Читать книгу Das Meer der Legenden - Babsi Schwarz - Страница 11

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Tayon zog Mavi mit sich und sie bemerkte, dass er ein breites Grinsen im Gesicht hatte. Auch, wenn sie ihm nicht vertrauen konnte, hatte sie bei ihm ein besseres Gefühl als Wayland. Langsam wich die Anspannung aus ihrem Körper und die Erschöpfung setzte ein.

»Skip, sagst du Sumiré Bescheid? Ich hoffe, du hast dich an den Haferflocken nicht schon satt gegessen, Mavi. Wir haben Grund zu feiern! Ein erfolgreicher Beutezug, sprich jede Menge Schätze und Reichtümer. Und mal wieder sind wir Guivante Junior vor der Nase weggefahren, dem elenden Sandschlecker.«

Mavi nickte nur verwirrt und versuchte sich die Gänge des Piratenschiffes einzuprägen. Es war weitaus kompakter als die massive Sankt Ignatia oder das Passagierschiff. Die Flure waren enger geschnitten, an den Wänden hingen Taue und Waffen anstatt kostbarer Malereien. Hinter geöffneten Türen erspähte Mavi zahlreiche Kojen mit Stockbetten und Hängematten.

Die Kapitänskajüte befand sich am Heck und war geräumiger als die meisten Räume, es gab sogar große Glasfenster, hinter denen der Ozean inzwischen so dunkel war wie der Nachthimmel.

»So, da wären wir«, sagte Tayon und machte eine auslandende Geste, »Mein Refugium.« Er ließ Mavis Hand los, doch sie wagte nicht, einen Fluchtversuch zu unternehmen.

Die Kajüte war geräumig und hell. Neben einem großen Tisch mit Karten, Messgeräten und allerlei Plunder befand sich dort auch ein Matratzenlager mit Kissen und Vorhängen. Tayon schloss die Tür und räumte den großen Tisch frei. Die Einrichtung war bunt zusammengewürfelt. Von der Decke hingen allerlei Amulette und Ketten, einige halb zerrissene Flaggen zierten die Wände als Trophäen von Streifzügen. Vor den Fenstern klimperte ein Windspiel aus Hölzern, Murmeln und Münzen im Nachtwind. Es schien eine Art Talisman zu sein.

Aus einem Sekretär mit feingeschliffenen Glastüren holte Tayon mehrere Gläser und Teller, die nicht zusammenpassten. Kunstvolle Töpferware aus Nebelwalden, aufwändige Glaskunst aus dem nördlichen Tigerfell und robuste Holzschalen von den Mangrovenbäumen des Schildkröten-Archipels.

Das Zimmer eines Reisenden.

Mavi konnte nicht umhin, ein wenig Neugier zu verspüren als sich ihr Verstand all die Abenteuer ausmalte, bei denen diese Gegenstände ihren Weg in Tayon in die Hände gefallen waren. Doch vermutlich war die Realität grausam und blutig, mahnte ihr Verstand zur Vorsicht. Wie viel davon wohl geraubt und aus toten Fingern gerissen worden war?

»Setz dich, Mavi«, sagte er.

Zögerlich ließ sie sich auf einem gemütlichen Stuhl mit dicken Polstern nieder. Sie atmete tief durch und merkte, wie die bleierne Müdigkeit sie überkam. Mit der Erschöpfung schwappte aber auch die Verzweiflung in ihren Geist.

Die Angst. Die Erkenntnis, was alles geschehen war.

Wayland suchte nach ihr. Ein halbes Jahr Arbeit an Schmuckstücken befand sich in der Hand der Piraten. Sie war dem Willen dieser Crew ausgeliefert. Zuhause würde sie vor dem Nichts stehen, ständig mit der Angst vor Wayland im Nacken. Falls sie wieder nach Hause kam. Falls sie das hier überlebte.

Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie schaute auf ihre Hände, fuhr die Furchen und Linien nach. Am Zeigefinger hatte sie eine kleine Narbe vom Löten eines Schmuckstücks. Ihre Mutter hatte ihr früher spaßeshalber die Zukunft aus der Hand gelesen. Die Bewegungen nachzuahmen beruhigte Mavi ein wenig, doch ihre Tränen quollen bereits über.

Polternde Schritte näherten sich und die Tür flog auf.

»Tayon«, rief Sumiré und kam mit eiligen Schritten ins Zimmer. Als Sumiré sah, dass Mavi weinte, baute sie sich vor ihrem Kapitän auf. »Was hast du mit ihr angestellt?«

Tayon machte große Augen und sah von Mavi zu Sumiré und wieder zu Mavi.

