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3. Die arme Marie.

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Lieschen war in einen tiefen, kräftigenden Schlummer gesunken. Marie, deren Bruder und Schwägerin lauschten mit innerer Befriedigung den regelmäßigen Athemzügen; sie freuten sich über die Ruhe des Kindes, ihnen selbst aber blieb der Schlaf fern. Das Abendbrot war kaum angerührt und wieder in den massiven Speiseschrank gestellt werden; düster brannte die Lampe auf dem eichenen Tische und ämsig nähte Marie an dem Sterbekleidchen, während die beiden Ehegatten ihr betrübt zusahen und in flüsterndem Tone zu ihr sprachen.

Sie erzählten sich gegenseitig von dem frommen und rechtschaffenen Herrn Seim, der stets ein freundliches Wort und einen herzlichen Händedruck für jeden Einzelnen von ihnen in Bereitschaft habe und nie um Pfennige mit ihnen feilsche, wie so viele Andere, sondern von dem Grundsatze ausgehe, daß auch die armen Bauern leben müßten. Sie erzählten, wie er sich für seine verwaisten Schützlinge aufopfere, nur für diese lebe und webe, und wünschten, daß Gott ihm seine Rechtschaffenheit vergelten möge. Unerklärlich erschien es ihnen dagegen, daß man ihr neues Lieschen in so hohem Grade gequält habe, bis es endlich davongelaufen sei. Sie schoben aber Alles auf schlechte Menschen, deren es in der ganzen Welt gäbe, von denen auch wohl der gute Herr Seim hintergangen worden sei und in Folge dessen mit mehr Härte und Strenge gegen manche Kinder verfahre. Den Herrn Seim bedauerten sie fast eben so sehr, wie das arme, halb erstarrte Kind, und Reichart vermaß sich hoch und theuer, daß er dem braven Vorsteher reinen Wein einschänken und ihm die Augen öffnen wolle, damit dergleichen nicht wieder geschehe.

»Worauf er seine Leute schicken wird, um uns das Kind wieder fortnehmen und härter als Jemals bestrafen zu lassen,« unterbrach Marie ihren in Eifer gerathenen Bruder; denn indem sie sich Lieschens aufrichtigen Blick vergegenwärtigte, begannen leise Zweifel an der Gerechtigkeitsliebe des Herrn Seim in ihr aufzusteigen.

»Um Gottes willen nicht!« versetzte die Bäuerin erschreckt. »Unser neues Lieschen gebe ich nicht heraus, und käme das ganze Waisenhaus, um es von mir zurückzufordern! Nein, nein, das Kind hat genug erduldet, es bleibt bei uns, und den möchte ich sehen, der es in unserem Hause anzurühren wagte! Das arme, liebe Herz, wie es sich an mich schmiegte und mich Mutter nannte, und dabei zu denken, daß Jemand es schlagen und einsperren könnte!«

Reichart rieb sich verlegen die Stirne, offenbar sann er vergeblich über einen Ausweg nach. Er wollte das Kind für sein Leben gern behalten, aber auch gegen die gesetzliche Ordnung verstoßen wollte er nicht, und ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß er durch eine Verheimlichung vielleicht gerade zum Nachtheil seines Schützlings handle.

»Ich denke, wir behalten das Kind wenigstens vorläufig bei uns,« nahm Marie jetzt wieder das Wort, »vielleicht so lange, bis nach ihm gefragt wird, und dann ist ja noch immer Zeit, weitere Schritte zu seinem Besten zu thun.«

»Aber der Ortsschulze,« warf Reichart zweifelnd ein, »er wird das Mädchen sehen und fragen, woher es stamme; was soll ich dann wohl antworten? Sage ich ihm die Wahrheit, so ist sein Erstes, daß er selbst die Kunde von der Rettung des kleinen Flüchtlings nach dem Waisenhause trägt.«

»So gieb vor, es sei eine Verwandte, vielleicht die Tochter unseres mit Kindern so reich gesegneten Vetters, die Du nach dem Verluste des eigenen Kindes an Kindesstatt angenommen habest,« versetzte Marie zögernd; denn ihr strenger Rechtlichkeitssinn kämpfte nur matt gegen die wachsende Theilnahme und Besorgniß für den kleinen fremden Gast. »Gewiß wird Niemand daran denken, Dein Wort zu bezweifeln und Nachforschungen anzustellen, und kommt später der wahre Sachverhalt wirklich zu Tage, so wird man unser Verfahren um unserer Trauer und unserer Liebe willen entschuldigen und nicht mehr auf eine Trennung dringen.«

»Wenn sie das Kind aber selbst fragen?« erwiderte Reichart, dessen Bedenken durch der Schwester Rathschläge bereits zum größten Theil beschwichtigt waren. »Und alt und verständig genug scheint es zu sein, um über sein Herkommen Aufschluß geben zu können.«

»Ja, das ist das Einzige, was mir Zweifel und Besorgniß einflößt,« entgegnete Marie sinnend, während die Augen der beiden Gatten gespannt an ihren Lippen hafteten. »Es scheint mir sündhaft, das arme Kind zu einer Lüge zu verleiten, und dennoch sehe ich keinen andern Ausweg, auf welchem wir es vor einem traurigen Loose zu bewahren vermöchten; und das liegt doch wohl auf der Hand, daß bei seiner Rückkehr in die Anstalt gewiß nicht die freundlichste Behandlung seiner harren würde.«

»Gewiß nicht, nein, gewiß nicht,« fiel die Bäuerin jetzt mit Wärme ein, »sie würden das arme Kind hinter dem Rücken des Herrn Seim zu Tode peinigen; nein, das Kind bleibt bei mir, und sollte ich deshalb hundert Lügen sagen! Ich werde das arme Herzchen schon vorbereiten und ihm seine Antworten in den Mund legen, ich werde ihm sagen, wie schändlich es sei, zu lügen, und daß es hier nur geschehe, um uns Verdruß zu ersparen. O, in diesem Falle ist eine Nothlüge keine Sünde, nein, gewiß nicht, viel eher eine gute, christliche Handlung!« So sprechend, erhob sie sich mit hastiger Bewegung, und auf den Zehen nach dem Bette hinschleichend, suchte sie einen Blick auf ihr neues Lieschen zu erhaschen.

Sie betrachtete das sanft schlummernde Kind eine Weile mit tiefer Wehmuth; gewiß stellte sie in Gedanken Vergleiche an, denn ihre Hände rangen sich krampfhaft in einander und heiße Thränen sanken in Fülle auf dieselben nieder.

