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9. Der Handel.

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Vierzehn Tage waren verstrichen, vierzehn schöne, kurze Wintertage, ohne daß auch nur ein Wölkchen während der ganzen Zeit den Himmel getrübt hätte. Heller, klarer Sonnenschein wechselte regelmäßig mit mildem Mondlichte und geheimnißvollem Sternengefunkel ab; aber trotz Sonnenscheins und lieblicher Himmelsbläue schlummerte die Natur unter ihrer schweren, weißen Schneedecke so fest, als ob sie nie wieder habe erwachen wollen.

Auch bei den Menschen hatten die gewöhnlichen Wechsel stattgefunden. Hier war Jemand gestorben; dort hatte ein junger Weltbürger zum ersten Male das Tageslicht erblickt; Herr Seim hatte mit Thränen der tiefsten Rührung in den Augenwinkeln die Weihnachtsgaben von den frommen Gönnerinnen seiner Anstalt in Empfang genommen, hatte in einem ergreifenden Artikel in den verbreiterten Zeitungen die Freude seiner beglücken Lieblinge geschildert und im Uebermaße von Dankbarkeit sich sogar einzelne Andeutungen, wie: »Frau Geheime Commissionsräthin X. nebst Tochter,« »Frau Gräfin C ...,« erlaubt; mehrere Bälle waren in den vornehmsten Häusern der Stadt gegeben worden, und tausend andere derartige wichtige Ereignisse und Begebenheiten, die gerade fällig, hatten die gewohnten und gewöhnlichen Wechsel in dem alltäglichen Leben bewirkt.

Aber auch von manchem ungewöhnlichen Wechsel der Dinge wäre zu erzählen gewesen, wenn man sich nur die Mühe gegeben hätte, danach zu forschen; von Veränderungen und Verwandlungen, so groß und merkwürdig, daß man beim Anblicke derselben seinen eigenen Augen kaum traute und sich verwundert fragte, wie es denn eigentlich möglich sei.

Eine derartige gründliche Umwandlung machte sich indessen nirgends in höherem Grade bemerklich, als in der kleinen Hofwohnung des verrufenen Hauses, welche Doctor Bergmann und Renate vierzehn Tage früher als eine Entsetzen erregende Höhle kennen gelernt hatten.

Die Wände waren freilich noch die alten und nichts weniger, als in baulichem Zustande, eben so der Fußboden und der kleine Feuerherd; allein eine ganz andere Atmosphäre herrschte in dem Gemache, eine Atmosphäre, von der man kaum zu entscheiden wagte, ob sie von dem regelmäßigen Durchlüften und künstlichen Erwärmen herrühre, oder von der übrigen Einrichtung, die, obwohl sehr einfach, doch der Räumlichkeit einen gewissen Charakter des Wohnlichen verlieh.

In dem Winkel, der als der am mindesten feuchte erkannt worden war, stand ein sauberes Bett, und neben diesem ein kleineres, beide mit Matratzen, Kopfpfühlen und Decken zur Genüge versehen.

Ein Tisch, eine Commode, ein Vorrathsschränkchen und vier Stühle standen außerdem noch an den Wänden umher, und leicht entdeckte man, daß Kasten und Fächer nicht leer waren, sondern eben so wohl Kleidungsstücke und die unentbehrlichste Wäsche, als auch gesunde und nahrhafte Speisevorräthe enthielten.

Die Sachen waren allerdings nicht mehr neu, doch entsprachen sie ihrem Zwecke vollkommen, und es gehörte eben kein großer Scharfsinn dazu, zu errathen, daß die einzelnen Gegenstände mit weiser Sparsamkeit, augenscheinlich, um recht weit mit einer bestimmten Summe zu reichen, ausgewählt worden waren.

Die Frau selbst, obwohl noch immer das Bild einer Schwerkranken, saß auf einem bequemen Armstuhle neben dem Küchenherde, wo die von dem kleinen Feuer ausströmende Hitze ihr am meisten zu Gute kam. Ein warmes Kleid umschloß ihre hinfällige Gestalt, eine wollene Haube ihr dünnes, aber wohlgeordnetes Haar, und mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke des Schmerzes und der Wehmuth blickte sie auf ein zwischen ihren hageren Fingern befindliches Strickzeug, welches sie indessen mehr aus Lust zur Arbeit aufgelegt hatte, als daß sie wirklich schon etwas mit ihren Händen zu verdienen im Stande gewesen wäre.

Ihre Tochter saß ihr gegenüber auf der anderen Seite des Herdes und blätterte in einem Bilderbuche, welches zugleich die Stelle einer Fibel vertrat, und richtete zuweilen Fragen betreffs der großen, bunten Buchstaben an ihre Mutter.

Das Kind zeigte den Ausdruck vollständiger innerer Zufriedenheit; es war ja warm und zweckmäßig bekleidet, trug feste Schuhe auf den Füßen, besaß also mehr, als zu erlangen es jemals zu hoffen sich getraut hätte.

In demselben Maße aber, in welches es sich in seiner neuen Lage zurechtfand, ging auch viel von der ängstlichen Scheu verloren, mit der um sich zu spähen ihm schon längst zu einer schwer abzulegenden Gewohnheit geworden war. Gesprächig, wie andere Kinder seines Alters sonst zu sein pflegen, war es indessen nicht. Das Buch schien seinen Geist ausschließlich eingenommen zu haben, und selbst wenn es Fragen an seine Mutter richtete, geschah dies mit dürftigen, leisen Worten.

Die Nacht war wieder hereingebrochen, und neben der rothen Beleuchtung, die von dem Herdfeuer ausging, erhellte eine kleine Lampe das stille Gemach spärlich. Einzelne Schüsseln und Näpfchen waren auf dem Feuerherde symmetrisch neben einander hingestellt worden, ein Beweis, daß die beiden einsamen Bewohnerinnen ihr frugales Abendbrod verzehrt hatten und vielleicht daran dachten, sich bald zur Ruhe zu begeben.

Die Mutter hatte eben wieder einmal ihre Hände mit dem Strickstrumpfe matt in den Schooß sinken lassen und blickte grübelnd zu ihrem Kinde hinüber, als der in den nahe gelegenen Wohnungen zunehmende wilde, bacchanalische Lärm sie plötzlich in ihrem dumpfen Brüten störte.

»Welch' schreckliche Nachbarschaft,« sprach sie leise vor sich hin, worauf sie sich mit lauter Stimme an ihre Tochter wendete: »Nicht wahr, Riekchen, Du freust Dich ebenfalls auf's Frühjahr, wenn wir erst von hier fort und in eine ruhigere Gegend ziehen, wo wir, wie der Herr Doctor versprochen hat, Gelegenheit finden, etwas zu verdienen?«

»Warum wollen wir fortziehen?« fragte das Kind verwundert. »Es ist ja so schön hier! Wir haben Betten, Essen und Holz - nein, bleiben wir lieber hier; ich bin am feinsten im ganzen Hause gekleidet, und alle Kinder sehen mich böse an, weil es mir so gut geht und sie es nicht eben so haben.«

»Dauern Dich denn die anderen Kinder nicht?« fragte die Mutter, mit einem tiefen Seufzer die eine Hand über ihre Augen legend.

»Zuerst thaten sie mir leid; als sie mich aber schlugen und mir sagten, ich gehöre nicht mehr zu ihnen, freute ich mich, daß sie so viel schlechter seien, als ich.«

»O Gott, o Gott,« stöhnte die Mutter in sich hinein, »wie leicht gelangt man in's Elend, und wie schwer ist es, sich dem Elende und seinen nothwendigen Folgen zu entwinden!«

»Was sagst Du, Mutter?«

»Nichts, mein Kind; ich äußerte nur, Du solltest recht freundlich gegen den Herrn Doctor sein - er meint es so gut mit uns.«

»Warum will aber der Vater nichts von ihm wissen, und warum soll ich immer sagen, ich habe keinen Vater?«

»Später, später, mein Kind, soll Dich nichts mehr hindern, die reine Wahrheit zu sprechen,« versetzte die Mutter, ihr Antlitz wieder verbergend; »nur vorläufig geht es noch nicht, denn böse Menschen haben Deinen Vater an sich gezogen und er muß sich vorher von diesen losmachen.«

Sie wollte fortfahren, ihrer Tochter das Benehmen ihres Mannes in dem möglichst besten Lichte zu zeigen und zu erklären, obwohl sie selbst nicht wußte, wie dies mit Aussicht auf den gewünschten Erfolg zu beginnen sei, als die Stubenthür geräuschvoll aufgerissen wurde und Merle, der Gauner, hastig eintrat.

Die Mutter erschrak und hob mechanisch ihren Strickstrumpf wieder empor, das Kind schlug ein Blatt in dem Bilderbuche um, aber aufzuschauen wagten sie nicht, weil sie die brutale Begegnung des Eintretenden fürchteten.

