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1. Im Walde.

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Früher als sonst senkte der Abend sich auf Wald und Flur. Es hatte den ganzen Tag geschneit; aber noch immer trübten und verschleierten große, daunenartig zusammengeballte Flocken die Fernsicht.

Auf den freien Flächen kämpfte der Schein der ebenen, weißen Schneelage zwar noch mit Erfolg gegen die Dämmerung. Wo aber Baum und Strauch sich zu Gruppen und umfangreichen Gehölzen vereinigten, da verdichtete sich die Dunkelheit durch das Zusammenwirken der Schatten und des melancholisch eintönigen grauen Himmels schneller, während in den wohlbestandenen Forsten sogar um die Mittagszeit die Helligkeit sich kaum über ein geheimnißvolles Zwielicht erhoben hatte.

Und dennoch war es so schön in dem düstern Tannenwalde, so schön contrastirten die im üppigen, schwarzgrünen Nadelschmucke prangenden Zweige gegen die blendend weiße Last, die ihnen bei der herrschenden Windstille allmählich aufgebürdet worden war und sie tiefer und tiefer hinabbeugte. Zahllose Flocken umspielten sie unablässig, und die stattlichen Baumkronen waren, wie um sich gegenseitig zu erwärmen, so in einander verwachsen und verschlungen, daß jenen nur dürftige Oeffnungen blieben, durch welche sie ihren Weg niederwärts auf das zum Theil noch grau schimmernde, harzig duftende Erdreich fanden.

Auf den Lichtungen und den breiten Holzstraßen, über welche das immergrüne Dach nicht fortreichte, lag der Schnee dafür um so höher, so hoch in der That, daß weder Wagengeleise noch Gräben mehr zu erkennen waren, und die zerstreuten Reihen der Holzklafter entfernt an riesenhafte weiße Grabhügel erinnerten. Spuren waren nirgends zu erblicken, weder von Menschen, noch von Thieren; scheuten sich doch selbst die um die Abendzeit sonst so regsamen Hasen, nachdem sie sich hatten verschütten lassen, die ungewohnte Decke, unter der sie mit einem so seltenen Sicherheitsgefühl träumten, von sich abzuschütteln und ihre nächtlichen Streifereien zu beginnen.

Ja, die Hasen träumten ohne allen Zweifel; sie träumten gewiß von einem ewigen Weltfrieden, wie die Bäume vielleicht im Traume der drohenden Axt und des über ihr Leben entscheidenden Försters gedachten; und Ueberlegung und Denkvermögen hätte man ihnen zuschreiben mögen, wenn man sie beobachtete, wie sie so ernst und selbstbewußt emporragten und geduldig die ihnen aufgebürdete Last trugen.

Glitt aber hier oder dort die bis zum Uebermaße angewachsene Schneeanhäufung von einem tief herabgebogenen Zweige, um stäubend zur Erde zu sinken, und schnellte der Zweig in Folge der plötzlichen Erleichterung wieder in seine gewohnte Lage empor, dann sah es aus, als ob der Baum aus seinem Schlafe aufgeschreckt worden sei, doch, von unbesiegbarer Müdigkeit befallen, im Begriffe stehe, wieder einzunicken.

So schlief der Wald, so schliefen die Thiere, die ihn zu anderen Zeiten reich belebten. Nur ein einsamer Fuchs, von der Noth getrieben, watete bedächtig durch den tiefen Schnee, bald spähend nach dürftiger Beute, bald aufmerksam horchend in die Ferne, von woher seine eigenen Feinde sich ihm geräuschlos nähern konnten.

Er war eben aus dem Holze auf den breiten Fahrweg getreten, als das Schnauben eines Pferdes ihn erschreckte.

Den einen Vorderfuß emporgehoben, blieb er stehen, mit gespitzten Ohren argwöhnisch nach der unwillkommenen Störung hinüberlauschend.

Der fallende Schnee und die Dämmerung hinderten ihn, den Gegenstand seiner Besorgniß zu entdecken, dagegen unterschied er mit scharfem Organ um so deutlicher das Rasseln von Ketten und das gedämpfte Poltern eines sich nähernden Wagens.

Das Klingen des Eisens mußte dem listigen Räuber besonders widerwärtig sein, denn nachdem er einen kurzen Blick um sich geworfen, krümmte er sich zusammen, und demnächst emporschnellend, gelangte er mit einem mächtigen Satze aus dem Wege in das gegenüberliegende lichte Stangenholz hinein.

