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6. Doctor Bergmann und sein Liebling.

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Fast zu derselben Zeit, in welcher Herr Seim die Wohnung des Grafen Hannibal verließ, trat mit nicht geringerer Eile ein kleiner Herr aus einer zu dem dürftigsten Viertel der Stadt führenden Gasse in die Hauptstraße, um nach kurzem Sinnen die Richtung nach dem Viertel oder Achtel oder Sechzehntel der vornehmen Leute einzuschlagen.

Derselbe hatte zum Schutze gegen die Kälte den Kragen seines Ueberziehers emporgeschlagen und seinen Hals durch ein wollenes Tuch geschützt. Seine Hände dagegen waren unbedeckt, obwohl der krampfhafte Griff, mit welchem die rechte Faust den langen Rohrstock unterhalb des goldenen Knopfes umschloß und bei jedem Schritte schallend auf die Erde stieß, darauf hindeutete, daß er doch nicht so unempfindlich gegen die Kälte sei, wie man bei einem flüchtigen Hinblicke vielleicht zu vermuthen geneigt war.

Die Wahrheit ist: der kleine Herr trug die Handschuhe in der linken Hand und hatte nur vergessen, sie anzuziehen, was sehr zu entschuldigen, weil er viel wichtigere Dinge, als etwas Frost, zu bedenken hatte. Das hinderte indessen nicht, daß er Stock und Handschuhe zuweilen austauschte, recht derb in die jedesmal die Handschuhe tragende Hand hineinhauchte, dabei einzelne Bemerkungen des Unwillens über die grimmige Kälte und deren Folgen für die armen, an Holz Mangel leidenden Leute fallen ließ, und zwar in so lautem Tone, daß die ihm Begegnenden, in der Meinung, von ihm angeredet zu sein, sich mehrfach nach ihm umschauten.

Er kümmerte sich indessen um nichts weniger, als um die Vorübergehenden. Er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen, und offenbar ein recht bedeutsames, oder er hätte seine Schritte nicht so sehr beflügelt; denn seine kurzen Beine, die einem ziemlich wohlbeleibten, jedoch nicht unproportionirten Oberkörper als Stütze dienten, bewegten sich in einem so raschen Tacte an einander vorbei, daß man deren Bewegung bei dem unsteten Laternenlicht kaum mit den Augen zu verfolgen vermochte.

Wäre er langsamer gegangen oder gar vor einer der flackernden Gasflammen ein Weilchen stehen geblieben, daß man ihn hätte genauer betrachten können, so würde man sich unstreitig an seinem Aeußeren ergötzt haben; doch nicht etwa, weil seine Gestalt um ein Erhebliches hinter der Mittelgröße zurückgeblieben war, oder weil die unstete Beleuchtung die merkwürdigsten Reflexe auf seine geröthete Nase warf, nein, keineswegs, denn das bemerkte man kaum; allein die freundlichen blauen Augen, die so klug und wohlwollend durch die ovalen Gläser seiner Brille rastlos umherschweiften, hätten dann wohl gefesselt, wie auch der Zutrauen erweckende, redliche Ausdruck, der auf dem ältlichen und nicht unschönen Gesichte, namentlich aber um die energisch zusammengekniffenen Lippen und die etwas über die Mittelgröße gerathene Nase schwebte.

Ja, die Nase hatte einen lebhaften Anflug, und zwar nicht allein von der Kälte, denn in diesem Falle hätte sie sich in der warmen Stube stets wieder entfärben müssen, was sie aber absolut nicht that, offenbar, um zum Verräther an ihrem jovialen Besitzer zu werden und der Welt hinterlistig zu verkünden, daß er nicht nur stark schnupfe, sondern auch zu gelegener Zeit sein Glas Rothwein trinke, ohne indessen dadurch zum regelmäßigen Trinker zu werden. Jedenfalls paßte die Nase zu dem Gesicht so vortrefflich, daß unter den vielen Tausenden, die in ihrem Leben schon einen Blick auf dieselbe geworfen, nicht ein einziger an ihr oder ihrem Besitzer etwas zu tadeln gefunden hätte.

»Hm, solche nichtswürdige Kälte, und dazu mitten im Winter, wo es den armen Leuten überhaupt schon der Theuerung wegen so kümmerlich geht!« grollte der kleine, alte Herr ärgerlich vor sich hin, als ob ihm fünfzehn Grad unter Null in den Hundstagen lieber gewesen wären.