»Ich habe nichts gemacht! Außerdem hat sie sich unerlaubt an Bord geschlichen, ich kann sie ja jetzt schlecht auf Händen hier herumtragen. Ich habe ihr Essen angeboten und ein Gespräch. Und ich habe ihr versprochen, ihr nicht weh zu tun. Ich … Äh … Skip hat ihr das Messer an den Hals gehalten«, erklärte er kleinlaut.

Er legte das Besteck beiseite und kam zu Mavi, die zwar ihr Schluchzen unterdrücken konnte, nicht aber die dicken Tränen, die ihr über die Wangen kullerten.

»He, Mavi, es tut mir leid. Niemand wird dich aufknüpfen oder über Bord werfen«, sagte Tayon. Er tätschelte unbeholfen ihren Rücken.

»Bah, Pfoten weg!«, fauchte Sumiré und ging vor Mavi in die Knie, »Mavi heißt du also? Geht es dir gut? Wie bist du hierhergekommen?«

Mavi schniefte und sah Sumiré in deren Blick nichts als Güte lag.

Die Wahrheit kann ich doch unmöglich erzählen!

Sie schluchzte auf. Tayon warf Sumiré einen hilflosen Blick zu, dann ging er um den Tisch und begann in den Schubladen zu wühlen. Sumiré tätschelte Mavis Hände und flüsterte ihr beruhigende Worte zu.

»Alles wird gut, Mavi. Du bist ja ganz kalt. Du willst mir doch nicht wirklich sagen, dass du gestern Nacht in deinem Zustand noch an Bord geklettert bist?«, sie wandte sich an Tayon, »Ich glaube, du solltest mal ein ernstes Wörtchen mit den gestrigen Wachposten reden, Tayon. Und was bei der Gnade der Staubgötter machst du denn da?«

Tayon kam mit einer Decke und zwei Gläsern zurück zum Tisch. Die kuschelige Decke aus samtigem Stoff legte er Mavi um die Schultern wie einen Umhang, anschließend nahm er eine Flasche und goss eine gelbliche Flüssigkeit in das Glas.

»Hier, trink das.«

»Tayon, ist das dein Ernst? Du solltest lieber einen Tee aufsetz-«, begann Sumiré, doch da griff Mavi bereits nach dem Glas und leerte es in einem Zug.

Es war Rum, der süßlich, aber im Nachgeschmack würzig schmeckte und brennend ihre Kehle hinabrollte. Die Wärme hatte etwas Beruhigendes. Mavi atmete tief durch und wischte sich die Tränen weg. Tayon schnaubte amüsiert, schenkte nach und setzte sich auf ein Kissen zu ihren Füßen.

»Keine Sorge, du kannst es uns erzählen«, sagte er und lächelte so warmherzig, dass Mavi sich für einen kurzen Moment gerne in seine Arme geflüchtet hätte.

Doch sie wischte den Gedanken und die Wahrheit beiseite. Sie musste ihr Geheimnis bewahren, sonst würde sie als Attraktion auf dem Sklavenmarkt landen.

»Es gibt jemanden in Port Bravidor, der mir nach dem Leben trachtet. Deswegen bin ich gestern Nacht heimlich aufs Schiff geklettert. Es tut mir leid«, sagte Mavi.

Die eilig erfundene Ausrede war lückenhaft, aber die Piraten schienen gutgläubig zu sein.

Sumiré lächelte mitleidig und rieb Mavis Hand. »Ach Liebes.«

Tayon trank geräuschvoll sein Glas leer und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Ein Kerl?«

Mavi nickte. »Ich will nichts mit ihm zu tun haben, aber er ist wie besessen von mir.«

Sumiré stand auf und nahm sich ebenfalls ein Glas Rum. »Widerlich. Es gibt zu viele Männer dieser Sorte.«

»Wer kein Nein akzeptieren kann, ist ein Arschloch. Wäre er hier, würde ich ihn mit einem Amboss am Fuß im Meer versenken«, schnaubte Tayon ungehalten und schenkte sich nach.

Mavi beobachtete die beiden stumm, froh darüber, dass niemand ihre Geschichte anzuzweifeln schien. Das Lügen fiel ihr leicht, sie war daran gewohnt, Ausreden zu erfinden. Warum sie nicht mit den anderen Kindern im Dorf schwimmen gehen konnte. Warum sie nicht mit ihren Freundinnen das Badehaus besuchte. Und die besten Lügen trugen - wie diese Ausrede - einen winzigen Funken Wahrheit in sich.

Vielleicht war es die Erschöpfung, vielleicht der Rum oder Sumirés Anwesenheit, die Mavi beruhigten. Die Piratin hatte schon bei ihrer ersten Begegnung Gelassenheit und Zuversicht ausgestrahlt. Eine Präsenz, die den ganzen Raum erfüllte wie ihr Duftöl mit Vanille und Mandeln. Wunderschön war sie ebenfalls.