Fünf- oder sechsmal noch wiederholte er die weiten Sprünge, deren Spuren sich in der Entfernung von jedes Mal etwa sechs Ellen nur als kleine, unregelmäßige Höhlungen in dem lockern Schnee auszeichneten, und dann eilte er in weniger anstrengendem Laufe durch das hohe Holz einer niedrigen Schonung zu, die sich weiter abwärts fast parallel mit der Landstraße hinzog.

Er hätte unbesorgt am Wege sitzen bleiben können, denn diejenigen, welche so plötzlich seine Furcht wachriefen, beabsichtigten nichts weniger, als einem armen, halb verhungerten Fuchse nachzustellen, und wenn er auch zehnmal in ihren Hühnerstall eingebrochen wäre und unter dem Schutze der Dunkelheit ihren stolzesten Hahn gewürgt hätte. Da er aber alle Dörfer und Gehöfte, selbst in der weiteren Umgebung, ziemlich genau kannte, so ließ sich voraussetzen, daß die späten Reisenden ebenfalls nicht von seinen Räubereien verschont geblieben waren, indem sie, nach dem Leiterwagen, den Pferden und Geschirren und nach der eigenen winterlichen Umhüllung zu schließen, dem Bauernstande angehörten und daher in der Nachbarschaft zu Hause sein mußten.

Sie kamen aus der Richtung, in welcher die Stadt lag; nur die dringendste Nothwendigkeit konnte sie gezwungen haben, eine mehrere Meilen weite Reise durch das dichte Schneegestöber zu unternehmen. Doch mochten ihre Geschäfte noch so dringender Art gewesen sein, ihr heimatliches Dorf wer weiß wie nahe oder weit entfernt von ihnen liegen, die Pferde schritten so langsam und bedächtig einher, als ob die Fahrt durch die winterliche Landschaft und der mit dem Einbruche der Nacht sich wieder verstärkende Schneefall ein ersehnter Genuß für sie gewesen wären.

Eintönig klapperten die dicken hölzernen Achsen gegen die eisenbeschlagenen Räder; eintönig klirrten die Deichselketten; unhörbar fielen die scharfen Hufe auf das weich überdeckte Erdreich, und nur gelegentlich leise knirschend, drängten sich die Räder durch die steifgefrorenen, mit lockerer Masse angefüllten Geleise.

Die Peitsche lehnte an den festgestopften Strohsack, welcher den Sitz der beiden schweigsamen Reisenden bildete. Schnee bedeckte auch sie theilweise, ein Zeichen, daß sie seit dem Aufbruche nicht zum Antreiben der Pferde und noch weniger zum zwecklosen Knallen benutzt worden war. Schlaff und nachlässig hing die Leine von der durch einen mächtigen Fausthandschuh geschützten lenkenden Hand nieder. Auch den Handschuh beschwerte eine Schneeschicht, ebenso die tief in die Augen gedrückte Pelzmütze des Bauers, wie auch seinen breiten Mantelkragen und die wollene Pferdedecke, welche seine neben ihm sitzende Gattin zum Schutze gegen Kälte und Schnee um Haupt und Schultern geschlungen hatte.

So fuhren die beiden Leute ihres Weges. Einer schien die Anwesenheit des Andern vergessen zu haben, und so tief neigten sie die Häupter auf die Brust und so starr blickten sie auf die unter den Hufen der Pferde entstehenden unregelmäßigen Spuren, als ob die Flocken auf ihren Schultern eine Last von vielen, vielen Centnern, die Last einer Welt gewesen wären. Und dennoch lagen die Flocken so leicht und locker, daß es nur eines mäßigen Luftzuges bedurft hatte, um sie von Neuem davonstäuben zu machen.

Was die beiden Gatten so schwer bedrückte, begriff man, sobald man nur einen Blick hinter sie in den Wagen warf, wo auf weichem, federndem Stroh ein kleiner, schwarzer Sarg stand, der für ein etwa zehnjähriges Kind berechnet zu sein schien.

Ja, ein kleiner Sarg, dem das Loos zugefallen war, eine ganze Lebenshoffnung, eine ganze Lebensfreude in sich aufzunehmen, die letzte Wohnung für ein im Tode erkaltetes Kinderherzchen zu werden!