Doch ganz gegen seine Gewohnheit begrüßte Merle Frau und Kind mit freundlichen Worten, und dann an den Feuerherd tretend, begann er, seine Pfeife zu füllen und anzurauchen.

Hier nun entdeckte die Frau, daß sein Gesicht förmlich glühte, doch nicht etwa, weil er geistigen Getränken zugesprochen hatte, sondern weil er innerlich über irgend etwas triumphirte, das gänzlich zu verstecken er entweder nicht die Kraft besaß oder auch nicht für der Mühe werth hielt.

Dabei hafteten seine Blicke zuweilen spähend auf dem leidenden und niedergeschlagenen Antlitze seiner Frau, als ob er in deren Seele habe lesen wollen, in wie weit er ihrer Verschwiegenheit trauen dürfe.

»Für Euch ist jetzt ganz gut gesorgt,« hob er endlich mit erheuchelter Ruhe an, »und wenn Ihr es nur gescheidt anfangt, wird es immer besser werden, nicht wahr, Riekchen?«

Das Kind nickte schweigend mit dem Kopfe, ohne zu seinem Vater aufzublicken.

»Ja, Euch geht es gut genug, und da ich, um die Geschichte nicht wieder zu verderben, weder bei Euch wohnen, noch essen darf - das Bißchen Tabaksrauch ist morgen früh wieder abgezogen - so muß ich eben sehen, wie ich es mache. Hoffentlich wird es mir ebenfalls glücken, und was ist dann für Noth? Hahaha, solch ein Leben! Riekchen, geh' schnell nach vorn zu unserem Wirthe, Du weißt ja, wo die Uhr hängt, und bringe mir ganz genau Bescheid, wie spät es ist; aber hörst Du, ganz genau!«

Das Kind entfernte sich schweigend; kaum aber hatte es die Thür hinter sich zugezogen, da trat Merle dicht zu seiner Frau heran.

»Frau,« sagte er plötzlich wie umgewandelt mit unheimlichem Ernste, indem er seine Hand schwer auf deren Schulter legte, »ich muß gleich wieder fort, und nur um zwei Worte mit Dir unter vier Augen zu sprechen, schickte ich das Kind weg. Höre mir daher aufmerksam zu und vergiß nicht, daß Dein Leben, das Leben unseres Kindes und dann auch wohl das meinige von der genauen Befolgung meiner Anordnungen abhängen; Du kannst Dir wohl denken, was ich damit meine. Also nie, und würde Dir das Messer an die Kehle gesetzt oder böte man Dir Millionen, sprichst Du eine Silbe über das Blatt aus dem Kirchenbuche; nie erwähnst Du vor irgend einem Menschen die Namen der bei dem Diebstahl mittelbar Betheiligten; ich sage Dir noch einmal: nie, wenn Du nicht zur Mörderin an uns Allen werden willst. Befolgst Du indessen meine Weisungen, so daß meine Zukunft nicht durch Deine Albernheit untergraben wird, so verspreche ich Dir, Dich fortan nicht mehr zu belästigen; Du magst hinziehen, wohin Du willst, magst Dir jede beliebige Beschäftigung suchen, ohne in irgend einer Weise von mir gehindert zu werden, es sei denn ...«

»Es hat eben zehn Uhr geschlagen,« sagte das wieder eintretende Kind.

»Zehn Uhr?« rief Merle erschreckt aus. »Dachte ich doch nicht, daß es schon so spät sei! Keine Minute habe ich zu verlieren. Also, Frau, denke an mich - Ihr mögt immerhin schlafen gehen - ich kehre heute nicht wieder zurück, vielleicht auch morgen nicht.« Und nachdem er seine Taschen prüfend betastet, entfernte er sich ohne ein Wort des Abschieds.

Die Frau saß noch immer wie zerschmettert da. In ihrem Kopfe wirbelte Alles wild durch einander, und kaum vermochte sie etwas Anderes zu denken, als daß ihr Mann auf verbrecherischen Wegen wandle und gerade an diesem Abende mit Hülfe des verhängnißvollen Blattes irgend einen verderblichen Anschlag in Ausführung bringe. Wie sollte sie es hindern, ohne ihr Kind der schrecklichsten Gefahr preiszugeben - an sich selbst dachte sie nicht einmal - und wie wäre es ihr, die sich ohne fremde Hülfe kaum von ihrem Stuhle zu erheben vermochte, möglich gewesen, überhaupt einzuschreiten oder die bedrohten Personen zu warnen?

Da vernahm sie, wie Merle von dem Hofe in das Hauptgebäude eintrat, und zugleich fielen ihre Blicke auf das Kind. Nur einen Augenblick besann sie sich, und dann rief sie dasselbe mit Angstvoller Stimme zu sich.

»Riekchen,« begann sie bebenden Herzens, »Dein Vater schwebt in der gräßlichsten Gefahr, und Du mußt ihn retten! Du bist warm angezogen - schnell, schnell - hier, nimm mein Tuch und schlage es um Deine Schultern. Folge Deinem Vater nach, aber heimlich, ganz heimlich und leise; wenn er Dich sieht, ist es sein Unglück. Folge ihm nach und sieh, mit wem er zusammentrifft; suche die Worte zu erhaschen, die gesprochen werden, und dann, wenn Du glaubst, daß Alles vorbei ist, kehre wieder zu mir zurück. Geh' jetzt schnell, meine Tochter,« fügte sie hinzu, indem sie noch einen Kuß auf des Kindes Stirn drückte, »laß Dich nicht entdecken, und glaube Deiner Mutter, wenn sie Dir sagt, daß Du ein gutes Werk thust und der liebe Gott über Dich wacht. Fort jetzt, ich höre die Hausthür gehen, fort, oder Du findest ihn nicht wieder!«

Das Kind, von jeher gewohnt, bis tief in die Nacht hinein die Straßen bettelnd zu durchstreifen, zeigte nichts weniger als Abneigung, der Mutter Gebot zu erfüllen, um so mehr, als es aus dem dringenden Tone instinctartig herausfühlte, daß es sich wirklich um eine Sache von der größten Wichtigkeit handle. Es schlug daher schnell das ihm dargereichte wollene Tuch um Kopf und Schultern, und seiner Mutter mit einem schlauen Lächeln zunickend, schlich es in seiner geräuschlosen und behenden Weise davon.

Als die Frau sich allein sah, ließ sie das Haupt wieder, wie vor Mattigkeit, auf die Brust sinken und gleichsam willenlos faltete sie die Hände auf ihren Knieen.

»Gott verzeihe mir, wenn ich mich an meinem armen Kinde versündige,« betete sie leise, »aber ich kann nicht anders! Vielleicht reiße ich ihn vom Rande des Abgrundes zurück, ehe er von ...«

Ein Schauder durchrieselte sie; die Worte, die ihr auf den Lippen schwebten, vermochte sie nicht auszusprechen; ihre Hände klammerten sich fester in einander, und erfüllt von unnennbarer Angst begann sie die Minuten zu zählen, die Zeit zu berechnen, bis zu welcher ihre Tochter wieder zurück sein könne.

Merle, nachdem er auf die matt erleuchtete Gasse hinausgetreten war, warf einen spähenden Blick um sich. Nur vereinzelte Personen verfolgten schweigend und hastigen Schrittes ihren Weg nach verschiedenen Richtungen hin, und unter diesen befand sich Niemand, der durch sein Benehmen Argwohn erweckt und zur Vorsicht gemahnt hätte.

Er zog daher den Kragen seines Rockes noch höher empor, und zwar wohl mehr, um sein Gesicht zu verstecken, als daß er die Kälte sehr empfunden hätte, und dann schlug er eiligst die Richtung nach einem belebteren Stadttheile ein, immer sorgfältig das Licht der Laternen vermeidend, sobald er Menschen in der Nähe derselben gewahrte. Seine Bewegungen führte er dabei so natürlich aus, daß selbst der schärfste Beobachter nicht im Stande gewesen wäre, seine Absicht, unerkannt zu bleiben, zu errathen. Da er sich wohlweislich hütete, durch Rückwärtsschauen Aufmerksamkeit zu erregen, so entging es ihm auch, daß ein kleines, vermummtes, schattenähnliches Wesen ihm in sicherer Entfernung auf Schritt und Tritt nachfolgte und die geübten, scharfen Augen beständig auf ihn gerichtet hielt.

Etwa zehn Minuten mochte der Gauner durch das Labyrinth von engen Gassen dahingeeilt sein, als er plötzlich in eine kurze, breitere, aber ebenfalls nur spärlich erleuchtete Straße einbog, in deren Mitte ein Gebäude thorwegartig die beiden Häuserreihen mit einander verband. Unter dem Thorwege bemerkte er mehrere Gestalten, einzelne, die gerade durch denselben hindurchschritten, zwei dagegen, welche etwas abseits standen und eifrig mit einander zu berathen schienen.