»Tausend - Welt, noch einmal! Da schaffe Einer eine warme Stube, wenn er kein Holz und auch kein Geld hat - abscheulich! Aber das muß anders werden!« fuhr er nach einer Pause fort, und wie um seine Versicherung zu bekräftigen, schob er sein spanisches Rohr unter den linken Arm, worauf er eine große, silberne Tabaksdose aus der Westentasche hervorsuchte und mit der linken Hand auf dieselbe klopfte.

»Wahrhaftig zugefroren - tausend Welt, noch einmal!« sprach er laut, als der fast hermetisch schließende Deckel nicht sogleich vor seinen steif gefrorenen Fingern wich. »Aber warte, Halunke!« schalt er weiter, und nachdem er einige Male auf den Deckel gehaucht und demnächst mit dem Knopfe seines Rohrs gegen die Seite der Dose geklopft hatte, gelang es ihr leichter, Zugang zu dem köstlichen Inhalte zu finden.

»Ah, es ist unverantwortlich, bis in die Taschen hinein zu frieren! Aber, tausend Welt, wo sind meine Handschuhe?« fuhr er plötzlich auf, indem er, nach Unterbringung der Dose, alle Taschen prüfend betastete, jedoch seine linke Hand zu untersuchen vergaß, in der er sonst ganz gewiß die in Kugelform zusammengerollten Handschuhe gefunden hätte.

»Hm, meine theure Hälfte wird schönen Feuerlärm schlagen, wenn sie merkt, daß schon wieder ein Paar zum Teufel ist! Das sind schon die zweiten in dieser Woche. Wenn ich nur wüßte, wie sie ausgesehen haben! Kauf ich mir neue, so hilft's mir nicht, sie merkt's auf der Stelle, die gute Seele. O, terque quaterque, beati!« und dies mit einer unnachahmlichen komischen Herzlichkeit ausrufend und ohne die Eile seiner Schritte zu mäßigen, führte er sein spanisches Rohr mit kunstgerechter Bewegung, als sei es eine Flöte, an die Lippen, um einen lustigen Accord zu zischen - zum Pfeifen war es zu kalt - und mit den erstarrten Fingern die entsprechenden Griffe folgen zu lassen.

»Ah, da sind sie ja!« rief er vergnügt aus, als ihm beim Ansetzen der Finger an die Stellen, wo er sich die Flötenklappen dachte, die Handschuhe beinahe entfallen wären. »Ein wahres Glück, tausend Welt! Da sieht man, wozu das Flötenblasen gelegentlich gut sein kann!« Und schnell streifte er die Handschuhe auf seine Finger.

Eine lange Strecke legte er jetzt rüstigen Schrittes zurück, ohne wieder in sein behagliches Selbstgespräch zu verfallen. Erst als er in eine andere, hell erleuchtete Hauptstraße einbog, verlieh er seinen Gedanken und Betrachtungen auf's Neue halblaute Worte.

»Soll mich wundern, ob ich sie zu Hause treffe,« begann er, nach der Richtung hinüberspähend, in welcher sein Ziel lag. »Vornehme Leute sind manchmal wunderlich, sie gehen in Gesellschaft, wenn andere Menschen das Bett aufsuchen. Hm, das ist das Einzige, was mir an meiner kleinen Renate nicht gefällt; schadet aber nicht, bleibt doch ein prächtiges Mädchen, und ihre Schuld ist es nicht, wenn ihr Vater verlangt, daß sie sein Haus repräsentiren soll. Armes Kind, keine Mutter, einen ganz braven Vater, der sich indessen nicht viel um sie kümmert - sich also ohne allen Schutz durch die verderbte Welt durchwinden zu müssen! Hm, hm, hm, habe sie sehr lieb, die kleine Gräfin. Besitzt sie doch ein Herz, wie Gold, und mehr Verstand, als hundert Andere aus ihren Kreisen zusammengenommen!«

Unter solchen Bemerkungen, die sich nicht etwa eine unmittelbar an die andere anschlossen, sondern in längeren Pausen auf einander folgten, war der kleine Herr vor ein stattliches Haus gelangt, vor welchem zwei Laternen die Auffahrt hell beleuchteten und die Residenz eines vornehmen und reichen Mannes bezeichneten.