Marie hatte ihre Arbeit beendigt und vor sich auf den Tisch gelegt; auch in ihren schönen, wohlwollenden Augen glänzten Thränen, indem sie abwechselnd das fertige Sterbekleidchen und ihren Bruder betrachtete, dessen Blicke wieder starr auf die zierlich ausgezackte Leinwand gerichtet waren.

Da schlug die Uhr die zwölfte Stunde. Eintönig hallten die halb schnarrenden, halb klingenden Schläge durch das Gemach.

»Sie hätten Beide neben einander Platz gehabt!« seufzte die Frau, indem sie an den Tisch zurückkehrte.

»Tröste Dich, Mutter,« versetzte Reichart, sich mit Macht emporraffend, »eine Tochter hat uns der liebe Gott genommen, eine andere hat er uns gegeben; mag kommen, was da wolle, sie soll so gut unser Kind sein, als ob es unser leibliches wäre. Und wenn es gut einschlägt, und uns liebt, soll es auch unsern Namen führen und uns beerben, damit wir wenigstens wissen, für wen wir schaffen und arbeiten.«

Marie sah mit innigem Wohlgefallen auf die biederen Leute hin, wie sie durch einen warmen Händedruck über des schlafenden Kindes Zukunft entschieden.

Sie blickte auf dieselben, wie wohl eine Mutter sich über die hervortretenden guten Eigenschaften ihrer Kleinen freut. In ihren schönen Augen sprach sich deutlich ihre geistige Ueberlegenheit aus, in den wohlwollenden Zügen dagegen ihre unendliche Herzensgüte und wie durch herben Kummer ihre höhere Ausbildung veredelt worden sei und sie dieselbe nur als Mittel betrachte, um so nachdrücklicher für das Wohl nicht nur der ihr nahe stehenden Personen, sondern für alle Mitmenschen wirken zu können.

»Aber gehe jetzt schlafen,« wendete Reichart sich endlich an seine Schwester, »morgen ist auch noch ein Tag, und zwar ein recht schwerer für uns, und Du mußt sehr müde sein. Meine Frau wird sich auf den Rand des Bettes zu Lieschen legen und über das liebe Kind wachen; ich selbst bedarf weiter nichts zur Ruhe, als den Lehnstuhl beim Ofen.«

»Gute Nacht denn,« sagte Marie freundlich, den beiden Gatten die Hand reichend; denn obgleich sie fühlte, daß der Schlaf ihr noch lange fern bleiben würde, hoffte sie doch in ihrer liebevollen Fürsorge für Andere, daß nach ihrer Entfernung wenigstens ihre Schwägerin, von Erschöpfung übermannt, im Schlummer einige Stunden Vergessenheit für ihren Kummer finden würde.

Nachdem sie ein Nachtlämpchen angezündet, begab sie sich noch einmal an das Himmelbett. Wohl eine Minute lang betrachtete sie das ruhig und sanft schlummernde Kind mit tiefem Nachdenken.

»Lieber Engel,« flüsterte sie leise, fast unbewußt, »wie Du mich an Jemanden erinnerst, doch weiß ich nicht, an wen!?«

Da lächelte das Kind im Traume; auch über Mariens gutes Antlitz flog ein heller, freundlicher Schimmer bei dem holden Anblicke. »Schlafe wohl!« sagte sie noch einmal lauter, und geräuschlos schlich sie in ihre Kammer zu dem todten Lieschen.

Nach Mariens Entfernung, blieben die beiden Gatten noch eine Weile schweigend neben einander sitzen. Es war nicht schwer zu errathen, was ihre Gemüther so tief bewegte, ihren Augen einen bald kummervollen, bald tröstlichen Ausdruck verlieh.

»Mutter, Du darfst nicht die ganze Nacht hier sitzen bleiben,« brach Reichart endlich das Schweigen, indem er die Lampe umkehrte, so daß der Schatten des Oelbehälters sein Gesicht traf, »begieb Dich daher zur Ruhe; sieh, auch ich will versuchen zu schlafen.«

»Ich kann nicht schlafen,« entgegnete die Frau mit unterdrückter Stimme, einen besorgten Seitenblick nach der Himmelbettstelle hinübersendend, von woher die regelmäßigen und gesunden Athemzüge des Kindes sich deutlich vernehmen ließen. »Warum sollte ich mich also hinlegen? Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich wache und über Alles nachdenke.«

»Aber Du solltest gerade nicht so viel nachdenken; es wäre besser, Du legtest Dich hin, und wenn man liegt, kommt der Schlaf ganz von selbst.«

»Bei mir nicht,« versetzte die Bäuerin traurig, »mir geht es gerade so wie unserer Marie; früher konnte ich nicht begreifen, warum das Mädchen die Nächte so oft schlaflos verbringe. Ich dachte, das sei so Sitte bei den vornehmen Leuten und sie habe es bei diesen gelernt, oder sie trauere heimlich, weil sie wieder Bauermädchen geworden. Jetzt sehe ich es aber ein, und ich fühle, wie schrecklich es ist, vor Herzeleid die Augen nicht schließen zu können.«

»Ja, die arme Marie hat viel Herzeleid gehabt,« bemerkte Reichart ernst, wie zustimmend nickend, »viel, viel unverdientes Herzeleid, denn sie ist von Kindesbeinen an immer ein gutes Mädchen gewesen und dabei so heiter und vergnügt, daß alle Menschen sich darüber freuten. Ja, ja, es war kein Segen für sie, daß sie so frühzeitig nach der Stadt kam und so viel lernte. Hätte sie das elterliche Haus nie verlassen, sie wäre dann gewiß eine brave und auch eine reiche Bauerfrau geworden, anstatt daß sie jetzt alle Freier zurückweist.«

»Ich gönne ihr wohl einen braven Mann,« erwiderte die Bäuerin aufrichtig, »allein es würde mir doch sehr schwer werden, mich von ihr zu trennen. Sie liebte unser Lieschen über alle Beschreibung, und dann habe ich mich so sehr an ihren Rath gewöhnt, daß ich nicht wüßte, wie ich es ohne sie machen sollte. Daß sie so viel mehr gelernt hat, als wir, merkt man wohl an jedem Worte, das sie spricht; aber es thut doch nicht weh.«

»Es ist wahr, auch ich weiß nicht, wie wir ohne Marie fertig werden sollten, und dabei nimmt sie nicht den geringsten Lohn für ihre Hülfe an,« versetzte Reichart.