Die schwarz überstrichenen Bretter mit den glänzenden zinnernen Beschlägen nahmen sich duster aus gegen den auf sie niederrieselnden blendend weißen Schnee; dabei aber tanzte das kleine Gebäude lustig auf dem losen Stroh, so oft nur die Wagenräder einen Stein oder sonstige verborgene Unebenheiten im Wege streiften. Der Schnee glitt dann zu beiden Seiten von dem abschüssigen Deckel, als habe der Sarg noch einmal, bevor er auf ewig dem Lichte entrückt wurde, so recht nach Herzenslust um sich schauen, noch einmal die schönen Bäume begrüßen wollen, in deren Gesellschaft vor nicht allzu langer Zeit vielleicht der lebensfrische Stamm grünte, aus dessen Mitte seine Bestandtheile geschnitten wurden. Viele, viele Bretter hatte der Stamm geliefert, gute und schlechte, Alles durcheinander. Manche derselben waren zu Wiegen verarbeitet worden, andere zu Speisetischen, die allein bei festlichen Gelegenheiten auseinander gezogen wurden, oder auch zu Bänken und Fußböden für Tanzsäle, und nur die schadhaften hatte man ausgesucht, um Särge daraus zu zimmern, Särge für arme Leute. Zu Särgen waren die schlechten Bretter gut genug; Kitt und Farbe verdeckten ja die mangelhaften Stellen, und ob festes oder morsches Holz, die Todten schlummern überall gleich ruhig, und gleich schön entfalten sich über ihnen die Blumen der Erinnerung, wenn sie, heißer Liebe entsprießend, mit treuer Sorgfalt gepflegt werden.

Hei, wie der kleine Sarg auf seinem Strohlager wackelte und tanzte, und wie bei einem erneuerten Stoße der lose angeschraubte Deckel so dumpf und hohl erklang! Schien es doch, als hohnlache er darüber, daß auch die nahen Bäume, die jetzt noch stolz und selbstbewußt emporragten, dereinst ihrem Richter nicht entrinnen würden.

Die Bäume dagegen schauten ernst und feierlich auf den kleinen Sarg, und wenn der Wagen zufällig einen winterlich geschmückten Zweig streifte, dann sendeten sie eine reiche Schneespende zu ihm nieder, aber leise, ganz leise, wie aus Ehrfurcht vor den Gestorbenen, leise, wie die Flocken, die sich melancholisch in der stillen Atmosphäre wiegten, leise, wie die Thränen, welche über die gebräunten Wangen des trauernden Elternpaares rannen.

Heftiger schwankte der Wagen, häufiger stolperten die Pferde über gefrorene Maulwurfshügel, hervortretender wurden die Unebenheiten des Bodens, gegen welche die Räder stießen, und lustiger wackelte und tanzte der Sarg in seinem Stroh.

Die beiden Reisenden achteten nicht auf die sich ihnen entgegenstellenden Hindernisse, sie waren zu bekümmert, zu traurig.

Einige Hundert Schritte mochten sie in dieser Weise zurückgelegt haben, da blieben die Pferde plötzlich stehen.

Der Bauersmann sah mechanisch empor, und kaum wußte er, wie ihm geschah, als er, statt der Fortsetzung der Landstraße, eine niedrige Schonung vor sich erblickte.

»Die armen Thiere sind vom Wege abgewichen,« sagte er ruhig, indem er um sich spähte. »Es ist freilich, kein Wunder,« fügte er wie entschuldigend hinzu, »Alles verschneit, und dabei wird es so dunkel, daß ich Mühe haben werde, die Straße wiederzufinden.«

»Laß nur,« entgegnete seine Gattin, ihre Augen kaum erhebend; »am liebsten legte ich mich in den Schnee, um zu sterben und mit unserem Lieschen begraben zu werden.«

»Und ich?« fragte der Mann vorwurfsvoll zurück, während er sich bemühte, seinen Wagen, ohne in die Schonung einzudringen, umzuwenden. »Was sollte ich wohl ganz allein auf der Welt anfangen?«

»Es ist wahr,« versetzte die Frau leise, »ich muß bei Dir bleiben, aber das Herz bricht mir, wenn ich an unser Lieschen denke. Lieber, lieber Gott, erst zehn Jahre alt, und schon sterben zu müssen! Das Kind war so gut und so schön!« fügte sie schluchzend hinzu.

»Zu schön und zu gut für uns, oder der liebe Gott hätte es uns gelassen,« tröstete der Vater die trauernde Mutter.

»Alle Menschen hatten ihre Freude an dem klugen Kinde,« fuhr diese darauf wieder schmerzbewegt fort, »und es lernte so leicht und schrieb so wunderbar schön.«

»Du hast recht, Mutter; doch was helfen die Klagen? Unser Lieschen bringen sie nicht zurück. Liebte doch auch der Herr Pfarrer das Kind, und der mußte es gewiß kennen, denn er hatte es ja getauft; und der sagt: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!«

Die Mutter antwortete mit einem tiefen Seufzer. Die Aufmerksamkeit ihres Gatten dagegen wurde jetzt ausschließlich durch die Pferde in Anspruch genommen und durch den Wagen, welchen er nur mit genauer Noth zwischen den Bäumen hindurch zu lenken vermochte.