Nachdem er sich durch einen Blick nach dem Theile des Gebäudes hinauf, in welchem diejenige wohnte, die er zu sprechen wünschte, überzeugt hatte, daß die Fenster erleuchtet waren, trat er mit entschiedenem Wesen an das Portal heran, und gleich darauf ertönte in der Wohnung des Portiers ein heftiges Klingeln.

Die Thür wurde augenblicklich von unsichtbaren Händen geöffnet, und als der kleine Herr eintrat, eilte ihm auch schon ein Diener, der von dem energischen Klingeln auf sehr hohen Besuch gerechnet hatte, entgegen.

»Es ist nur der Herr Doctor,« sagte der Diener enttäuscht, aber höflich, sobald er den Eintretenden erkannte.

»Ja, ich bin der Doctor Bergmann, Freund, das lasse ich mir schon gefallen, allein das ›Nur‹ können Sie sich für jemand Anderes aufsparen - verstanden? Ich bin der Herr Doctor Bergmann und wünsche der Gräfin meine Aufwartung zu machen!«

»Die gnädige Gräfin steht im Begriffe, auszufahren; es ist bereits angespannt und dürfte es daher für den Besuch des Herrn Doctors zu spät sein,« antwortete der Diener noch höflicher, als zuvor.

»So, also ausfahren?« fragte der Doctor, die Arme über der Brust kreuzend und dem Diener herausfordernd in die Augen schauend. »Das können Sie allerdings wissen, lieber Mann; wer aber hat Ihnen gesagt, daß die Gräfin mich nicht vorher sehen will?«

»Von dem Herrn Doctor hat die Gräfin gerade nicht gesprochen; es hieß nur im Allgemeinen, daß sie heute Abend ausfahre und deshalb nicht mehr zu sprechen sei.«

»Gut, Freund, so gehen Sie nur hin und sagen Sie, der Doctor Bergmann sei da und habe ihr etwas dringend Nothwendiges mitzutheilen.«

Der Diener verschwand ohne Säumen auf der Treppe, erschien aber schon nach einer Minute wieder, um dem Doctor zu verkünden, daß es der Gräfin sehr angenehm sein würde.

Der Doctor nickte mit dem Kopfe, und nachdem er die Hülfe des Dieners zurückgewiesen, der ihm beim Ablegen seines Ueberziehers behülflich sein wollte, folgte er ihm langsam die mit dicken Teppichen belegte Treppe hinauf nach.

Vor der Thür der Gräfin blieb der Diener stehen, um den Doctor herankommen zu lassen und auf ein Zeichen von ihm die Thür zu öffnen. Doch auch hier wies er die angebotene Hülfe zurück; dagegen klopfte er selbst an, und ehe noch das freundliche und wohlklingende »Herein« ganz ausgesprochen war, befand er sich Renaten gegenüber.

»Tausend Welt, meine liebe Gräfin, sehen Sie wieder schön aus!« rief der alte Herr enthusiastisch, indem er die mit einem holden Lächeln dargereichte kleine Hand galant küßte und demnächst sein seidenes Taschentuch hervorholte, um die durch die Wärme getrübten Gläser seiner Brille zu poliren.

»Als ob ich nicht immer schön wäre!« lautete die mit einem bezaubernden Gemisch von Herzlichkeit und heiterer Laune ertheilte Antwort. »Aber setzen Sie sich, lieber Doctor, und erzählen Sie mir vor allen Dingen, welcher Art die wichtigen Geschäfte sind, die Sie noch zu so später Stunde hierhergeführt haben.«

Der Doctor hatte unterdessen seine Brillengläser gesäubert und nahm der Gräfin gegenüber Platz, während der ganzen Zeit aber keinen Blick von ihrem Antlitz wendend.

Und wohl hatte er Recht, die junge Gräfin schön zu nennen und seinen Ausspruch durch die aus seinen Augen hervorleuchtende Bewunderung gleichsam zu bekräftigen; denn wenn jemals Jugend und Liebreiz sich vereinigten, um ein weibliches Wesen mit einem unwiderstehlichen Zauber zu schmücken und zu umgeben, so war dies in vollstem Grade bei der jungen Gräfin Renate geschehen, nicht zu gedenken, daß aus den holden Zügen nur solche innere Regungen sprachen, die an sich schon genügend sind, alle Herzen zu gewinnen und für sich einzunehmen. Obwohl bereits im einundzwanzigsten Jahre, hatte das classisch geformte Gesicht doch viel von jenem kindlich-heitern, fast neugierigen Ausdruck beibehalten, der gewöhnlich mit den Kinderjahren Abschied nimmt und einer erhöhten, leider zu oft erkünstelten Befangenheit seine Stelle einräumt.