»Und doch ist es nur sehr wenig, was sie erspart und durch den Verkauf ihrer schönen Kleider und der goldenen Ringe zusammengebracht hat.«

»Leider; allein sie war zu stolz, und wie die Sachen damals lagen, hätte ich es an ihrer Stelle wahrscheinlich ebenso gemacht.«

Nach diesem Gespräche trat wieder ein längeres Schweigen ein. Das Vernommene mußte indessen den Geist der Frau noch immer sehr rege beschäftigen, denn wich auch der Ausdruck der Trauer nicht aus ihren Zügen, so waren ihre Augen doch trocken geworden, während ihr starrer Blick bekundete, daß sie über irgend einen Gegenstand sehr ernst nachdenke. Nach Verlauf von etwa fünf Minuten fragte sie plötzlich: »Wie alt war sie, als sie von Deinen Eltern nach der Stadt gebracht wurde?«

»Eben war sie sechs Jahre alt geworden,« antwortete Reichart mechanisch. »Hat Marie jemals mit Dir über ihre Vergangenheit gesprochen?«

»Niemals, und gefragt habe ich sie nicht darnach, weil Du es mir verboten hattest. Ich leugne indessen nicht, daß mir oft eine Frage auf der Zunge schwebte; wenn ich ihr aber in die freundlichen und dabei doch so traurigen Augen sah, dann hielt ich stets wieder an mich, weil es mir erschien, als hätte meine Neugierde sie zum Weinen bringen müssen.«

»Ganz recht, Mutter,« entgegnete Reichart, in der ihm eigenthümlichen Weise mit dem Kopfe nickend. »Hättest sie sicherlich zum Weinen gebracht, denn was die schon erlebt hat, ist genug, um eine ganze Gemeinde zu Thränen zu bringen. Mir hat sie Alles erzählt, von Anfang bis zu Ende, damit ich wisse, wen ich unter meinem Dache beherberge, und nichts Arges von ihr denke. Zugleich aber bat sie mich, zu Niemand darüber zu sprechen; sie selbst wolle nicht bemitleidet sein, und die Leute sollten nicht hart über Jemanden urtheilen, der ganz unschuldig sei und keine Vorwürfe verdiene. Ja, ich habe mein Versprechen redlich gehalten; die Leute wissen eben weiter nichts, als daß sie als Kind zu einer vornehmen Familie in die Stadt kam und vor neun Jahren, nachdem ihre Beschützerin gestorben, fast eben so arm zu uns zurückkehrte, wie sie gegangen war. Leider glauben Einzelne, daß sie um das gute Leben und die vornehme Gesellschaft trauere, das ist aber nicht wahr - nein - o, wüßten sie nur ...«

»Wenn sie was wüßten?« fragte die Bäuerin, sobald ihr Mann schwieg, mit einem Anfluge von Neugierde.

Reichart betrachtete seine Frau wiederum einige Augenblicke zweifelnd und forschend; hierauf warf er einen spähenden Blick nach der Kammerthür und rückte dann seinen Stuhl so herum, daß er der Bäuerin gegenüber zu sitzen kam.

»Eigentlich sollte ich auch zu Dir nicht davon sprechen, Mutter,« hob er an; »allein es ist vielleicht gut, wenn ich Dir beweise, daß es Menschen giebt, die gewiß nicht in geringerem Grade heimgesucht worden sind, als Du und ich. Nur das Eine mußt Du mir versprechen, nämlich Mariens Vergangenheit nie anders zu berühren, als wenn sie selbst mit Dir davon anfangen sollte.«

Nachdem die Frau sich vorher noch einmal überzeugt, daß das schlafende Lieschen sich noch nicht gerührt hatte, fuhr Reichart fort:

»Wie wir jetzt, so machten es meine Eltern, die dieses Gehöft von meinem Großvater geerbt hatten; sie fuhren wöchentlich einmal mit Butter und Eiern, auch wohl mit Korn nach der Stadt, wo sie für ihre Waaren bestimmte Abnehmer fanden. Marie und ich waren die beiden einzigen Kinder, die von fünf am Leben geblieben. Meine Mutter hatte also dreimal solche Zeiten durchgemacht, wie Du jetzt, freilich mit dem Unterschiede, daß wir nur das einzige Kind zu verlieren hatten. Der Verlust so vieler Kinder machte meine Mutter doppelt besorgt um die beiden überlebenden, so daß sie uns nie aus den Augen ließ. Sie nahm uns daher jedesmal mit zur Stadt, und erst, als ich das zehnte Jahr erreicht hatte, setzte es mein Vater durch, daß ich zu Hause blieb, um die Schule nicht zu versäumen und dem Knechte bei seinen Arbeiten zu helfen. Als ich meinen vierzehnten, Marie ihren sechsten Geburtstag erlebt hatte, starb nach kurzer Krankheit meine Mutter. Mein Vater, daran gewöhnt, Marie immer um sich zu sehen, dann aber auch, um sie nicht gänzlich ohne Aufsicht zu wissen, fuhr fort, sie nach alter Weise mit zur Stadt zu nehmen und sie dort in seiner Begleitung ein Körbchen mit Eiern oder Butter, zuweilen auch wohl einige Blumensträußchen zu seinen Kunden tragen zu lassen.

Unter den letzteren befand sich auch eine einzelne bejahrte Dame, eine Gräfin, die schon von meinem Großvater Küchenvorräthe bezogen hatte. Dieselbe war sehr reich, hatte indessen nur eine beinahe eben so alte Köchin und ein paar niedliche Windspiele um sich. Mit ihren vornehmen Verwandten lebte sie auf keinem guten Fuße; dafür war sie um so freundlicher gegen meinen Vater, namentlich aber gegen Marie, die als Kind so schön war, daß die Leute auf der Straße stehen blieben, um ihr nachzusehen.

»Wie nun meine Schwester von der alten Gräfin zuweilen kleine Geschenke erhielt, so erwies sie sich dadurch dankbar, daß sie nie vergaß, einen recht schönen Blumenstrauß mitzubringen und ihr zu Weihnachten ein Liedchen aufzusagen. Die alte Dame weinte dann jedesmal vor Freude und fragte meine Schwester immer und immer wieder, ob sie nicht bei ihr bleiben wolle. Diese wäre auch gern geblieben - denn die prächtigen Stuben, die großen Bilder mit den goldenen Rahmen und die langen seidenen Gardinen gefielen ihr gar gut, - wenn sie nicht eben mit noch größerer Liebe an ihren Eltern gehangen hätte.

»Als mein Vater nach dem Tode meiner Mutter wieder zum ersten Male bei ihr vorsprach, wollte sie das Kind gar nicht wieder von sich lassen. Sie erklärte meinem Vater, nunmehr sei es unmöglich für ihn, seine Tochter gut zu erziehen, und sie wolle fortan für diese sorgen. Mein Vater weigerte sich standhaft, doch verließ er das Haus nicht, ohne von der lieben, wohlthätigen Dame das Geld zu einem feinen Traueranzuge für meine Schwester erhalten zu haben.

