke für den Vortrag. Ich denke, Carmen hätte es nicht verstanden. Wenn sie etwas wollte, hat sie es sich genommen.«

Sumiré seufzte schwer und Tayons Brauen verzogen sich voller Sorge als er merkte, dass diese Konversation nicht das übliche, geschwisterliche Gezanke war, dass sie seit ihrer Kindheit begleitete.

»Aber genug von mir. Dich bedrückt doch irgendwas, oder?«, fragte er.

»Ich sorge mich um dich«, sagte Sumiré und sah ihn an. Tayon schluckte, denn ihr Blick war klar und voller Traurigkeit. »Manchmal scheint es mir, dass du alle Wurzeln so verabscheust, dass du im nächsten Moment einfach davonfliegen und nie zurückkehren könntest.«

Tayon rieb sich die Stirn und dachte einen Moment über ihre Worte nach. »Das stimmt nicht. Ich habe Wurzeln und die sehe ich nicht als Fesseln. Im Gegenteil. Ohne euch wäre ich aufgeschmissen! Du und Skip. Unsere Mütter in Umbuye. Derek, André und Korn, Chi. Euch kann ich jederzeit bedingungslos vertrauen.«

»Trotzdem merke ich, dass du dich in letzter Zeit von der Crew abkapselst. Das mit Carmen hat alte Wunden aufgerissen, oder? Die Fessel war nicht wirklich Carmen, sondern deine Erinnerung an die Sache mit Bonny. Tay, du musst das loslassen. Du gibst dich offen, aber dein Vertrauen wächst nur langsam, weil du es nicht gießt, sondern den Boden absichtlich trocken hältst.«

Sumirés Worte waren wie der Schlag gegen eine große Glocke, deren Hall noch Stunden später zu hören war. Es kribbelte unangenehm auf Tayons Haut und er rieb sich den Nacken.

»Vielleicht hat mich das mit Carmen mehr mitgenommen, als ich zugeben möchte. Aber es hätte auf Dauer nicht funktioniert mit uns. Dafür waren wir beide zu feurig, zu aufbrausend.«

»Und das sagst du? Der sonst immer alles ausprobieren möchte, bevor er es verurteilt? Der sich auf jeder Insel neu verliebt, weil er so hungrig auf Menschen und das Leben ist? Der jedem Streuner eine Chance gibt, sich an Bord zu beweisen? Hast du dir die Finger verbrannt?«

»Vielleicht. Sie war … Bonny zu ähnlich. Sie waren beide so übersprudelnd. Rücksichtslos irgendwie, aber auf eine charmante Art. Ich hatte das Gefühl ihr hinterherzulaufen, ohne sie je erreichen zu können. Und die Angst kam zurück. Dass ich hilflos zurückbleibe, während sie sich ins Unglück stürzt. Damals konnte ich nichts tun. Ich war leichtsinnig, zu langsam, zu gutgläubig. Ein einzelner Fisch wie ich kann nicht mit so einer Flutwelle mitschwimmen. Und Bonny hat den Preis dafür bezahlt, dass sie sich mir anpassen wollte.«

Tayon seufzte und Sumiré sah ihn mitfühlend an.

»Ich liebe es nach neuen Ufern und Schätzen zu jagen. Aber ich will keinen Personen mehr nachjagen«, sagte er schließlich. »Ich möchte jemandem, mit dem ich reden kann, vollkommen offen. Und diese Art von Leuten in meinem Leben kann ich an einer Hand abzählen. Du hättest ohnehin kein Interesse an mir und ich sehe dich als Schwester. Aber, sieh dich an, Sumiré. Ich bin jetzt schon neidisch auf die Frau, die eines Tages den Segen erhält, von dir geliebt zu werden.«

Sumiré schmunzelte und ihre Züge wurden weicher. Tayon fühlte sich zerschlagener als vor ihrer Behandlung, aber sie schien zufrieden mit den Antworten, die sie bekommen hatte. Er wusste, dass sie es gut meinte und dass ihre direkten Worte oft erst Tage später ihre heilende Wirkung entfalteten.

»Spann sie mir dann ja nicht aus, du Weltenbummler«, scherzte Sumiré.

»Ich werde mich zusammenreißen.«

Zum Glück waren nicht alle Crewmitglieder so redselig wie Sumiré. Tayon sehnte sich nach Ruhe. Als er sich einen Teller mit Linseneintopf holte, nickte Chi ihm nur zu. Emirea und Lauchlin wuselten durch den Gemeinschaftsraum und räumten die Reste von dem Essen auf. Korn schnarchte in einer Hängematte vor sich hin, sein Fladenbrot lag angebissen auf seinem Teller. Es gab genug zu tun, der Großteil der Crew verrichtete wieder die alltäglichen Arbeiten.

»Ein Fenster an Andrés Gewächshaus hat wohl einen Sprung bekommen und er ist ganz aufgebracht deswegen. Ich wünschte, er würde mir erlauben einen Blick hinein zu werfen. Ich bin schon fast ein Jahr hier«, quengelte Emirea und beäugte Korns angebissenes Fladenbrot mit kritischem Blick.

Sie entschied sich dafür es ihm auf den Bauch zu legen und den Blechteller einzusammeln. Lauchlin lächelte entschuldigend und Tayon stocherte in seinem Eintopf.

Kaum jemand an Bord wusste, dass André in der Lage war Magie zu wirken. In dem Gewächshaus würden ohne sein Zutun kaum mehr als ein paar mickrige Rüben wachsen. Wie so viele seiner Zunft hielt er seine Begabung geheim. Das Risiko vom Kaiser und seiner Armee zwangsrekrutiert oder auf dem Sklavenmarkt an irgendeinen reichen Adeligen verschachert zu werden war zu groß. Es gab nur wenige magisch begabte Personen, die ihre Macht offen zur Schau stellten. Tayon wusste, dass Skip diesen unheimlichen Fluchweber auf der Launischen Insel jedes Mal aufsuchte, wenn sie dort vor Anker lagen.

Ob Tayon ausprobieren sollte Barry zu verfluchen? Aber eigentlich wollte er dem Sandschlecker höchstpersönlich die Kehle herausreißen für all die Leben, die er bereits genommen hatte. Und für die Narben.

Tayon ließ prüfend die Schulter kreisen. Mit ein wenig Ruhe würde es schon wieder gehen. Sein Kopf schwirrte. Er hatte noch keine Zeit gehabt, die Beute zu sichten.

Ob der Kompass dabei war, wegen dem sie genau dieses Handelsschiff überfallen hatten? Ob es ein Kompass war, der nicht nach Norden zeigte, wie in den Geschichten? Der Stoff der Legenden, die Märchen seiner Kindheit, die ihn auf die See getrieben hatten?

Ein ferner Traum, weit weg von der dreckigen und harten Realität. Bonny wäre hoffentlich stolz auf ihn.

Tayon rieb sich über das Gesicht, wischte die Erinnerung weg. Korn murmelte etwas neben ihm, ehe er genüsslich schmatzte und weiter schnarchte. Vielleicht würde Tayon eine Mütze voll Schlaf auch ganz guttun.

Das Meer der Legenden

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