Heute trug Sumiré ein buntgemustertes Tuch als Haarband, mit dem sie ihre dichten schwarzen Haare aus dem Gesicht hielt. Ihr luftiges Kleid aus orangefarbener Seide floss locker an ihren Kurven hinab. Ihre Hautfarbe war etwas heller als Tayons.

Mavi war nicht entgangen wie vertraut die beiden miteinander umgingen. Ob sie wohl ein Liebespaar waren? Mavi schätzte sowohl Sumiré als auch Tayon ungefähr auf Mitte zwanzig, ein paar Jahre älter als sie selbst.

Tayon wirkte aufgrund seiner Körpergröße, der Muskeln, Tattoos und Narben erfahren, als würde er schon viele Jahre zur See fahren. Sein linker Arm war komplett mit Motiven der Seefahrt bedeckt. Schiffe, Schatztruhen, Wellen, Anker, Seile und ein Kompass aus Tinte zierten seine rotbraune Haut.

»Wohin segelt ihr jetzt?«, fragte Mavi und zog die Decke enger um sich.

Tayon klopfte auf den Tisch und hob sein Glas an. Erst jetzt bemerkte Mavi, dass der Holztisch mit einer großen Weltkarte bemalt war. In der Ecke, auf die Tayon gedeutet hatte, befanden sich Wolkenschwaden und die Darstellung eines Seeungeheuers mit leuchtend roten Augen und furchterregend großen Zähnen.

»Die Launische Insel sagt dir was? Sie liegt südlich von Nebelwalden und ist ein großer Umschlagplatz für Diebesgut und illegale Waren. Da werden wir erst mal ein bisschen was von der Beute verhökern. Dass manche Leute so viel Geld für Perücken ausgeben. Tss.«

Mavi hörte seinen Beschwerden über die Haarmode am Festland nur halbherzig zu. Sie hatte bisher nur Legenden über die Launische Insel gehört. Kein Kartograph hatte ihre Lage je genau festlegen können. Mal würde sie sich näher an der Küste zu Sonnenfels befinden, mal in der Mitte zwischen zwei Kontinenten.

Nebelwalden und seine Umgebung waren – wie der Name bereits verriet – neblige Gewässer und Inseln. Die dichten Schleierwolken erschwerten die Orientierung an den Himmelskörpern. Riffe und Felsen bemerkte man erst im letzten Moment, unmöglich ihnen auszuweichen. Nicht selten retteten sich Piraten vor der Marine in diese Gewässer, nur um dort auf ewig zu verschwinden.

Angeblich befand sich auf der Launischen Insel auch ein Vergnügungsdistrikt, vor dem die Erwachsenen die Kinder in gruseligen Gutenachtgeschichten warnten.

Wenn du unartig bist, verkaufen wir dich an das Launische Kolosseum, da wirst du gegen dreiäugige Löwen kämpfen und mit stinkendem Fisch beworfen.

Und dort befand sich ein großer Sklavenbazar. Mavi schauderte.

»Ist eben ein Zeichen von Reichtum für die Aristokraten mit all den aufwändigen Flechtkünsten und eingewobenen Perlen«, meinte Sumiré schulterzuckend zu Tayon und wandte sich dann an Mavi, »Jedenfalls wollen wir danach nordwärts segeln.«

»Bei guten Bedingungen und ohne Komplikationen könntest du frühestens in drei bis vier Wochen an Nebelwaldens Küste von Bord gehen. Die Alternative wäre, dass du versuchst von der Launischen Insel aus wegzukommen. Aber da ist man besser nicht allein unterwegs. Meiner Erfahrung nach meiden gute Menschen diesen Ort.«

Mavi warf einen prüfenden Blick auf die Karte. Von Port Mìmì aus, das an einer langen schmalen Landzunge in Nebelwalden lag, war es nicht weit bis zu ihrem Heimatdorf. Die Hafenstadt Pelabuhan, von der das Handelsschiff abgelegt hatte, wollte Mavi umgehen. Nur für den Fall, dass Wayland weiter nach ihr suchte. Bei gutem Wetter und ausgeruht könnte sie die Strecke von Port Mìmì zu ihrem Dorf innerhalb von drei Tagen schwimmen. Eventuell gab es auch Fischerboote, die sie ein Stück mit hinausnehmen konnten. Mavi sah auf ihre nackten Zehen hinunter. Ihr Magen knurrte erneut.

»Was sind eure Bedingungen?«, fragte sie zerknirscht. Sie hatte nicht wirklich eine Wahl.

Tayon schnaubte amüsiert.