Zu diesen letzteren, die, in weite Pelze gehüllt, nur einen geringen Theil ihrer Gesichter der kalten Nachtluft preisgaben, trat er festen Schrittes heran.

»Verzeihen Sie, meine Herren,« sagte er höflich, den Rand seines Hutes leicht mit den Fingerspitzen berührend, »kann ich durch Ihre Güte vielleicht erfahren, wie spät es ist?«

»Ich sollte denken, es wäre die höchste Zeit,« antwortete es mit verstellter Stimme aus dem umfangreicheren der beiden Pelze.

»Gut, Herr Graf, dann begleiten Sie mich; dies ist nicht der Ort, an welchem man ohne Scheu Geheimnisse verhandeln dürfte, und außerdem ist es auf offener Straße zu kalt für die gnädige Frau Schwester des Herrn Grafen,« entgegnete Merle mit entschiedenem Wesen.

»Wenn wir aber nicht geneigt wären, Sie weiter zu begleiten?« fragte der Graf leise. »Wir kennen Sie nicht, und dann versprachen Sie auch, uns Ihr Geheimniß in gedrängter Kürze anzuvertrauen. Uebrigens haben wir Ihrer seltsamen Aufforderung weniger, weil wir Wichtiges von Ihnen zu vernehmen erwarteten, Folge geleistet, als aus - nun, nennen wir es: Lust an Abenteuern.«

»Sie erwarten also, nichts Wichtiges von mir zu hören, hm, dann haben Sie auch wohl kein Geld mitgebracht?« fragte der Gauner höhnisch zurück.

»Immerhin genug, um den Spaß, den Sie sich mit uns erlaubten, mehr als zu theuer bezahlen zu können,« erwiderte der Graf ungeduldig; »doch sagen Sie schnell, was Sie wollen, oder Sie veranlassen uns, Sie als einen Betrüger zu betrachten und unserer Wege zu gehen.«

Bei dem Worte ›Betrüger‹ stieß die in Männertracht gehüllte Gräfin Clotilde ihren Bruder leise an. Listiger, als der Graf, hielt sie dessen Auftreten für wenig geeignet, den Gauner zum Sprechen zu bringen.

»Wenn Sie Ihrer Wege gehen wollen, so mögen Sie es immerhin thun,« versetzte Merle ruhig, indem er selbst sich zum Gehen anschickte; »vielleicht habe ich mich auch geirrt, und das in meiner Tasche befindliche Blatt aus dem Kirchenbuche, welches eine gewisse ...«

»Schweigen Sie, oder sprechen Sie wenigstens nicht so laut, daß die Vorübergehenden es verstehen,« fiel ihm die Gräfin jetzt in's Wort, und zugleich trat sie an seine Seite, welchem Beispiele ihr vor Schreck fast erstarrter Bruder augenblicklich folgte.

»Erklären Sie, was Sie wollen,« fuhr sie mit bebender Stimme fort, denn indem sie ihre Fassung zurückgewann, bedachte sie, daß sie sich durch die unvorsichtige Aeußerung noch mehr in die Gewalt eines ihr völlig Unbekannten gegeben habe; »ja, sprechen Sie offen, was meinen Sie mit dem Kirchenbuche, und wie kommen Sie, dazu, uns mit einem solchen in Verbindung zu bringen?«

»Nicht hier, Frau Gräfin,« versetzte Merle mit widerwärtiger Vertraulichkeit; »daß meine Nachrichten nicht ganz ohne Wichtigkeit sind, werden Sie zur Zeit ebenso gut begriffen haben, wie ich. Ich muß daher fest darauf bestehen, daß Sie mich begleiten; bedenken Sie, wenn wir hier in unserer Verhandlung gestört oder gar belauscht würden, welche unangenehmen Folgen das für uns haben könnte.«

»Wohin wollen Sie uns führen?« fragte der Graf jetzt wieder, nachdem er seiner Bestürzung Herr geworden war.

»An einen sichern Ort, meine Herrschaften, an einen Ort, wo kein menschliches Ohr uns hört und Ihnen so wenig wie mir Gefahr droht. Wir wandeln nämlich auf gefährlichem Boden, und wer von uns die am meisten bedrohte Partei ist, werden Sie selbst am besten ermessen.«

Es erfolgte jetzt eine kurze, im Flüstertone geführte Berathung zwischen den beiden Geschwistern, bei welcher die Gräfin augenscheinlich die entscheidende Stimme führte, denn sie trat zuerst neben Merle hin, ihn auffordernd, voranzuschreiten.

»Es ist nicht unmöglich, daß Ihre Mittheilungen, wenn auch nicht für uns, doch für andere, uns bekannte Personen Werth haben,« sagte sie mit kalter Ruhe, hinter welcher nur eine eiserne Willenskraft wohnen konnte; »wir wollen daher um das Blatt förmlich handeln - vorausgesetzt, Sie haben dasselbe nicht gefälscht - und sind Ihre Forderungen nicht zu unverschämt, sollen sie Ihnen bewilligt werden.«

Der Gauner antwortete durch ein unterdrücktes, vertrauliches Lachen, zog seinen Rock fester um sich und schlug dann denselben Weg ein, den er gekommen war.

»Sie müssen einem armen Teufel schon gestatten, daß er wie Ihresgleichen in einer Reihe mit Ihnen geht,« sagte er nach einer Weile, als er bemerkte, daß der Graf sich etwas entfernt von ihm hielt; »nicht als ob mir viel um die Ehre zu thun wäre, mit hochgeborenen Herrschaften beinahe Arm in Arm zu gehen, denn in diesem Augenblicke sind wir doch so ziemlich gleich; nein, gewiß nicht; aber es ist rathsamer, die uns etwa begegnenden Wächter halten uns für ein Kleeblatt von lustigen Nachtschmetterlingen, als wenn sie in mir den Führer und in Ihnen ein paar verführte junge Leute vermuthen.«

Die Gräfin knirschte mit den Zähnen, der Graf stieß einen leisen Fluch aus, doch zögerten Beide nicht, sich dem Gauner dichter anzuschließen, und schweigend eilten sie in vielfachen Windungen durch die engen, anscheinend verödeten Gassen dahin.

Nach Verlauf einer Viertelstunde, die Merle dazu verwendet hatte, auf weiten Umwegen in eine ganz nahe gelegene Sackgasse zu gelangen, ohne Zweifel, um seinen Begleitern das Wiederauffinden des zurückgelegten Weges zu erschweren, blieb er vor einem hohen, dem Aeußeren nach unbewohnten Gebäude stehen.

»Hier hinein müssen wir,« sagte er flüsternd, nachdem er einige Secunden gelauscht hatte; »einen sicherern Ort giebt es in der ganzen Stadt nicht. Die Herrschaften werden zwar manche Bequemlichkeit vermissen, allein wenn wir uns schnell einigen, mögen Sie diese Gegend auch schnell wieder verlassen.«

So sprechend, zog er ein großes Zuschlagemesser aus der Tasche, und die starke Klinge desselben zwischen den morschen Thürpfosten und das lose haftende Schloß schiebend, gelang es ihm leicht, den rostigen Riegel zur Seite zu drücken. Indem er sich sodann mit der Schulter an die Thür lehnte, wich dieselbe mit knarrendem und schurrendem Geräusch nach innen. »Wie gesagt, meine gnädigen Herrschaften, etwas unwohnlich ist die alte Baracke, und zwar so unwohnlich, daß kein Mensch mehr in ihr hausen mag, aus Besorgniß, daß ihm die Bude über dem Kopfe zusammenbrechen könne,« bemerkte Merle spöttisch, einen Schritt zurücktretend und durch eine Bewegung die beiden Geschwister auffordernd, einzutreten; »und dabei ist sie so werthlos, daß sich Niemand dazu findet, sie auch nur auf Abbruch zu kaufen.«

»Aber es ist ja stockfinster da drinnen,« versetzte der Graf zaudernd.

»Geniren Sie sich nicht,« antwortete Merle boshaft, »treten Sie immer ein; ich will nur die Thür hinter uns zuschieben, und dann führe ich Sie - oder fürchten Sie sich etwa?«

»Schnell, schnell,« sagte die Gräfin ungeduldig, und hastig schritt sie ihrem Bruder voran in die dunkle, schmale Hausflur hinein. »Sie sind nicht der Mann, uns Furcht einzuflößen; wir können nicht leicht eingeschüchtert werden, wir sind bewaffnet.«

»Dachte ich's doch, daß Sie meiner geheimen Aufforderung nicht folgen würden, ohne sich auf alle Fälle vorbereitet zu haben,« hohnlachte Merle; »die Mühe hätten Sie sich indessen ersparen können, es geschieht Ihnen nichts; im Gegentheil, mir ist sehr darum zu thun, daß Sie Ihre Wohnung wohlbehalten erreichen und noch recht lange und recht glücklich leben.«

Bei diesen Worten schob er die Thür wieder zu, doch ließ er den Riegel mit Bedacht nicht einspringen.