»Von nun ab, so oft mein Vater im Hause der alten Gräfin erschien, bestürmte diese ihn, ihr in ihrem hohen Alter die Freude zu gönnen, Jemanden um sich zu wissen, von dessen Dankbarkeit und uneigennütziger Treue sie überzeugt sein dürfe. Solchen Vorstellungen vermochte mein Vater denn auch nicht lange zu widerstehen. Meine Schwester hatte noch nicht ihr siebentes Jahr vollendet, da fuhr mein Vater sie, nachdem sie herzlichen Abschied von mir genommen, zur Stadt, um sie nicht wieder mit herauszubringen.

»In der ersten Zeit ihrer Abwesenheit kam unser Haus uns recht vereinsamt vor. Das heitere, lebensfrische Kind fehlte uns überall, und Niemandem mehr, als meinem Vater, der gewöhnlich die stillen Abendstunden mit ihm verplaudert hatte. Allmählich gewöhnten wir uns indessen daran, um so mehr, da mein Vater allwöchentlich unsere Marie besuchte, und die Gräfin, um das Heimweh fern von ihr zu halten, sie häufig zum Besuche zu uns herausschickte.

»Diesen Besuchen ist es wohl am meisten zuzuschreiben, daß wir Geschwister nicht Einer dem Andern entfremdet wurden; denn ich entsinne mich noch, als ich meine Schwester zum ersten Male nach unserer Trennung in den schönen Kleidern wiedersah, glaubte ich kaum, daß sie noch meine Schwester sei. Dabei erschien sie mir mit dem merkwürdig gelockten Haar so wunderbar schön, daß ich sie immerwährend hätte ansehen mögen und sogar Nachts von ihr träumte. Das war ein Leben, wie es nicht schöner gedacht werden kann; denn wenn Marie uns besuchte, wiederholte die Gräfin ihr häufig, daß sie nicht besser sei, als ich oder die anderen Dorfkinder, und daß es eben so ehrenwerth sei, den Dreschflegel und den Pflug zu führen, als sich in fremden Sprachen, Musik und feinen Handarbeiten zu üben.

»Ich war damals alt genug, um Alles verstehen und überlegen zu können, was mein Vater mit mir sprach, und ich weiß noch wie heute, daß es mir, als ich einst meinen Vater bat, mich ebenfalls so viel lernen zu lassen wie meine Schwester, eine große Beruhigung und Freude gewährte, der Gräfin Ermahnungen zu hören. »Es ist leicht, aus bescheidenen Verhältnissen in glänzendere überzutreten und sich an solche zu gewöhnen,« hatte die gute Gräfin zu meinem Vater gesagt, »schwer dagegen, dem Glanze wieder zu entsagen; sorgen wir daher dafür, daß uns Beides gleich geläufig bleibe, damit wir nie in die Lage kommen, uns über das Geschick zu beklagen und uns unglücklich zu fühlen.« Ja, das sagte sie Wort für Wort, und mein Vater theilte mir Alles getreulich mit; ich aber lernte die schönen Sprüche auswendig, und bis auf den heutigen Tag habe ich sie nicht vergessen.

»Wie recht die Gräfin hatte, können wir heute noch sehen, denn hätte Marie die guten Lehren nicht beherzigt, dann würde sie schwerlich so schnell wieder in unserem Hause heimisch geworden sein, schwerlich so wohlgemuth das seidene Kleid mit dem wollenen Rocke vertauscht haben. Freilich war Marie von ihrer ersten Kindheit an immer ein herzensgutes Mädchen, und wenn es nicht in ihr gelegen hätte, sollte die gute Gräfin - Gott habe sie selig - ihr Erziehen und Belehren wohl gelassen haben.

»Unsere Marie lernte also mit einer wunderbaren Leichtigkeit nicht nur Schreiben und Lesen, sondern auch Musik, Sticken, Kochen und wer weiß was Alles. Mit jedem Tage wurde sie auch schöner und freundlicher, und dabei sprach sie so vornehm, als ob sie wirklich vornehmer Leute Kind gewesen wäre.

»So ging die Zeit dahin; Marie fühlte sich im Hause unserer Wohlthäterin überglücklich, und diese wieder hatte sich so sehr an meine Schwester gewöhnt, daß sie wohl hundertmal versicherte, nicht ohne ihre Marie, wie sie dieselbe nannte, leben zu können.

»Das Einzige, was meiner Schwester, namentlich als sie groß geworden, im Hause der Gräfin Kummer verursachte, waren deren Verwandte. Diesen war sie ein Dorn im Auge, weil sie glaubten, daß meine Schwester sie benachtheilige. Je herzlicher die alte, kränkelnde Dame sich an Marie anschloß, um so bitterer waren die Vorwürfe, mit welchen man sie hinter dem Rücken ihrer Wohlthäterin überschüttete. Nur die treue Anhänglichkeit an die alte Dame, deren Kräfte schon bedeutend abgenommen hatten, in Folge dessen sie mehr auf die Hülfe anderer Menschen angewiesen war, hielt Marie ab, in's väterliche Haus zurückzukehren. Vielleicht wäre Manches besser geworden, hätte sie sich, wie ich ihr häufig rieth, über das Benehmen der Anverwandten bei der Gräfin beschwert; doch sie wollte dieser keinen Aerger verursachen und ertrug lieber Alles mit einer himmlischen Geduld.

»Unter denjenigen, die mit einer gewissen Angst das Abscheiden der reichen Gräfin herbeiwünschten und denen meine Schwester stets im Wege war, weil sie sich in ihrer Gegenwart nicht getrauten, andere, abwesende Verwandte zu verleumden, zeichneten sich namentlich ein junger Officier und dessen um zwei Jahre ältere Schwester aus. Dieselben hatten nämlich anfänglich versucht, Marie durch freundliches Entgegenkommen und dann durch Bestechungen zu gewinnen, damit sie ihnen bei der alten Dame das Wort rede. Als diese aber sich standhaft weigerte, auf ihre unredlichen Wünsche und Ansinnen einzugehen, und die schmachvollen Vorschläge mit Entrüstung zurückwies, wurden sie ihr spinnefeind. Wo sich nur immer die Gelegenheit bot, das arme Mädchen, sei es nun durch Worte oder verächtliche Mienen, zu martern, da ließen sie dieselbe gewiß nicht unbenutzt vorübergehen. Sie versuchten sogar Alles, sie aus dem Hause der Gräfin zu verdrängen, doch ließ Marie sich dadurch nicht in der Ausübung ihrer Pflichten gegen ihre Wohlthäterin beirren; und hatte sie dann wieder einmal eine recht herbe Kränkung erfahren, so gewährte es ihr den besten Trost, wenn sie bald darauf bei der Gräfin saß, diese mit der größten Aufmerksamkeit pflegte und dafür aufrichtig und wohlwollend »meine liebe Tochter« genannt wurde.