Ihre Haut war von fast durchsichtiger Zartheit, und lieblich contrastirten zu einander die rosig angehauchten Wangen, die reine Weiße des übrigen Antlitzes, die tiefblauen Augen mit den langen, dunklen Wimpern und Brauen, das üppige, einfach gescheitelte dunkelblonde Haar und der kleine, holdselig lächelnde rothe Mund mit den blendend weißen Zähnen.

Ihr Profil hatte einen edlen, gewissermaßen südlichen Schnitt und schien mehr auf tiefen, sinnenden Ernst zu deuten, so daß es überraschte, beim Hineinblicken in das volle Antlitz, dieses in jugendlicher Heiterkeit und einem Anfluge von Schalkhaftigkeit strahlend zu finden.

Der Besuch des Doctors, den sie wie einen lieben Freund empfing, hatte den Ausdruck der Heiterkeit noch gesteigert. Augenscheinlich erfreute sie es, von ihm bewundert zu werden; sie scheute sich sogar nicht, dem alten Herrn gegenüber etwas Coquetterie anzuwenden, die indessen so sehr in bestimmten Grenzen gehalten wurde, daß sie ihr mehr zur Zierde gereichte, namentlich aber einen anmuthigen Gegensatz zu der zwar reichen, jedoch im Schnitt durchaus einfachen Kleidung bildete, die den hohen, schlanken Körper umschloß.

»Wenn Sie mich lange genug betrachtet haben, lieber Herr Doctor,« begann Renate endlich, nachdem dieser abermals seine Brille behutsam abgewischt und mit den ausgebreiteten Fingern seiner rechten Hand in die über der Nase bereits tief ausgeprägte Falte gedrückt hatte, »dann gestatten Sie wohl Ihrem gehorsamsten Lieblinge, zu bemerken, daß ich im Begriff stehe, auszufahren.«

»Was so viel heißen soll, wie: Lieber Doctor, ich sehe Sie zwar sehr gern, aber in diesem Augenblicke wäre es mir doch lieber, wenn Sie sich zum Teufel scherten!« antwortete der Doctor, seine Tabaksdose mechanisch hervorziehend und mit derselben spielend.

»So etwas trauen Sie mir zu?« fragte die Gräfin mit erheuchelter Entrüstung, wobei aber ihre Augen vor innerem Wohlgefallen leuchteten. »Sie, der älteste Freund unseres Hauses, und mir, der wilden Renate, die einen großen Theil ihrer Erziehung den gediegenen Rathschlägen des hochverehrten Herrn Doctors Bergmann verdankt?«

»St!« zischte der alte Herr, indem er seine Dose schnell in die Westentasche schob und zu Renatens größtem Ergötzen auf seinem Stock, der ihn nie verließ, offenbar ohne es selbst zu wissen, einen kurzen Accord blies. »St, nur immer ruhig, meine liebe Renate, es war nicht so schlimm gemeint; ereifern Sie sich daher nicht, das beeinträchtigt Ihre Jugend und Schönheit ...«

»Immer der alte, liebenswürdige Schmeichler!« unterbrach ihn Renate mit hellem Lachen. »Aber Sie sind unvorsichtig, lieber Doctor, denn wiederholen Sie mir das noch oft, so bin ich gezwungen, es zu glauben!«

»Tausend Welt, als ob Sie das nicht längst wüßten!« polterte der Doctor, und mit der Schnelligkeit eines Gedankens hatte er von seiner Tabaksdose den richtigen Gebrauch gemacht. »Wissen Sie doch, daß Sie Ihrer vortrefflichen Mutter sprechend ähnlich sind, und das will doch wohl genug sagen!«

Bei diesen Worten stützte er beide Hände und das Kinn auf den goldenen Knopf seines Stockes, und mit wehmüthigem Ernst, jedoch innigem Wohlgefallen schaute er wieder zu Renate hinüber.

Die Augen der Gräfin hatten sich umflort.

»Warum mußte ich so früh meine arme Mutter verlieren?« sagte sie mit einem tiefen Seufzer.

»Ruhig, ruhig, liebes Kind, das läßt sich nun einmal nicht ändern; wenn der liebe Gott es einmal so beschlossen hat, dann sind wir Aerzte an den Krankenbetten die reinen Waisenknaben. Sie haben Ihre Mutter lange nicht so kennen gelernt, wie ich, denn Sie waren damals noch ein kleines Kind; auch dürfen Sie nicht vergessen, daß Sie noch einen Vater haben.«

»Der sich indessen nur wenig um mich kümmern kann,« schaltete die Gräfin ein.