»Sie sehen, die Thür bleibt unverschlossen,« fuhr er darauf heimlich flüsternd fort, »der Rückweg steht Ihnen also jederzeit offen.«

»Wäre es nicht besser, zuzuschließen?« fragte der Graf, der Angesichts des Muthes seiner Schwester den eigenen Muth ebenfalls wieder wachsen fühlte; »ich meine, wir befänden uns vor unberufenen Zeugen sicherer, und mir liegt sehr wenig daran, an solchem Orte und in Ihrer Gesellschaft gesehen zu werden.«

»Beruhigen Sie sich, Herr Graf, wer auch immer hier eindringen mag, muß die Thür zurückschieben, und daß dies nicht ohne ein durch die ganze Baracke schallendes Geräusch geschehen kann, haben Sie eben gehört. Uebrigens getrauen sich nicht leicht Menschen im Dunkeln hier herein, denn sie müssen bei jedem Schritte befürchten, mit den von Würmern zerfressenen Bretern durchzubrechen und sich Arme und Beine zu zerschmettern; die Kinder aber, die während des Tages an diesem Orte manchmal Schutz gegen das Wetter suchen und spielend in dem baufälligen Gerüste umherklettern, werden sich hüten, bei solcher Hundekälte hier zu übernachten. Aber bitte, gnädigste Gräfin, reichen Sie mir die Hand, denn erstens muß ich Sie vor Unglück bewahren, das leicht durch einen Fehltritt herbeigeführt werden kann, und dann dürfen Sie mich auch dreist anfassen, weil ich Handschuhe trage.«

»Hannibal, ich lasse Dir den Vortritt,« flüsterte die von unbesiegbarem Widerwillen ergriffene und über die vertrauliche Sprache des Gauners entrüstete Gräfin ihrem Bruder zu, indem sie sich rückwärts an demselben vorbeidrängte.

Dieser ergriff darauf entschlossen Merle's Hand, und seiner Schwester die noch freie Hand reichend, forderte er seinen Führer auf, nicht länger zu zögern.

Merle lachte wiederum höhnisch; er war scharfsinnig genug, zu errathen, weshalb die beiden Geschwister ihre Plätze wechselten. Er hielt es indessen nicht der Mühe werth, eine Bemerkung darüber zu machen, und indem er sich langsam vorwärts tastete, zwang er den Grafen, genau seinen Spuren zu folgen.

Anfangs fühlten sie sichern Boden unter ihren Füßen, sobald sie aber die Breite des zerfallenden Hauses durchschritten hatten, ermahnte der Gauner die Geschwister zu doppelter Vorsicht, weil sie nunmehr eine Treppe zu ersteigen hätten, an der nicht nur das Geländer, sondern auch hin und wieder eine Stufe fehle.

»Was nicht gerade durch eiserne Klammern und Kalk mit dem Mauerwerk verbunden gewesen ist, haben die Nachbarn längst fortgeschleppt,« erklärte er, während er langsam und jedes Mal die Haltbarkeit der Stufe prüfend, bevor er ihr sein Gewicht anvertraute, emporstieg: »Das Holz ist theuer, und frieren wollen die Leute nicht gern - verdammt finster hier, aber das ist um so besser; bei Tage würde den gnädigen Herrschaften vielleicht schwindelig werden.«

Eine Antwort erhielt er nicht, denn der Graf sowohl wie seine Schwester empfanden eine seltsame Beklemmung, indem sie bedachten, daß sie sich vollständig in die Gewalt eines gewissenlosen Verbrechers gegeben hatten, der, wenn er wollte, sie in jedem Augenblicke ihrem Schicksale überlassen und dadurch am leichtesten ihr Verderben herbeiführen konnte.

Nach Ersteigung von ungefähr zwanzig vielfach unterbrochenen Stufen gelangten sie auf eine kleine Abflachung, welche Merle die zweite Etage nannte. Gleich darauf betraten sie eine neue Treppe, die, noch mangelhafter, als die erste, den Vorzug hatte, daß der Rest eines festen, allmählich glatt geriebenen Strickes an ihr niederhing, welcher seit uralten Zeiten das fehlende Geländer vertreten hatte.

Der Gauner gab den Geschwistern den Strick in die Hände, doch rieth er, denselben nur als Führer zu benutzen und sich auf keinen Fall zu schwer auf das morsche Geflecht zu stützen, indem man nicht wissen könne, ob es nicht von den schadenfrohen Kindern stellenweise eingeschnitten sei und daher unter ihrer Last reißen würde.

War dies nun wirklich der Fall, oder beabsichtigte Merle, seine Begleiter in eine seinen Zwecken entsprechende Aufregung zu versetzen, die Wirkung der Erklärung blieb dieselbe; denn jedenfalls erreichte er, daß selbst die Gräfin ein kalter Schauer überlief und sie die Umstände verwünschte, durch welche sie in eine so gefährliche Lage gebracht worden war.

Doch auch das dritte Stockwerk erstiegen sie, ohne einen ernstlichen Unfall zu erleiden, wenn ihre Füße auch mehrfach beim Suchen nach der fehlenden Stufe ausglitten und sie sich zum Schutze gegen gefährliches Straucheln mit den Händen an das Holzwerk anklammern mußten.

Dort nun erklärte Merle, daß sie die erforderliche Höhe erreicht hatten und nur noch eine kurze Strecke sie von dem einzigen Gemache des Hauses trenne, in welchem, ohne Gefahr einer Entdeckung von außen, Licht angezündet werden dürfe.

Alsdann forderte er seine Begleiter auf, wieder eine Kette mit ihm zu bilden, und behutsam mit den Füßen auf den holprigen, schadhaften und zum Theil bereits losgebrochenen Dielen einherschlurfend, durchmaß er einen moderig duftenden Gang, der so schmal war, daß zwei einander begegnende Personen Mühe gehabt hätten, sich gegenseitig auszuweichen.

Der Gang führte in ein nach dem Hofe hinaus liegendes Nebengebäude, und wohl zwanzig Schritte legten sie in demselben zurück, bis Merle endlich still stand, nach einigem Umhertasten eine knarrende Thür aufstieß und mit zufriedenem Ausdrucke erklärte, daß sie an Ort und Stelle seien.

Während Merle und seine Begleiter sich mühsam ihren Weg durch die finsteren Räumlichkeiten der zerfallenden Baracke suchte, war die Gasse vor derselben ebenfalls nicht ganz unbelebt geblieben.

Die Hausthür hatte sich nämlich kaum geschlossen und noch waren, wenn man aufmerksam lauschte, die Stimmen auf der Hausflur zu unterscheiden, da glitt ein kleiner, flüchtiger Schatten heran, als ob er ebenfalls in das Innere des Gebäudes habe eindringen und den Voranschreitenden nachfolgen wollen.

Er legte auch wirklich die Hand an das Schloß; sobald die Thür aber auf den leisen Druck mit einem kurzen Knarren antwortete, prallte der kleine Schatten erschreckt zurück.

Eine Minute blieb er mit einem Ausdrucke der Unentschlossenheit stehen, und erst als die Gasse wieder einmal auf kurze Zeit ganz menschenleer war, schlüpfte er einige Schritte weit von der Thür fort, und hastig und mit einer Gewandtheit, die man dem kleinen Wesen kaum zugetraut hätte, zog es einen lose eingefügten Stein aus dem nächsten von dem morschen Gebälk gebildeten Fache auf die Straße heraus.

Offenbar hatte Riekchen, denn sie war es ja, schon vielfach auf diesem Wege, gleich anderen unglücklichen Kindern, Eingang in das verödete Haus gefunden, wenn des Vaters Schläge sie von dannen getrieben und das böse Wetter das Betteln zu beschwerlich und wenig lohnend machte; denn dem ersten Steine folgte der zweite bald nach, und noch keine Minute hatte sie bei dieser seltsamen Arbeit zugebracht, da war die Oeffnung groß genug, um mit Bequemlichkeit hindurchschlüpfen zu können.

Einen scheuen Blick warf sie die stille Gasse hinunter. Die Beleuchtung der einzigen in derselben trübe brennenden Laterne traf sie nicht, kein menschliches Auge war auf sie gerichtet, und Zeit hatte sie nicht mehr zu verlieren, wenn sie den von der Mutter erhaltenen Auftrag gewissenhaft ausführen wollte. Schnell entschlossen hing sie daher das große Umschlagetuch über ihren Arm, und Kopf und Schultern in die Maueröffnung schiebend, verschwand sie mit einer Schnelligkeit im Innern, als ob sie plötzlich in die Erde gesunken wäre.