»Da trat plötzlich ein Fall ein, der uns weit auseinander riß, so daß ich meine Schwester ganz aus den Augen verloren hätte, wenn mir nicht hin und wieder ein Brief von ihr zugegangen wäre.

»Sie hatte nämlich eben ihr siebenzehntes Jahr zurückgelegt, und ich war gerade volljährig geworden, da legte sich mein Vater, und acht Tage darauf schloß er die Augen auf ewig.

»Wir Männer sind aus festerem Stoffe gebildet, als die Weiber, und ertragen daher weit leichter unersetzliche Verluste, namentlich aber, wenn dieselben sich nicht zur ungewöhnlichen Zeit einstellen. Mein Vater hatte nämlich beinahe sein siebenzigstes Jahr erreicht, also seine irdische Laufbahn vollendet; ich sagte mir daher, daß die Welt ihren ruhigen Gang weitergehe, und dankte Gott, daß mein Vater bis in sein hohes Alter hinein von jeder schmerzhaften Krankheit verschont geblieben war.

»Anders verhielt es sich indessen mit Marie. Das Mädchen war untröstlich, und mit ihr litt in fast gleichem Grade die gute, liebevolle Gräfin, welche keinen fremden Kummer sehen konnte, ohne auf's tiefste mit ergriffen zu werden.

»Die Trauer meiner Schwester, vielleicht auch mit der Wunsch, den ihr immer lästiger werdenden erbschleichenden Verwandten aus dem Wege zu gehen, veranlaßten die Gräfin endlich, ganz fortzuziehen. Ehe sie aber diesen Entschluß zur Ausführung brachte, fragte sie Marie, ob sie mit ihr ziehen wolle. Als diese bereitwillig zusagte, wurde sogleich, zum größten Verdrusse der enttäuschten Verwandten, und den Vorkehrungen zum baldigen Aufbruche begonnen, wobei die alte Dame sich wieder von einer ganz besonderen Rührigkeit zeigte.

»Ich glaube, noch keine zwei Monate waren verstrichen, seitdem die Entscheidung getroffen würde, da verließ die Gräfin mit ihrem ganzen Hausstande die Wohnung, in welcher sie länger als ein Vierteljahrhundert gelebt hatte, um in einer süddeutschen Stadt für den Rest ihres Lebens ihren Wohnsitz aufzuschlagm. Du erinnerst Dich vielleicht noch, es geschah dies in demselben Jahre, in welchem wir uns verheiratheten.

»Was ich bis jetzt erzählte,« schaltete Reichart nach einer längeren Pause ein, »war sehr genau, weil ich bis zu diesem Zeitpunkte meine Schwester fast wöchentlich sah, also Alles gewissermaßen mit erlebte. Was nun folgt, ist dagegen eben nur das, was Marie nach ihrer Heimkehr mir flüchtig mittheilte, denn in den Briefen, die ich gelegentlich von ihr erhielt, berührte sie den Kummer ihres Lebens kaum.

»Für Marie hatte der Wechsel ihres Wohnsitzes manches Angenehme, indem sie fortan von den Verfolgungen des ihr feindlich gesinnten Geschwisterpaares verschont blieb. Aber auch die alte Gräfin wurde geselliger, seit sie, statt mit den auf ihren Tod harrenden Verwandten, mit fremden Leuten verkehrte. Nur ein einziger Verwandter, ein alter Edelmann, und zwar der Vater der beiden bösen Geschwister, welcher dort in der Nähe lebte, stellte sich von Zeit zu Zeit ein, um sich nach dem Befinden der Gräfin, seiner leiblichen Tante, zu erkundigen.

»Diese sah den alten Herrn sehr gern bei sich, und auch er schien mit großer Liebe an der Gräfin zu hängen und auf nichts weniger auszugehen, als irgend welche Vortheile von ihr zu ziehen. Marie behandelte er wie seines Gleichen, und dies freute die Gräfin in so hohem Grade, daß sie einst in meiner Schwester Gegenwart ganz laut zu dem Edelmanne sagte: »Vetter, ich sterbe viel beruhigter, seit ich die Ueberzeugung hegen darf, daß Du nach meinem Tode gewissenhaft für Marie, die mir ihre ganze Jugend zum Opfer gebracht hat, sorgen und ihre Ansprüche geltend machen wirst.« Der Edelmann hatte darauf meiner Schwester die Hand gedrückt, als ob er dadurch das schnöde Benehmen seiner Kinder habe ausgleichen wollen, und ihr das Versprechen abgenommen, sich jederzeit und in allen Lagen des Lebens seiner aufrichtigen Theilnahme zu erinnern. Dies war das einzige Mal, daß Mariens Zukunft in ihrer Gegenwart gedacht wurde. Ueber ihre eigenen Familienangelegenheiten sprach die Gräfin nie, und als sie einst eine Aenderung in ihrem Testamente vornahm, geschah dies so heimlich, daß meine Schwester kaum eine Ahnung davon erhielt.

»Doch dies sind lauter Nebensachen; von meiner Schwester allein wollte ich sprechen,« unterbrach sich Reichart, nachdem er mit vieler Mühe die Mittheilungen Mariens vor seiner Frau auseinander gewirrt hatte.

»Aber Du sprichst ja immerwährend von Marie,« versetzte die Bäuerin.

»Ich erzählte bis jetzt von Menschen, mit denen sie damals verkehrte,« entgegnete Reichart, der nicht ohne innere Befriedigung entdeckte, daß seine Frau bei seinen Mittheilungen ihren Kummer vergessen zu haben schien; »jetzt aber komme ich zu dem Theile ihrer Lebensgeschichte, in welchem der Grund zu ihrem Herzeleid gelegt wurde.

»Wie die Gräfin hier und da Bekanntschaften geschlossen hatte, so war auch Marie mit anderen Menschen in Berührung gekommen. Wenn sie es mir gegenüber auch nicht einräumte, so bezweifle ich doch nicht, daß Alle das schöne Mädchen bewunderten und der guten Eigenschaften wegen liebten. Sie war damals neunzehn Jahre alt, stand also in der Blüthe der Jugend; kein Wunder daher, daß die jungen Männer, reiche wie arme, die Augen auf sie warfen, sie auf Schritt und Tritt hin verfolgten und ihr auch wohl offen den Wunsch erklärten, sie als Frau heimzuführen. Doch alle Anerbietungen, die ihr gemacht wurden, wies sie zurück, wobei sie sich darauf berief, so lange ihre Wohlthäterin lebe, nicht von derselben weichen zu wollen. Dies hinderte sie indessen nicht, einem jungen Predigtamts-Candidaten, der in redlicher Weise um sie warb, ihre Liebe zuzuwenden, und sich ihm auf's ganze Leben und bis in die Ewigkeit hinein, gerade so, wie wir es vorher gemacht hatten, zu versprechen.