»Ist auch nicht nöthig, mein liebes Kind; Sie sind verständig genug, um allein zu denken und zu handeln, und schlimmsten Falls haben Sie auch Freunde, warme, aufrichtige Freunde.«

»Unter denen ein gewisser Doctor Bergmann obenan steht,« versetzte Renate, dem alten Herrn mit einem dankbaren Lächeln die Hand reichend.

»Nun ja, Sie mögen nicht so ganz Unrecht haben,« entgegnete der Doctor, indem er die dargebotene Hand mit aller Kraft drückte, und auf Renatens schmerzhaftes Zucken ein väterliches: »Bitte um Verzeihung!« folgen ließ. »Aber wirklich, ich bin nicht gekommen, um Sie trübe zu stimmen oder großartige Elogen mit Ihnen auszutauschen - sagen Sie mir, wohin wollen Sie noch, trotz aller Nacht und Kälte, fahren?« fragte er plötzlich im Geschäftstone und sein rundes Kinn wieder auf den goldenen Knopf stützend.

»Zur Gräfin Clotilde.«

»Die Gräfin Clotilde kann Sie auf einen andern Abend einladen.«

»Aber warum denn, lieber Herr Doctor?«

»Weil Sie heute Abend nicht hinfahren werden.«

»Darf ich nach dem Grund fragen?«

»Gewiß, gewiß, mein liebes Kind; weil Sie mit mir fahren müssen, oder ich vielmehr mit Ihnen, denn ich bin zu Fuße hergelaufen. Ich hatte nämlich keine Zeit, vorher nach Hause zu gehen und anspannen zu lassen.«

»Und wohin, wenn ich fragen darf?« erwiderte die Gräfin keineswegs überrascht, jedoch mit einem hohen Grade von Spannung und natürlicher Neugierde sich dem Doctor zuneigend.

»Dahin, wohin Sie und ich gehören - ich meine, in die Wohnung des unverschuldeten Elends. Also beeilen Sie sich, mein liebes Kind, wickeln Sie sich warm ein, denn draußen ist es malitiös kalt, und dann vorwärts!«

»Solch strengem Befehle gegenüber läßt sich allerdings nichts ausrichten,« versetzte die Gräfin, sich mit der größten Bereitwilligkeit erhebend, welchem Beispiele der Doctor, in der einen Hand den Hut, in der andern den Stock, augenblicklich folgte. »Aber behalten Sie Platz, Herr Doctor, so schnell geht das nicht,« fügte sie mit herzlicher Freundlichkeit hinzu: »erstens muß ich absagen lassen ...«

»Schicken Sie einen Bedienten hin, liebes Kind.«

»Nein, das geht nicht,« entgegnete die Gräfin, zu ihrem Schreibtische hineilend. »Ich weiß wohl, Sie lieben die Gräfin Clotilde nicht sehr ...«

»Nein, wahrhaftig nicht!« rief der Doctor aus, indem er sich in Bewegung setzte und mit eiligen Schritten und seinen Stock fest auf die den Schall dämpfenden Teppiche aufstoßend das Gemach zu durchmessen begann.

»Nun, wenn Sie die Gräfin auch nicht lieben, so darf das für mich doch kein Grund sein, mir eine Unhöflichkeit zu Schulden kommen zu lassen.«

»Gewiß nicht, mein liebes Kind,« pflichtete der Doctor mürrisch bei.

»Uebrigens thun Sie der Gräfin sowohl als auch ihrem Bruder großes Unrecht, denn Beide haben mir mehr als einmal die untrüglichsten Beweise ihrer wahrhaft freundschaftlichen Gesinnungen und Anhänglichkeit gegeben.«

»Wir wissen auch, warum,« grollte der Doctor, seinen Stock während des Gehens heftiger aufstoßend. »Eine reiche Erbin findet man nicht alle Tage - Tausend Welt! - und ein so schönes Mädchen dazu. Denke aber, mit dabei zu sein. Hm, ja, es ist niederträchtig!«

Die Gräfin achtete nicht auf die halblaut gesprochenen Worte; sie hatte zu schreiben begonnen. Sobald Sie den kurzen Brief beendigt und zugesiegelt hatte, drückte sie mit dem Zeigefinger auf eine vor ihr stehende Glocke, auf deren silberreinen Klang sogleich ein Diener erschien.