Einmal im Innern, war es keine schwere Aufgäbe für sie, ihrem Vater unentdeckt nachzufolgen. Sie kannte ja jeden Zollbreit der alten Baracke, die ihr so oft Schutz gewährt hatte, und wo die Stufen unter dem Gewichte Merle's und des vornehmen Geschwisterpaares krachten und knarrten, da glitt die leichte, schmächtige Gestalt so geräuschlos über dieselben hin, als ob sie wirklich nur ein schwebender Schatten gewesen, wäre. -

»So, meine Herrschaften, Sie mögen jetzt so offen und ungenirt sprechen, als ob Sie sich auf dem Monde befänden,« sagte Merle, nachdem er eine halbe Wachskerze angezündet und auf einer Schuttanhäufung mittels Lehmklößen und kleinen Steinen zum Stehen gebracht hatte. »Niemand hört uns, Niemand sieht uns, und wenn wir dieses Haus nach zufriedenstellender Abwickelung unserer Geschäfte verlassen haben, kennt Einer den Anderen nicht mehr. Sie sehen, ich halte auf Anstand und bin ein Mann von Wort.«

Diejenigen, an die er diese Erklärung richtete, antworteten nicht gleich. Nachdem sie sich so lange in der undurchdringlichen Finsterniß befunden hatten, blendete sie sogar die von dem Lichte ausströmende gedämpfte Helligkeit, und mit ängstlicher Neugierde spähten sie nach allen Richtungen, um sich mit dem Charakter ihrer Umgebung vertraut zu machen.

Beide sahen in Folge der anhaltenden Aufregung bleich aus, doch war eine finstere Entschlossenheit auf ihren Zügen ausgeprägt, nur daß bei dem Grafen sich erst mit dem Aufflackern des Lichtes der Muth wieder eingestellt zu haben schien, der ihn, so lange er der vermeintlichen Gefahr nicht gerade in's Auge schauen konnte, gern bis zu einem gewissen Grade verließ.

Trotzdem war er immer noch eine schöne, stattliche Erscheinung, die durch den bürgerlichen Anzug, welchen er vorsichtiger Weise angelegt hatte, keineswegs beeinträchtigt wurde, und wenn jemals ein Mensch eine sogenannte aristokratische Haltung zeigte, so war es der Graf, als er in Merle einen zwar vierschrötigen, aber ihm doch nur bis zur Schulter reichenden und augenscheinlich nicht mit ungewöhnlicher Körperkraft ausgerüsteten Menschen erkannte.

Die Gräfin dagegen bot in ihrer männlichen Kleidung das Bild eines tadellos gewachsenen, zarten Jünglings, aus dessen Zügen aber eine Willenskraft sprach, die den meisten Männern, namentlich ihrem stattlichen Bruder, zur Ehre gereicht haben würde.

Die weiten Pelze und die der rauhen Jahreszeit angemessenen Kopfbedeckungen gestatteten übrigens nicht, viel von ihren Figuren zu entdecken, nur wenn sie sich bewegten, traten dieselben hinlänglich durch den weiten Faltenwurf hervor, um ihre äußeren Formen nothdürftig verfolgen und sogar bemerken zu können, daß nicht allein der Graf, sondern auch seine Schwester Waffen führten, die, an sich unscheinbar, doch in einem Handgemenge allen anderen vorzuziehen sind.

Das Gemach unterschied sich in seiner Ausstattung kaum von Merle's Behausung, als dieselbe noch nicht durch Doctor Bergmann's Einschreiten so wesentlich verändert worden war. Nur geräumiger erschien es und seiner höheren Lage wegen nicht so feucht, obwohl auch hier der verwitterte Lehmüberwurf von Wänden und Decke losgebröckelt war und den Fußboden dicht bedeckte. Jedenfalls stand der verödete Raum im Einklange sowohl mit der äußeren Erscheinung und den Worten des verwegenen Gauners, wie mit den Gefühlen und Plänen, welche das Geschwisterpaar hiehergeführt hatten.

»Nicht wahr, meine gnädigen Herrschaften, eine schöne Gelegenheit hier, Geheimnisse auszutauschen?« fuhr Merle mit vertraulicher Höflichkeit fort, als seine Begleiter ihm auf die erste Anrede die Entgegnung schuldig blieben.

»Darum handelt es sich nicht,« versetzte die Gräfin, ihre Lippen voller Verachtung emporkräuselnd; »Sie brauchen uns nicht auf Dinge aufmerksam zu machen, die wir bequem mit unseren eigenen Augen sehen. Aber giebt es hier nicht irgend einen Gegenstand, auf welchen man sich niedersetzen könnte? Ich fühle mich erschöpft von der ungewohnten Wanderung.«

Ueber das brutale Gesicht des Gauners zuckte ein Blitz giftiger Schadenfreude und innerer Befriedigung, und mit einer Bereitwilligkeit, welche selbst den Grafen überraschte, beeilte er sich, auf einer Stelle, die ziemlich frei von Schutt, mehrere der umherliegenden Mauersteine so über einander zu schichten, daß sie zwei Menschen einen nothdürftigen Sitz gewährten.

Nachdem das Geschwisterpaar sich niedergelassen hatte, scharrte er etwa zwei Schritte weit von ihnen den Schutt zur Seite, wobei er verstohlen nach etwas suchte. Sein Stiefel stieß endlich an einen im Fußboden befestigten, ihm selbst nur bemerkbaren Gegenstand, worauf er sich ohne viel Rücksicht für seinen Anzug so auf den staubigen Boden warf, daß der gesuchte Gegenstand sich im Bereiche seiner Hände befand. Zu gleicher Zeit achtete er aber auch darauf, daß die Beleuchtung seinen Rücken traf, während sie voll auf die noch immer bleichen und eine hohe Spannung verrathenden Gesichter des Grafen und seiner Schwester fiel.

»Meine gnädigen Herrschaften,« eröffnete er alsbald die Unterhaltung mit einem Anstande, der früheren und besseren Zeiten angehörte, jetzt aber durch eine Beimischung niedriger Frechheit widerwärtig wurde, »ich erlaube mir, vorzuschlagen, so wenig Worte wie möglich zu machen; verkehren wir wie redliche und gebildete Leute mit einander und ereifern wir uns nicht, damit wir recht bald zu einem endgültigen Schlusse gelangen.«

»Ersparen Sie sich die Vorrede,« entgegnete die Gräfin ruhig, während des Grafen Hand unter seinem Pelze sich auf einen Pistolenkolben legte; »sagen Sie, was Sie für Ihr sogenanntes Geheimniß fordern, und es soll mir auf ein paar Louisd'or mehr nicht ankommen.«

»Ich glaube es Ihnen gern, gnädigste Gräfin,« erwiderte Merle nicht minder ruhig; »für Ihresgleichen ist es gewiß keine Freude, mit einem Menschen von zweideutigem Charakter um Mitternacht über eine Sache zu unterhandeln, die weit eher vor den Untersuchungsrichter gehörte. Fassen Sie dies indessen nicht von der schlimmsten Seite auf; denn morgen, wenn Sie in Ihren erleuchteten Sälen strahlend umherschweifen und die allgemeine Bewunderung auf sich ziehen, sieht kein Mensch Ihnen an, daß Sie in dieser Nacht mit einem armen Schlucker verkehrten.«

»Was soll das heißen, Unverschämter? Haben Sie uns hieher gelockt, um Narrenpossen mit uns zu treiben?« fuhr der Graf empor.

Die Gräfin dagegen, obwohl ihre Zähne sich auf einander preßten, legte die Hand beschwichtigend auf den Arm ihres Bruders.

»Ereifere Dich nicht, der Mensch hat im Grunde Recht, und Deine Heftigkeit verursacht nur neuen Zeitverlust,« sagte sie kaltblütig, worauf sie Merle ein Zeichen gab, fortzufahren.

»Ja, Herr Graf, ereifern Sie sich nicht,« wiederholte der Gauner im Geschäftstone, »Sie müssen die Sachen nehmen, wie sie kommen. Uebrigens sollen Sie mit mir zufrieden sein, oder glauben Sie vielleicht, ich hätte mir um nichts und wieder nichts so viel Mühe mit Ihnen gemacht, oder gar, um Sie zu berauben? Rauben schlägt nicht in mein Fach, ich verdiene mir meinen Unterhalt auf redlichere Weise. Allerdings hatte ich Ihnen das kostbare Blättchen Papier ebenso gut anderswo einhändigen können, und Sie würden mich auch wahrscheinlich anständig bezahlt haben; ich zog es indessen vor, Sie an einen Ort zu führen, wo die Kräfte gleich vertheilt sind, ich meinen Worten also auch höheres Gewicht beilegen kann, ohne vor die Thür geworfen oder gar als Betrüger den Gerichten überantwortet zu werden.«

»Weiter!« befahl die Gräfin, ihre Lippen fast blutig beißend, als Merle schwieg.