»Die Sache, wie ich sie jetzt auffasse, hatte Hand und Fuß: der Candidat war aus den Jahren des Leichtsinns heraus und doch jung genug, um warten zu können, ich meine auf eine Pfarre und auf die Hochzeit. Ferner war er ein Freund des Edelmannes, der die Gräfin zuweilen besuchte. Auch wußte dieser um die Sache und hatte versprochen, den Candidaten in seinen Bemühungen um eine Pfarrstelle nach besten Kräften zu unterstützen. Aber auch die Gräfin sprach offen ihre Zufriedenheit mit Mariens Wahl aus, vorausgesetzt, daß sie mit der Hochzeit warte, bis sie ihr die Augen zugedrückt habe.

»Es folgte darauf für meine Schwester eine Zeit, aus welcher ihr wohl, wie sie selbst sagt, ihres Lebens Kummer entsprang, die sie aber nichtsdestoweniger um keinen Preis aus ihrem Leben streichen möchte.

»Ja, es hätte so schön werden können,« fügte Reichart sinnend und wie zu sich selbst sprechend hinzu, »und Marie mit ihrer Güte gegen Jedermann wäre gewiß eine Predigerfrau geworden, wie man nicht leicht eine zweite findet. Es sollte indessen nicht sein, und wer weiß, wozu es gut gewesen ist.

»Marie war wohl seit anderthalb Jahren die Braut des Candidaten, da erkrankte plötzlich die Gräfin sehr schwer, so daß sich bei ihrem hohen Alter eine Aenderung zum Guten nicht mehr erwarten ließ. Marie war tief bekümmert, und nicht Tag oder Nacht wich sie vom Lager ihrer Wohlthäterin.

»CCWeine nicht, meine liebe Tochter,‹ sagte diese dann wohl zu ihr, wenn deren Kummer sie rührte, ›ich bin so alt, daß ich meine Lebensaufgabe als erfüllt betrachten darf; ich freue mich nur, zuletzt noch einen würdigen Menschen gefunden zu haben, auf den ich mit den besten Hoffnungen auf eine gute Verwendung meine Habe übertragen konnte. Auch für Dich habe ich gesorgt,‹ fügte sie dann jedesmal hinzu, ›und dafür, daß Dir und Deinem Bräutigam der Anfang nicht so schwer wird.‹ Dann schärfte sie ihr auch ein, außer dem alten Edelmanne und den Aerzten Niemanden zu ihr hereinzulassen, und vor allen Dingen den Kindern des ersteren, wenn sie sich einstellen sollten, den Eintritt zu verwehren; sie wollte dieselben nicht wiedersehen.

»Marie versprach Alles und hielt getreulich Wort. Aber es war, als ob der liebe Gott selber eine Verwirrung habe herbeiführen wollen; denn nur einmal noch kam der alte Edelmann an das Lager der sterbenden Gräfin, wogegen zwei Tage später die Nachricht eintraf, daß ein Schlagfluß seinem Leben ein Ende gemacht habe.

»Marie war in Verzweiflung. Der Gräfin die Wahrheit einzugestehen, wagte sie nicht, auch widerriethen ihr dies die Aerzte auf's strengste. Sie gab daher vor, als die Gräfin wieder einmal nach dem Edelmanne fragte, derselbe sei bettlägerig krank, worauf diese sehr große Besorgniß äußerte und dringend bat, er möge um keinen Preis zu früh aufstehen, indem von seiner Gesundheit das Heil vieler Menschen abhänge. Was damit gemeint sein könne, bedachte Marie nicht weiter; ihr war nur darum zu thun, der Gräfin die traurige Kunde zu verheimlichen, um ihr den letzten Kummer in diesem Leben zu ersparen.

»Des Edelmannes Kinder waren herbeigeeilt, um der Beerdigung ihres Vaters beizuwohnen und demnächst wohl auch ihre Erbschaft anzutreten. Merkwürdiger Weise machten sie keinen Versuch, die Gräfin zu sehen. Nur einmal erschienen sie im Hause, um sich nach der Gräfin Befinden zu erkundigen. Die Mittheilung meiner Schwester, daß die Kranke Niemanden zu sehen wünsche, überraschte oder ärgerte sie nicht, im Gegentheil, sie fanden die letzten Wünsche der Sterbenden sehr natürlich und schärften meiner Schwester dringend ein, für die Erfüllung derselben gewissenhaft zu sorgen und die Gräfin in keiner Weise durch zudringliche Verwandte behelligen und stören zu lassen. Marie hat denn auch das Ihrige getreulich gethan, und nachdem drei Wochen verflossen, war ihre Beschützerin sanft und selig eingeschlafen.

»Bei reichen Herrschaften muß es ganz anders sein, als bei uns ärmeren Leuten,« fuhr Reichart fort, nachdem er eine Weile geschwiegen und vor sich auf den Fußboden gestarrt hatte, »ja, ganz anders; denn die Gräfin war noch keine halbe Stunde todt, da drangen die beiden Kinder des Edelmanns plötzlich in das Sterbezimmer.

»Durch wen ihnen die Nachricht so schnell zugegangen war, hat meine Schwester nie erfahren können; ich denke mir aber, daß sie wohl Jemanden im Hause angestellt hatten, der, trotzdem es um Mitternacht war, sie herbeiholte.

»Die erste Begrüßung zwischen dem Officier, dessen Schwester und Marie war freundlicher Art. Die beiden Geschwister schienen sogar sehr zerknirscht zu sein und baten Marie, sie bei der Leiche allein zu lassen, um ungestört beten zu können.

»Was weiter vorgefallen, hat meine Schwester mir nur mit wenigen Worten vertraut. Der junge Graf und die Gräfin blieben wohl an zwei Stunden in dem Gemache, dann aber traten sie hervor, um Briefe abzuschicken, dem Gericht Anzeige zu machen und auf schleunige Versiegelung des Nachlasses zu dringen.