»Was denkst du denn? Du wirst mitanpacken müssen. Wäsche waschen, Kochen, Segel hissen, Böden schrubben. Wir werden dich die ersten Tage im Auge behalten, aber diesmal musst du nicht auf dem Boden schlafen oder tagtäglich Haferschleim essen. Wir brauchen nur noch einen Schlafplatz.«

»Sie kann bei Chi Shuah und mir schlafen«, antwortete Sumiré sofort, »Und den Rest besprechen wir morgen. Ich bin müde, Mavi hat Hunger und du solltest dich mit deiner Schulter auch ausruhen, Tay. Ich frage Chi, ob noch etwas vom Hähncheneintopf da ist.«

»Und, Mavi, bist du einverstanden?«, fragte Tayon.

Mavi zögerte. Die Piraten steuerten eine Insel an, auf der Sklaven gehandelt wurden. Sollte sie sich morgen früh von Bord schleichen? Oder das Angebot der Piratenbande annehmen? Wenn ja, wie sollte sie sich ungesehen ins Wasser begeben, damit sie nicht austrocknete?

Wenn jemand bemerkte, dass sie eine Nixe war, würde man sie sicher an das Launische Collosseum verkaufen. Aber der offene Ozean, unbekannt und weit entfernt von ihrer Heimat, wäre ebenso tödlich. Drei, vier Wochen an Bord. Das würde sie schon durchstehen, oder?

Die Erschöpfung legte Mavis ganzen Körper lahm, machte das Denken und ihre Augenlider schwer wie Felsen.

»Danke. Ich weiß eure Hilfsbereitschaft zu schätzen. Ich werde mich nützlich machen«, sagte sie.

Ein Friedensangebot auf Zeit. Wenn sie ausgeschlafen war, würde sie sich einen Plan überlegen.

»Gut, dann hol ich uns was zu Essen. Ihr bewegt euch nicht von der Stelle«, mahnte Sumiré und eilte davon.

Tayon ließ sich wieder auf dem Kissen zu Mavis Füßen nieder. Diesmal trank er direkt aus der Flasche. Als er hinter sich griff, um eine Schüssel mit Trauben zu holen, zuckte er kurz zusammen. Die Bewegung tat seiner einbandagierten Schulter nicht gut. Der Verband hatte einen rostbraunen Fleck von vertrocknetem Blut und nun sickerte frisches Rot hindurch. Tayon schnalzte genervt mit der Zunge und aß eine Handvoll Trauben.

»Wie ist das passiert?«, fragte Mavi, da ihr die Stille unangenehm war.

Tayon sah zu ihr und kratzte dann am verblassten Etikett der Rumflasche.

»Die kaiserliche Marine lag aus unerfindlichen Gründen nahe Port Bravidor vor Anker. Deren schnellstes Einsatzschiff, die Viva Ilona kam uns ziemlich nah. Also bin ich mit ein paar Leuten rüber und hab dem Junior von Flottenadmiral Guivante die Nase gebrochen. Aber im Gegenzug habe ich leider eine Kugel in die Schulter kassiert. Von hinten. Feige Hunde! Trotzdem konnten wir eines ihrer Segel beschädigen und einige Leute kampfunfähig machen. Sie sind uns noch eine Weile gefolgt, aber letztlich haben wir sie dann abgehängt. Der Wind war auf unserer Seite. Diese Kämpfe mit der Marine sind die unschöne Seite des Piratenlebens. Aber unsere Reisen und die Abenteuer sind es wert. All die Orte, die wir bereisen, die Menschen, die wir treffen. Das gute Essen!«

Mavi musste lächeln, weil sie an einen Koch aus ihrer Heimat dachte, der vor einigen Jahren ein köstliches Apfelkuchenrezept aus Tigerfell mitgebracht hatte.

»Um die Marine musst du dir übrigens keine Sorgen machen«, erzählte Tayon weiter und deutete auf seine Schulter, »Die wagen sich nur selten in die nebligen Gewässer. Es gibt noch Ecken in unserer Welt, die der Kaiser nicht unter seiner Fuchtel hat.«

»Mhm. Tut deine Schulter … sehr weh?«, fragte Mavi, weil sie nicht wusste, was sie sonst zu Tayons Erzählung sagen sollte.

»Wenn du lächelst, ein bisschen weniger«, meinte er mit einem Zwinkern. Mavi verzog angewidert das Gesicht und Tayon gluckste amüsiert. »Dein Gesicht ist ehrlich, das mag ich. Der Spruch war echt schlecht.«

Sein Lachen war laut und ansteckend. Mavis Mund verzog sich unweigerlich zu einem Lächeln. Polternd schwang die Türe auf und Sumiré kam mit zwei dampfenden Tellern herein.

»So, ihr beiden esst jetzt erstmal eine Portion und kommt wieder zu Kräften.«

Das Meer der Legenden

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