»Gern, gnädigste Gräfin; auch ich sehne mich, zu Ende zu kommen, denn es ist verteufelt kalt in dieser löcherigen Bude, und bis zu einem Zobelpelze habe ich es noch nicht gebracht. Also auch Sie und Ihr Herr Bruder bezweifeln nicht die Wichtigkeit des erwähnten Documentes oder dessen Echtheit, oder Sie würden sich gehütet haben, mir bis hierher zu folgen. Ja, ja, ich kenne das aus Erfahrung, ein böses Gewissen ist eine mächtige Triebfeder; doch ich sehe, Sie werden ungeduldig, kommen wir daher zur Sache selbst:

»Auf einem Dorfe, wohl an hundert Meilen weit von hier, lebte vor etwa neun oder zehn Jahren ein alter, steinalter Pfarrer. Der Pfarrer, ohne nähere Angehörigen, hatte eine junge Wirthschafterin zu sich genommen, die seiner Haushaltung redlich vorstand. Sie war ein gutes Mädchen, und schön war sie auch, ja, so schön, daß sogar vornehme Herren sich herabließen, ihre Augen auf sie zu werfen.«

»Weiter, weiter!« rief die Gräfin, ungeduldig mit dem Fuße stampfend.

»Bitte, gnädigste Gräfin,« erwiderte Merle, indem er mit der Hand in den Schutt griff und daselbst etwas festhielt, »erschüttern Sie das Haus nicht, es steht sehr lose. Ich sprach von der Wirthschafterin - gut also. Eines Tages erhielt Dorothea - so hieß sie - die Aufforderung, zu einer vornehmen Dame in der nahe gelegenen Stadt zu kommen.

»Dorothea, in der Meinung, es handle sich um die Anstellung ihres Bräutigams - einen Bräutigam hatte sie nämlich auch, und zwar einen hübschen, ansehnlichen jungen Menschen, der aber in einer andern Stadt wohnte und trotz seines Leichtsinns ihr treu blieb, nachdem er sie als Soldat auf dem Durchmarsche kennen gelernt - verzeihen Sie meine Weitschweifigkeit,« schaltete Merle hier ein, »es gehört indessen Alles zur Sache, wie Sie gleich hören werden. Kurz und gut also: Dorothea, von den schönsten Hoffnungen beseelt, leistete der seltsamen Einladung Folge.

»Mit der erhofften Anstellung war es indessen nichts; die vornehmen Herrschaften, Bruder und Schwester, hatten nicht einmal die Ehre, den Herrn Bräutigam zu kennen, dagegen erkundigten sie sich sehr angelegentlich nach Dorothea's Verhältnissen und fragten schließlich, ob sie nicht Lust habe, einige Hundert Thaler zu verdienen.

»Dorothea dachte an ihren Geliebten, der ebenfalls arm wie eine Kirchenmaus war, und daß derselbe ihr wohl untreu werden könne, wenn die Hochzeit nicht bald stattfinde. Ferner leuchtete ihr ein, daß die paar Hundert Thaler zur Begründung eines kleinen Hausstandes gerade ausreichen würden, und sie erklärte sich mit Freuden bereit, den vornehmen Herrschaften den Dienst zu leisten. Sie schrak wohl zurück, als man ihr zumuthete, ein ihr bezeichnetes Blatt aus dem Kirchenbuche zu entwenden und den Herrschaften einzuhändigen; allein freundliches Zureden, Schmeicheln von Seiten des Herrn Grafen und endlich die bestimmte Aussicht auf ihre Verheirathung verscheuchten die letzten Bedenken und sie mißbrauchte das Vertrauen des alten Pfarrers. Außerdem mochte sie darauf gerechnet haben, daß der bejahrte Herr, der sich schon vielfach durch einen Candidaten vertreten lassen mußte, nicht mehr lange leben und das Fehlen des Blattes, wenn es nach dessen Tode überhaupt entdeckt werden sollte, wohl seiner Zerstreutheit zur Last gelegt werden würde. Der Küster war aber noch älter, als der Pfarrer, und verstand von kirchlichen Angelegenheiten nicht mehr, als gerade nothwendig, um Küster zu spielen.

»Dorothea und ihre hochgeborenen Freunde hatten also allen Grund, anzunehmen, daß der Diebstahl ihnen niemals zur Last gelegt werden könne, und die Sache wurde daher ganz im Sinne des Herrn Grafen und der noch sehr jungen, dafür aber um so schlaueren Gräfin ausgeführt. Unverantwortlich bleibt nur, daß die arme Dorothea von denjenigen, die sie zu dem Diebstahle verleiteten, getäuscht wurde.«

»Jedenfalls ist sie für ihre Dienstleistung glänzend bezahlt worden,« fiel die Gräfin dem Gauner in die Rede; »Sie brauchen übrigens nicht so ausführlich zu sein, nachdem Sie den Beweis geliefert, daß Sie mit dem Vorgange, der damals aus einer unbedachtsamen Laune entsprang, hinlänglich vertraut sind, um uns einige Verdrießlichkeiten bereiten zu können. Beantworten Sie mir ein paar Fragen, übergeben Sie mir das unterschlagene Blatt, geben Sie mir ferner die sichere Bürgschaft, daß Sie diese Angelegenheit nie wieder mit einer Silbe berühren, und es wird Ihnen eine Summe ausgezahlt werden, die vielleicht Ihre Erwartungen noch übertrifft.«

»Recht gern, meine gnädigen Herrschaften,« versetzte Merle mit einem verschmitzten Lächeln; »auch mir ist es lästig, alte Geschichten wieder auskramen zu müssen, und mögen Sie daher so viel fragen, wie Sie nur immer wollen.«

Die Gräfin sann eine Weile nach, warf einen unzufriedenen Blick auf ihren Bruder, der das, was er eben vernommen hatte, gar nicht fassen zu können schien, und dann wendete sie sich an Merle:

»Wo befindet sich jetzt das verrätherische Blatt, welches damals unvorsichtiger Weise im Besitze der albernen Wirthschafterin gelassen wurde?«

»Hier,« antwortete Merle, indem er ein zusammengefaltetes Papier aus der Brusttasche zog, es aber sogleich wieder zurückschob.

»Wer steht uns für die Echtheit desselben?« fragte die Gräfin weiter.

»Ich mit meiner Ehre und Sie mit Ihren guten Augen, wenn ich Ihnen den Wisch erst eingehändigt haben werde - doch das hat noch keine Eile.«

Ueber der Gräfin Gesicht breitete sich wieder eine Wolke der bittersten Verachtung aus.

»Was ist aus der Wirthschafterin geworden?« fragte sie nach einer kurzen Pause.

»Nun, das Mädchen mochte sich nach dem Diebstahl nicht mehr recht heimisch bei dem alten Pfarrer fühlen; denn anstatt dessen Tod abzuwarten und noch Dieses oder Jenes aus dem Nachlasse zu beziehen, benutzte es das Geld dazu, dem Geliebten nachzureisen, ihm mit den Paar Hundert Thalern die Augen zu verblenden und sich mit ihm trauen zu lassen. Leider reichte das Geld nicht weit; noch kein Jahr war verstrichen, und der letzte Groschen war zum Teufel.«

»Sie scheinen die Verhältnisse der Wirthschafterin genau zu kennen.«

»Hm, ja, ich sollte wohl!«

»Was ist aus ihr geworden und wo befindet sie sich jetzt?«

»Sie ist längst todt; ich kam noch gerade zur rechten Zeit, um das Blatt in Empfang zu nehmen, welches sie neben einem vollen Bekenntnisse einem fremden Herrn zugedacht hatte.«

»Weiß der Mann der Verstorbenen nichts von der Geschichte?«

»Bis zu ihrem Tode hatte er keine Ahnung davon. Sie war verschwiegen, wie das Grab, und außer den gnädigen Herrschaften bin ich jetzt der Einzige, der das Geheimniß kennt.«

»So sind Sie wohl gar der Gatte jener Wirthschafterin?«

»Ihnen zu dienen! Ich war es bis zu ihrem Tode und habe das Geheimniß in rechtlicher Weise von meiner verstorbenen Frau geerbt; nur hoffe ich, da sie selbst sich außer dem Bereiche jeder gerichtlichen Verfolgung befindet, es besser zu verwerthen, als sie gethan hat.«

»So geben Sie denn das Blatt, und ich will Ihnen auf der Stelle zwanzig Louisd'or dafür auszahlen.«

»Zwanzig Louisd'or?« fragte Merle achselzuckend.

»Ich lege noch dreißig hinzu,« versetzte der Graf schnell, als ob plötzlich ein Entschluß in ihm reif geworden wäre, und zugleich zog er seine Brauen drohend zusammen.