»Zur Versiegelung des Nachlasses kam es indessen nicht, indem diejenigen, die zu erben hofften, sich in der Nähe gehalten hatten und daher alle Personen, die zur Eröffnung des Testamentes nothwendig, anwesend waren. Man übertrug meiner Schwester und einigen Dienern die erforderlichen Vorbereitungen zur Beerdigung, und erst dann, als das Testament wirklich eröffnet und gelesen wurde, hatte man meine Schwester als Zeugin herbeigerufen. Man erwartete, daß ihr wenigstens ein Legat ausgesetzt worden sei.

»Man fand sich in solchen Erwartungen getäuscht. In dem Testament hatte die Gräfin meiner Schwester mit keiner Silbe gedacht, dagegen war das ungetheilte Vermögen, mit Ausnahme einiger kleiner, an arme Verwandte zu zahlender Summen, dem Neffen der Gräfin, dem kurz vorher gestorbenen Edelmanne, vermacht worden. Da dieser aber nicht mehr lebte, so ging die ganze Masse selbstverständlich in die Hände seiner beiden Kinder über. Dieselben konnten indessen nicht sogleich Besitz ergreifen, indem man von verschiedenen Seiten Einspruch erhob. Ich glaube, es kam sogar zum Proceß, der aber jedenfalls damit endigte, daß dem jungen Officier und seiner Schwester das ganze Vermögen zugesprochen wurde. Wie hätte es auch anders sein können? Sie waren die nächsten Erben ihres Vaters, und was diesem gehörte, mußte von Rechts wegen auch auf seine Kinder übergehen, und das Testament war ja schon gemacht worden, als der alte Edelmann noch lebte. Doch das soll uns nicht kümmern; möge ihnen der Gräfin Reichthum Segen bringen - ich wollte ja von Marie erzählen.

»Während der Krankheit der Gräfin hatte sie eine recht schwere Zeit durchgemacht, nicht, weil sie die arme Kranke so sorgfältig pflegte, nein, gewiß nicht, denn das that sie gern, sondern weil sie ihren Bräutigam kein einziges Mal sah. Er hatte ihr wohl einmal auf einen Brief geantwortet, dann aber waren die kleinen Zettel, die sie ihm gelegentlich schrieb, unbeachtet geblieben, und mit einer wahren Todesangst dachte sie daran, daß er vielleicht ebenfalls erkrankt sei und hülflos und nur von fremden, kaltherzigen Menschen gepflegt daliege.

»Die erste Stunde, welche sie nach der Eröffnung des Testamentes für sich hatte, benutzte sie dazu, nach der Wohnung des Candidaten zu eilen, um sich Aufschluß über die Ursache seines unerklärlichen Schweigens zu verschaffen.

»Die arme Marie - den Weg hätte sie sich immerhin ersparen können; sie fand die Wohnung ihres Bräutigams leer und zum Vermiethen bereit; er selbst aber war, nachdem er der Wirthin des Hauses einen Brief für meine Schwester übergeben, bereits vor acht Tagen abgereist. Wohin er gehen wollte, hatte er nicht angegeben; es wäre auch überflüssig gewesen, denn nach seinem Briefe an Marie war jede Verbindung zwischen ihnen abgebrochen. Die arme Marie - als sie mir vor beinahe acht Jahren die Geschichte erzählte, da liefen ihr die hellen Thränen aus den Augen, so daß ich mit ihr weinen mußte und mir vornahm, um sie nicht an ihr Elend zu erinnern, nie wieder mit ihr von der Vergangenheit zu sprechen.«

»Was stand denn in dem Briefe?« fragte die Bäuerin. »Oder hat sie ihn Dir nicht gezeigt?«

»Sie hat ihn mir gezeigt; da ich aber geschriebene Schrift nur schwer lese, so bat ich sie, mir denselben vorzulesen. Ich hatte nämlich auf ihren Bräutigam geschmäht und ihn einen treulosen Bösewicht genannt, und da wünschte sie denn, daß ich den Inhalt dieses Briefes kenne, um ihn, den sie heute noch über Alles liebt, nicht so hart zu beurtheilen. Wort für Wort habe ich den Brief nicht im Gedächtnisse behalten, aber er war so schön und fromm geschrieben, daß er sich wie eine Predigt anhörte und ich meinen Zorn beim Anhören desselben vergaß. Er bat sie um Verzeihung für den Kummer, der ihr aus ihrer Bekanntschaft mit ihm erwachsen sei, und schließlich flehte er Gottes reichsten Segen herab auf sie, deren Bild ihm noch in seiner letzten Stunde zum Troste und zur innigen, wehmüthigen Freude gereichen werde.

»Ja, dergleichen hatte er geschrieben, und als meine Schwester mir den Brief vorlas, glaubte ich, es müsse ihr das Herz abstoßen. So viel ich aber auch darüber nachdachte - und ich habe oft und viel darüber nachgedacht, - so vermochte ich doch nie, mir das seltsame Benehmen des Candidaten zu erklären. Er segnet sie, er spricht, als ob er nicht ohne sie leben könne, und dennoch geht er heimlich davon. Ich äußerte die Vermuthung, er habe vielleicht Kunde erhalten, daß sie, in dem Testamente der Gräfin nicht bedacht worden sei, und es deshalb vorgezogen, sich nach einer reicheren Frau umzuthun; Marie aber wies einen solchen Verdacht mit Entrüstung zurück. Dabei nahm sie alle Schuld auf sich und tadelte sich, daß sie in ihrer Ueberhebung an ein so großes Glück zu glauben gewagt habe - die arme Marie ...

»Die arme Marie,« wiederholte Reichart nach längerem Schweigen. »Nicht genug, daß der Candidat ihr ein so großes Herzeleid angethan hatte, mußte sie auch noch die bittersten Kränkungen von den vornehmen Leuten erdulden, die sich vor der in ihrem Sarge schlummernden guten Gräfin um das Mein und Dein zankten und stritten - ach, Mutter, ich glaube, vornehme Leute haben doch nicht so weiche Herzen, als wir armen Bauern, oder sonst ist es auch Mode bei ihnen, nach der Uhr in bestimmten Zwischenräumen um die Todten zu trauern und an ihre Geschäfte zu denken! Sie zankten sich und legten die Worte des Testamentes Jeder auf seine Art aus, und als Marie nach dem harten Schlage, der sie betroffen hatte, verzweiflungsvoll und bleich bei ihnen eintrat, da glaubte man, sie sei erbittert, weil die Gräfin ihr nichts vermacht habe. Namentlich nannten der Officier und seine Schwester sie geradehin undankbar und erklärten ihr, sie seien zu stolz, um die Dienste, welche sie bei Lebzeiten der Gräfin geleistet, unbezahlt zu lassen, und sie wollten ihr tausend Thaler aussetzen, was gewiß mehr sei, als sie jemals hätte hoffen dürfen, ihr Eigenthum zu nennen.