»Tragen Sie den Brief zu der Gräfin Clotilde,« sagte sie mehr bittend als befehlend. »Verstehen Sie mich auch recht; geben Sie den Brief ab, ohne auf Antwort zu harren. Bestellen Sie im Vorbeigehen, daß der Wagen vorfahre, und lassen Sie noch einen zweiten Fußsack hineinlegen.«

»Sehr gut, mein liebes Kind,« bemerkte der Doctor, sobald die Thür sich hinter dem Diener geschlossen hatte. »Aber legen Sie festes Schuhzeug an, wir werden wohl eine Strecke zu Fuß gehen müssen.«

»Zu Fuße?« fragte die Gräfin befremdet.

»Ja, zu Fuße,« entgegnete der Doctor entschieden. »Seien Sie indessen unbesorgt; erstens bin ich bei Ihnen, und dann ist die frische Nachtluft Ihnen auch nur gesund.«

»Muß ich etwas Geld mitnehmen?« fragte die Gräfin mit bezauberndem, kindlich-folgsamem Wesen zurück.

»Ein paar Thaler können nicht schaden, denn das meinige habe ich bis auf den letzten Pfennig ausgegeben. Besser ist aber noch etwas Wäsche, und vor allen Dingen eine oder zwei wollene Decken.«

Die Gräfin verschwand in ein Nebengemach; der Doctor dagegen begann von Neuem mit vergrößerter Hast auf und ab zu schreiten, mit verstärkter Heftigkeit seinen Stock auf den weichen Teppich zu stoßen oder flötenartig an seine Lippen zu bringen und, wie um das Versäumte nachzuholen, häufiger seiner Tabaksdose zuzusprechen.

Aber auch sein Geist schien noch reger geworden zu sein, denn in schnellerer Folge entwanden sich die in laute Worte gekleideten Gedanken seinen Lippen.

»Hm, ein prächtiges Mädchen,« sprach er vor sich hin, und seine Blicke streiften gleichgültig die reiche und geschmackvolle Einrichtung des Gemaches. »Gerade wie ihre Mutter - habe die gute Frau in meinen jungen Jahren mehr geliebt, wie meine Alte vielleicht gutgeheißen hätte - schadet aber nicht, sie verdiente auch Liebe, und ihr einziges Kind verdient sie auch - Tausend Welt, das Mädchen ist mir an's Herz gewachsen! Hm, und so brav und edel, so vertrauensvoll - thut Alles, was ich sage - sie kann's aber auch, denn lieber ließ ich mir den Kopf amputiren, ehe ich ihr einen schlechten Rath ertheilte! Huh, diese Gräfin Clotilde und ihr sauberer Bruder! Wollen mir das Kind umstricken - aber ich passe auf - Tausend Welt noch einmal! Im Gutesthun veredelt sich das Gemüth, und an Gelegenheit lasse ich es ihr nicht fehlen.«

Dieser Art war das Selbstgespräch, welches der Doctor führte, und so weit war er auch ungefähr mit seinen Betrachtungen gekommen, als die Gräfin vollständig reisefertig in der Thüre erschien. Ihr auf dem Fuße folgte mit einem umfangreichen Bündel eine ältere Dienerin, die den Auftrag erhielt, ihre Last sogleich in den Wagen zu legen.

Der Doctor zögerte darauf nicht länger. Nachdem er noch einen zufriedenen, fast zärtlichen Blick auf Renate geworfen, in deren lebhaften Augen die hohe Theilnahme glühte, welche sie schon jetzt für eine ihr noch vollständig unbekannte Sache hegte, schritt er ihr voraus der Thüre zu.

Ein Diener, auf dem Arme den Ueberrock des Doctors, schloß sich ihnen auf der Treppe an, doch bequemte der alte Herr sich erst unten auf der Hausflur dazu, den Rock, und zwar, nach Zurückweisung jeder Hülfe, anzuziehen, und einige Secunden später saß er neben der Gräfin im Wagen. Er bezeichnete sodann noch die Stelle, auf welcher der Wagen halten solle, und in raschem Trabe eilten die Pferde durch die erleuchteten Straßen dem in nur spärlich durch trübe Laternen unterbrochenem Dunkel daliegenden verrufensten Stadttheile zu.

Der Meerkönig

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