»Das macht im Ganzen fünfzig,« entgegnete Merle kaltblütig, ohne des Grafen drohende Haltung auch nur eines Blickes zu würdigen. »Bah, was sind fünfzig Louisd'or! Verdoppeln Sie die Summe, und ich will sehen, was sich thun läßt. Es wäre ja möglich, daß noch Leute lebten, die mir gern das Vierfache dafür böten; es ist mir nur zu unbequem, nach solchen zu forschen. Ich denke: Ein Sperling in der Hand ist besser, als zehn auf dem Dache! Also, meine Herrschaften, entscheiden Sie sich schnell - hundert Louisd'or, keinen Pfenning weniger! Wollen Sie, oder wollen Sie nicht? Bedenken Sie gefälligst, daß meine Stellung mir nicht erlaubt, viel Zeit mit Ihnen zu verlieren.«

»Unverschämter Schurke, vergessen Sie nicht, mit wem Sie sprechen!« fuhr der Graf jetzt schäumend auf, und zugleich zog er die mit einer kurzen Pistole bewaffnete Faust aus seinem Pelze hervor, während seine Schwester den Gauner mit prüfenden Blicken betrachtete, offenbar um zu erspähen, welchen Eindruck ihres Bruders ritterliches Wesen auf ihn ausüben würde. »Vergessen Sie nicht, daß ich Sie wie eine giftige Kröte zermalmen kann!« fuhr der Graf unterdessen tief und geräuschvoll athmend fort. »Ueberlegen Sie wohl, ob es rathsam ist, mich bis auf's Aeußerste zu reizen, mich zu zwingen, Sie so zu behandeln, wie Sie es verdienen! Ob man aber viel Aufhebens davon machen wird, einen Elenden Ihres Gelichters mit zerschmettertem Kopfe zu finden, werden Sie sich selbst am besten sagen können!«

»Namentlich wenn der Kopf durch eine hochgeborene Hand zerschmettert wurde,« versetzte Merle mit unerschütterlicher Ruhe, die in demselben Grade zu wachsen schien, in welchem des Grafen Wuth zum wilden Ausbruche gelangte. »Aber bitte, Herr Graf, bevor Sie zum Aeußersten schreiten, vernehmen Sie nur Ein Wort, es wird dazu dienen, eine schnelle Einigung herbeizuführen. Sie sprechen von Anwendung von Gewalt; dergleichen habe ich nicht gethan. Ich hielt es unter meiner Würde, obwohl ich die Macht dazu in den Händen habe und man gewiß recht viel Aufhebens davon machen würde, wenn man in diesem Stadtviertel und in diesem Hause den Herrn Grafen und die gnädige Gräfin mit zerschmetterten Köpfen fände - aber bitte, erschrecken Sie nicht, meine gnädigen Herrschaften,« fuhr er spöttisch fort, als er bemerkte, daß der Graf erbleichte und ängstlich forschend um sich schaute, und sogar auch die Gräfin einen scheuen Seitenblick nach der Thüröffnung hinüberwarf, »ich bin hier allein, kein Mensch befindet sich in der Nähe, der mir Beistand leisten könnte, um sich dafür in die hundert Louisd'or mit mir zu theilen. Nein, ich bin nur auf meine eigenen Kräfte angewiesen, aber bis jetzt war ich edelmüthig genug, Sie meine Uebermacht nicht fühlen zu lassen, wie es von Ihnen kindisch war, Herr Graf, mit einer Drohung gegen mich vorzugehen.

»Sie scheinen vergessen zu haben, daß Sie sich nicht in einer Umgebung befinden, wo Sie furchtlos Fußtritte und Peitschenhiebe austheilen können - bitte, rühren Sie sich nicht von der Stelle, oder Sie sammt Ihrer Schwester sind des Todes!« bemerkte er mit unheimlichem Ernste, als der Graf wieder eine Bewegung machte, wie um auf ihn einzuspringen. »Wir kennen das Alles; die Herren haben nur da Muth, wo sie die Uebermacht in Händen zu halten glauben; nimmt man ihnen aber dieses Bewußtsein, so kriechen sie zusammen. Sie lassen sich sogar im Stillen eine ehrenrührige Behandlung gefallen, wenn sie dafür die Aussicht haben, mit gesunden Knochen davonzukommen.

»Nicht von der Stelle, Bruder Graf!« rief er wiederum, jetzt aber lauter aus, und seine rechte Hand rüttelte leise an einem unter dem Schutte theilweise noch verborgenen Gegenstande. »Es sollte mir leid thun um Ihre Schwester, mit der ich mich, ohne Ihr Dazwischentreten, leicht geeinigt hätte. Ja, sehen Sie mich an, wie ich hier liege, und dann verfolgen Sie mit den Augen die im Schutte etwas eingesunkene Linie, die sich im Vierecke um Sie herumzieht - bitte, bemühen Sie sich nicht, stehen Sie nicht auf, oder ...« - hier folgte wieder das vorsichtige Rütteln, und deutlicher trat der angedeutete Streifen hervor, indem in Folge der Erschütterung der bewegliche Staub durch die noch nicht sichtbaren Fugen niederrieselte.

»Also, meine Herrschaften,« fuhr Merle mit unverschämter Vertraulichkeit fort, die dem gespannt lauschenden Geschwisterpaare nur zu deutlich sein unbestreitbares Uebergewicht verrieth, »wir befinden uns hier auf einem alten Magazinboden, auf welchem einst, vielleicht vor fünfhundert Jahren, Güter, wahrscheinlich Lumpenballen, hinauf- und hinuntergewunden wurden. Vergebens führte ich Sie nicht hierher; ich mußte mich sichern, und wenn Sie gütigst Ihre Aufmerksamkeit auf meine Hand lenken wollen, werden Sie leicht begreifen, daß ich diesen Keil, dessen äußerste Spitze diese Ueberfallkrampe kaum noch mit dem Ringe verbindet, ganz hervorzuziehen brauche, um Sie weit schneller, als Sie den Taschenpuffer zu spannen, oder gar aufzuspringen vermögen, durch zwei Stockwerke, in einen mit zerbröckeltem Mauerwerke theilweise angefüllten Keller hinabfallen zu lassen. So, ich bin zu Ende; Sie mögen immerhin Ihre Waffe wieder in die Tasche stecken; so - aber bitte, verlassen Sie die Fallthür nicht, ich bin fest entschlossen, mir den Rücken frei zu halten.«

»Kümmere Dich nicht um die Fallthür,« sagte die Gräfin jetzt mit vor Wuth halb erstickter Stimme zu ihrem Bruder gewendet, der plötzlich seine ritterliche Haltung vollständig eingebüßt hatte und dafür ein gewisses Gefühl der Unbehaglichkeit zur Schau trug. »Ich werde die geforderte Summe bewilligen und berichtigen. Aber zeigen Sie mir erst das Blatt; ich muß wissen, ob wir nicht getäuscht worden sind.«

»Zuerst das Geld, wenn ich bitten darf!« entgegnete Merle brutal. »Solch ein Papierfetzen ist schnell vernichtet, und ihn zu ersetzen vermöchte ich nicht!«

»Befinden wir uns nicht auf der Fallthür?« fragte die Gräfin, im Uebermaße ihrer Verachtung die Achseln heftig zuckend.

»Gnädigste Gräfin, alle Achtung vor Ihrer Entschlossenheit!« versetzte der Gauner zuvorkommend. »Hier ist das Blatt,« fügte er hinzu, das zusammengefaltete Papier darreichend, ohne jedoch die rechte Hand von dem Verschlusse der Fallthür zu entfernen.

Die Gräfin ließ ihre Blicke prüfend über das Blatt gleiten, dasselbe so haltend, daß ihr Bruder mit hineinsehen konnte. Die Züge Beider drückten eine hohe Spannung aus, und kaum wagten sie zu athmen vor Erwartung und innerer Aufregung.

Plötzlich legte die Gräfin ihren Zeigefinger auf eine Stelle ganz unten am Rande des Papiers, und indem sie langsam las, folgte die Fingerspitze den nächsten Zeilen Wort für Wort nach.

»Es ist richtig,« bemerkte sie endlich, und ein heller Triumph blitzte aus ihren Augen.

Nachdem sie darauf aus ihrer und ihres Bruders Börse die geforderte Summe zusammengezählt hatte, händigte sie Merle das Geld ein.

»Auf ein Gegenversprechen des Schweigens von Ihnen verzichte ich,« sagte sie mit ihrem gewöhnlichen, hochmüthigen Wesen zu dem fast achtungsvoll zu ihr emporschauenden Gauner; »Sie würden doch thun, was Sie wollen ...«

»Keineswegs, gnädige Gräfin, mein Ehrenwort ...« stotterte dieser, förmlich berauscht durch den Anblick des in seinen Händen befindlichen Reichthums.

»Unterbrechen Sie mich nicht,« fiel ihm die Gräfin voller Verachtung in die Rede, »ich verlange Ihr Ehrenwort nicht, nur das Licht reichen Sie mir, damit ich unser Uebereinkommen besiegle; ich würde es mir selbst holen, wenn ich Ihnen nicht den Gefallen erweisen möchte, bis zum letzten Augenblicke auf der Fallthür sitzen zu bleiben.«

Merle trieb mit einem Stoße seiner Hand den Keil wieder tief in den Ring hinein, und dann emporspringend, reichte er der Gräfin die brennende Kerze mit einer Verbeugung dar.