»Tausend Thaler, das ist freilich eine große Summe, wenn man sie auf einmal in Händen hat; allein Marie war eben so stolz, wie die Edelleute. Sie antwortete ihnen, daß sie reich genug durch das sei, was die Gräfin an ihr gethan habe, und sie möchten das Geld für sich behalten. Sie blieb darauf nur noch so lange im Hause, bis die Gräfin begraben war; dann verkaufte sie Alles, was sie mit Recht ihr Eigenthum nannte, nämlich die feinen Kleider und die Schmucksachen, um nur mit etwas Wäsche und ganz einfachen Kleidern zu uns zurückzukehren.

»Du erinnerst Dich wohl noch, wie sie damals hier eintraf - unser seliges Lieschen war gerade ins dritte Jahr getreten -, wie eine vornehme Dame sah sie gewiß nicht aus, eher wie eine Gestorbene, die dem Grabe entstiegen.

»Anfangs fürchtete ich wohl das Gerede der Leute; als ich aber bemerkte, wie sie so zufrieden in ihr Kämmerchen einzog, so ganz ohne Klage oder Bedauern überall mit Hand an die schwersten Arbeiten legte und sich so leicht an unsere Lebensweise gewöhnte, da beruhigte ich mich bald wieder. Haben die Leute aber wirklich noch Dieses oder Jenes von ihr gesagt, so verstummten alle Nachreden schnell, als man sie erst näher kannte und sie wegen ihrer Bereitwilligkeit, allen Menschen zu helfen und gefällig zu sein, lieben lernte. Für uns aber ist die Marie ein rechter Trost geworden, das mußt Du selbst sagen, Mutter, und es will mir fast scheinen, als ob seit ihrer Anwesenheit unter unserem Dache unsere Häuslichkeit noch viel behaglicher geworden wäre.«

»Es ist wahr!« pflichtete die Bäuerin mit einem tiefen Seufzer bei, denn die Erinnerung an ihre todte Tochter war wieder rege geworden. »Es ist Alles so sauber; aber Marie hat auch viel gelernt und weiß die kleinsten Sachen aufzustellen, daß sie viel schöner aussehen. Ach, wie glücklich könnten wir leben, wenn ...«

»Das war also Mariens Geschichte,« fiel Reichart seiner Frau schnell ins Wort, denn er hatte instinctartig herausgefühlt, daß deren künstlich eingeschläferter Kummer im Begriffe stehe, wieder laut auszubrechen; »ich habe Dir Alles erzählt, so gut ich es selbst wußte. Nun erinnere aber auch Du Dich Deines Verspechens und laß Dich nicht hinreißen, mit der armen Marie über ihre Vergangenheit zu sprechen. Man muß zufrieden sein mit dem neuen Kummer und nicht alten auffrischen, indem man unheilbare Herzenswunden anrührt. Die Marie hat mehr ertragen, wie tausend und tausend Menschen zu tragen auferlegt wird, und sie verdient nicht, daß man sie immer wieder von Neuem quält. Schlimm genug, daß ihr Leid ein solches ist, von welchem sie nur der Tod dereinst befreien kann, ja, nur der Tod - die arme, arme Marie! Aber Mutter, nun folge auch meinem Rathe, lege Dich zu unserem neuen Lieschen auf das Bett und versuche, eine Stunde zu schlafen. Auch ich bin müde und erschöpft; ich werde mich neben den Ofen setzen; die Lampe kann ja brennen bleiben.«

»Die arme, arme Marie!« wiederholte die Bäuerin leise, indem sie sich erhob; dann schritt sie langsam nach dem Himmelbette hin.

Eine Weile betrachtete sie das in dem Dämmerlichte nur undeutlich hervortretende schlummernde Kind mit traurigen Blicken. Die Thränen, die so lange zurückgehalten werden waren, hatten sich wieder Bahn gebrochen; aber sie flossen mild und das bedrückte Herz erleichternd. Mechanisch zog sie ihr Oberkleid aus, und mit angehaltenem Athem legte sie sich hart an den Rand der knarrenden Bettstelle oben auf die Kissen.

Das Kind schlief ruhig weiter; das eigenthümliche Geräusch vermochte nicht, in seinen Schlummer einzubringen. Eben so schlief es ungestört weiter, als die bekümmerte Mutter sein ihr zunächst befindliches Händchen ergriff und in ihrer eigenen Hand barg. Aber auch die Mutter athmete allmählich ruhiger und regelmäßiger. Die Berührung des Händchens, in welchem das Blut so lebenswarm kreiste, wirkte wohlthätig auf sie; die Lider sanken schwer über die vom Kummer getrübten Augen hin, und gleich darauf waren vergessen des Lebens Qualen und Sorgen.

Stiller wurde es in dem Gemache; verschlafen tickte die Uhr, verschlafen nahmen sich die Gypsfiguren, die Aepfel und namentlich das weiße Kaninchen aus. Selbst das altmodische Spind mit den Tassen und Kannen, dem dürren Blumenstrauße und den beiden schielenden Pfauenaugen erhielt durch den Einfluß der matten Beleuchtung und der nur durch ruhige Athemzüge, heiseres Uhrticken und klingenden Heimchenruf unterbrochenen Stille einen gewissen äußeren Charakter der Uebermüdung. Die warme Stubenluft schien mit Traumgebilden angefüllt zu sein, die sich hier und dort auf geschlossene Augen senkten und sich demnächst innig an die Herzen anschmiegten. Und liebe, freundliche Bilder waren es gewiß, denn das schlummernde Lieschen lächelte beseligt; über das abgehärmte Antlitz der Bäuerin flog ein glücklicher Schimmer, während ihre Hand sich fester um das Händchen schloß, und die in dem Lehnstuhle ruhende derbe Gestalt des Hausherrn zeigte wieder ihr alte Kraft und Zähigkeit.

Die arme, arme Marie in der kalten Kammer! Sie schlief nicht, sie träumte nicht, eben so wenig wie das todte Lieschen neben ihr. Und dennoch zogen auch vor ihrem Geiste mancherlei Bilder vorüber, aber Bilder, die den sich verstohlen nähernden Schlummer schnell wieder verscheuchten; traurige Bilder der Vergangenheit, frisch belebt durch den Anblick der kleinen, stillen Leiche; traurige Bilder, bald die guten, treuen Augen, die trostlos in das glimmende Lämpchen starrten, mit Thränen verschleiernd, bald der wunden Brust einen schmerzlichen Seufzer entwindend - die arme, arme Marie!

Der Meerkönig

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