Diese nahm das Licht in die linke Hand, und das Blatt unverzüglich der Flamme nähernd, brannte sie die eine Ecke desselben an, worauf sie Merle das Licht zurückgab.

Aller Augen waren auf das brennende Papier gerichtet, welches die Gräfin, um sich des Anblickes länger zu erfreuen, so hielt, daß die Flammen nur sehr langsam niederwärts glitten. Niemand sprach ein Wort; die eigenthümlich roth beleuchteten Gesichter dagegen drückten eine Spannung aus, als ob von der Vernichtung des Documentes das Geschick von Welten abgehangen hatte, und merkwürdig contrastirte der auf den Zügen der Geschwister ausgeprägte Triumph zu dem Bedauern, mit welchem Merle das Papier in Asche zerfallen sah, dem er eine so reiche Beute abzugewinnen gewußt hatte.

Als die Flammen endlich die behandschuhten Fingerspitzen der Gräfin berührten, legte sie den letzten Rest des Papiers vor sich nieder, sorgfältig darauf achtend, daß auch dieser vollständig verzehrt wurde.

Die Flamme erlosch; eilfertig tanzten und rannten die letzten Funken auf den schwarzen Aschenflocken hin und her, und tiefer neigten die drei Gesichter sich über dieselben hin.

Sie boten einen unheimlichen Anblick dar, diese von den verschiedenartigsten Gefühlen bewegten Menschen, wie sie in der Ausführung verbrecherischer Anschläge jeden Standesunterschied vergaßen, sich gleichsam auf eine Stufe stellten und unwillkürlich dichter zusammenrückten; doppelt unheimlich bei der Todtenstille, welche sie umgab.

»Es ist geschehen!« sagte die Gräfin endlich mit einem Ausdrucke, als wäre eine unendliche Last von ihrer Brust gewälzt worden, und zugleich verschwand ein kleines, geisterbleiches Antlitz, welches während der letzten Minuten neugierig in das Gemach hineingespäht hatte, hinter dem Thürpfosten.

»Es ist geschehen!« wiederholte der Graf in gleicher Weise.

»Ja, es ist geschehen!« sagte auch Merle, indem er seine Hand krampfhaft auf die mit Gold gefüllte Tasche drückte, wobei er sich eines gewissen Bedauerns nicht erwehren konnte, nicht mehr gefordert zu haben.

Die Gräfin und der Graf erhoben sich.

Erstere warf noch einen starren Blick auf das schwarze Aschenhäufchen und dann vernichtete sie auch dieses, indem sie ihren schmalen Fuß heftig auf dasselbe stellte.

Ein giftiges Hohnlächeln flog über ihr stolzes Gesicht, ein Hohnlächeln, welches sogar Merle mit Scheu erfüllte.

»Die Todten kehren nicht in's Leben zurück, und in Asche ist der letzte Beweis zerfallen!« sagte sie laut und vernehmlich, obwohl wie zu sich selbst sprechend. Dann aber sich emporrichtend, zeigte sie einen Ausdruck, so ruhig und kalt, als wären die Begebenheiten der letzten Stunden nur ein harmloser Traum gewesen.

»Gestatten Sie uns jetzt, Ihre Fallthür zu verlassen?« fragte sie den Gauner, und ihre Lippen kräuselten sich höhnisch und in grenzenloser Verachtung empor.

»Die gnädige Gräfin haben in diesem Hause wie auch ganz besonders über meine Person zu befehlen,« antwortete Merle unterwürfig; »sei es Tag oder Nacht, die gnädigen Herrschaften werden stets einen gewissenhaften Diener in mir finden.«

»Gut, so befehle, ich Ihnen, uns voranzuleuchten ...« - Hier schwieg die Gräfin bestürzt; ein leises, schlürfendes Geräusch hatte von dem Gange her ihr Ohr erreicht.

»Was war das?« fragte sie ängstlich. »Ich hoffe, es sind keine Zeugen zugegen gewesen?«

»Keine anderen Zeugen, als Ratten und Mäuse,« erwiderte Merle, der sich ebenfalls entfärbt, aber schnell wieder gefaßt hatte. »Den Weg hier herauf zu finden, würde selbst am hellen Tage Niemandem gelungen sein, ohne sich durch Knarren und Poltern anzumelden; aber kommen die gnädigen Herrschaften und überzeugen Sie sich selbst.«

So sprechend, schritt er, beständig hinter sich leuchtend, auf den Gang hinaus und diesem nachfolgend bis an die leiterähnliche Treppe vor. Hier blieb er eine Weile lauschend stehen, und mit ihm lauschten die beiden Geschwister.

Todtenstille herrschte in dem ganzen Hause; von der Straße herauf hallten deutlich die schweren Schritte eines einzelnen Vorübergehenden, während aus der Ferne sich das gedämpfte Rollen der Wagen vernehmen ließ und von den Thürmen der Kirchen das Ende der Mitternachtsstunde angemeldet wurde.

»Dies ist ja eine schreckliche Passage!« brach der Graf endlich das Schweigen, indem er bis dicht an die Treppe vortrat und niederwärts schaute. »Wie sollen wir da hinuntergelangen?«

»Der Weg ist allerdings etwas unbequem,« entgegnete Merle und behutsam kletterte er voraus, um seinen Begleitern diejenigen Stufen zu bezeichnen, welchen sie sich ohne Besorgniß anvertrauen durften. »Ich habe Sie im Dunkeln heraufgeführt, weil ich vermuthete, Sie würden mir nicht folgen, wenn Sie den halsbrechenden Weg sähen.«

»Verräth uns der Lichtschimmer nicht?« fragte die Gräfin, einen gleichgültigen Blick in die schwarze Tiefe sendend.

»Hier oben nicht,« antwortete Merle, »unten dagegen werde ich das Licht auslöschen müssen.«

Dies waren die letzten Worte, die in dem verödeten Hause gewechselt wurden.

Zehn Minuten später lugte Merle vorsichtig durch die Thürspalte auf die Straße hinaus.

»Die Luft ist rein,« flüsterte er rückwärts.

Die Pforte knarrte und kreischte, die drei Gestalten traten hastig in's Freie, und mit klingendem Schalle flog der fest herangezogene Riegel des verrosteten Schlosses in die leere Haft des Thürpfostens.

Ohne einen Augenblick zu zögern, traten die nächtlichen Wanderer eiligen Schrittes den Heimweg an, Merle als Führer voran, und dicht hinter ihm der Graf und die Gräfin. Die Luft war kalt, die Sterne funkelten hell und fröstelnd; die drei Wanderer dagegen schienen abgestorben gegen äußere Einflüsse zu sein, in ihren Adern rollte das Blut heiß und wild.

Weit waren die Umwege, auf welchen der schlaue Merle seine hohen Gönner deren heimischem Stadtviertel zuführte, und nur langsam vergrößerte sich die Entfernung zwischen ihnen und dem verödeten Hause.

Dem Hause sah Niemand an, daß daselbst überhaupt eine heimliche Zusammenkunft stattgefunden hatte; Balken und Mauerwerk können ja nichts erzählen, und die Steine, die Riekchen aus dem Fachwerke genommen hatte, befanden sich längst wieder in ihrer alten Lage.

Riekchen selbst aber eilte flüchtigen Fußes durch die engen Gassen in nächster Richtung dem heimatlichen Obdache zu.

Ihr Herz war so voll; sie mußte zu ihrer Mutter, um zu erzählen von den schönen, vornehmen Leuten, die mit dem Vater wie mit Ihresgleichen gesprochen und ihm so viel, viel Geld gegeben hatten. Sie mußte erzählen von dem Feuerwerke und der Fallthür, und wie es ihr gelungen, unentdeckt bis in fast unmittelbare Nähe der schönen, vornehmen Herrschaften zu gelangen.

Ja, des armen Kindes Herz war bis zum Zerspringen voll: der Vater war plötzlich unermeßlich reich geworden, noch reicher als der König; denn nur mit genauer Noth hatte er das viele, viele Geld in seiner Tasche zu bergen vermocht, und brauchten sie daher nie wieder gegen Noth und Sorgen zu kämpfen.

Hm, wie die glückliche Tochter durch die verödeten Gassen rannte! Bald auf der einen, bald auf der andern Seite huschte sie einher; ihre Füße waren so leicht, wie noch nie im Leben; aber sie mußten wohl leicht werden, denn die Aussichten für die Zukunft waren ja so schön, so schön, daß es sich gar nicht beschreiben läßt und dem armen Riekchen der Kopf förmlich schwirrte und schwindelte.

Der Meerkönig

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