Nach der Landstraße zu war Alles dunkel, die Schatten des Waldes fielen fast gänzlich mit der schneeerfüllten Atmosphäre zusammen; er zog es daher vor, sich in der Nähe der Schonung zu halten, die, wie er wußte, weiter unterhalb die Straße berührte.

Langsamer noch, als bisher, verfolgten die Pferde ihren hindernißreichen Weg, und oft bedurfte es der Aufbietung aller ihrer Kräfte, den Wagen durch die bankähnlichen Schneeanhäufungen zu schleppen, die sich über den zerstreut stehenden Gruppen kleiner Tannenschößlinge gebildet hatten.

Sie befanden sich nicht mehr weit von der Landstraße, als beim Hineinwaten in eine neue, jedoch hohle Schneebank die Pferde plötzlich erschreckt zur Seite prallten und durch heftiges Schnauben Unruhe verriethen.

Der Bauer, in der Meinung, ein Baumstumpf oder eine Vertiefung habe die Besorgniß der klugen Thiere wachgerufen, versuchte, an dem verborgenen Gegenstande vorbeizulenken; da derselbe sich aber gerade zwischen den Pferden, unterhalb der Deichselstange befand, so erwies sich seine Mühe als vergeblich; er erreichte nur, daß die Thiere noch ungeduldiger und störrischer wurden.«

Doch auch zurück vermochten die Pferde den Wagen, trotz der aufmunternden Worte und des milden Gebrauchs der Peitsche, nicht mehr zu schieben, indem tiefer Schnee und niedriges Strauchwerk die Räder hemmten, so daß der Bauer sich endlich genöthigt sah, abzusteigen, um sich von der Ursache des unwillkommenen Aufenthaltes zu überzeugen.

Seine Frau nahm daher die Zügel, und immer noch freundlich zuredend, begab er sich nach der Spitze der Deichsel hin, wo er das Hinderniß vermuthete.

Kaum aber hatte er den gewölbt liegenden Schnee mit den Füßen zurückgestoßen und demnächst mit den Händen auf der betreffenden Stelle zwischen dem Gestrüpp umhergetastet, da richtete er sich plötzlich wieder empor.

»Guter Gott, ein Mensch!« rief er entsetzt aus; dann aber sich schnell ermannend, trat er zwischen die Pferde, um den Verunglückten gegen deren beschlagene Hufe zu schützen.

Doch die Pferde, sobald sie ihren Herrn vor sich sahen, verhielten sich ruhig, und ohne weitere Scheu zu verrathen, duldeten sie, daß der erstarrte Körper zwischen ihnen hervorgezogen wurde.

»Ach, Mutter, es ist ein Kind,« rief er gleich darauf aus, »aber todt, todt! Gräßlich, ein Kind, und im Schnee umkommen zu müssen!«

»Ist es denn wirklich todt?« fragte die Bäuerin, deren Lebensgeister durch das tiefste Mitgefühl plötzlich wieder zur hellen Flamme angefacht worden waren.

»Kalt und schlaff,« entgegnete der Mann, indem er versuchte, den kleinen, schmächtigen Körper in eine sitzende Stellung zu bringen.

»Vater, es ist dennoch vielleicht Leben in ihm!« rief die Frau lebhaft, die sie verhüllende Decke zurückwerfend und sich erhebend. »Du weißt, unser Lieschen, als es gestorben war, wurde starr und steif, die kleinen Arme bogen sich nicht mehr, und nur mit Mühe gelang es mir, die Fingerchen zu falten! Schnell, Vater, schnell hebe es auf den Wagen! So lange die Glieder schlaff und beweglich sind, ist die letzte Hoffnung nicht verloren!«

»Armer Wurm, so im Schnee und Eise verkommen zu müssen!« sprach der Bauer vor sich hin. »Und die Eltern, die Eltern, wo mögen sie sein, in welcher Lage mögen sie sich befinden, daß ihr Kind überhaupt verloren gehen konnte?« Dann aber hob er den anscheinend leblosen Körper empor, und an die Seite des Wagens hintretend, reichte er ihn seiner Gattin dar.

Im nächsten Augenblicke befand er sich ebenfalls auf dem Wagen, die Handschuhe warf er zur Seite, die Zügel schnürte er an den Leiterbalken fest, und ohne Säumen traf er Anstalt, seine Gattin in den Wiederbelebungsversuchen zu unterstützen.

Was kümmerten die guten Leute nun noch der fallende Schnee und die zunehmende Dunkelheit, was fragten sie danach, daß sie außerhalb der Straße auf unwegsamem Boden hielten und die Pferde, die ihnen einen großen Theil ihres täglichen Brodes verdienen halfen, um so länger dem bösen Wetter ausgesetzt blieben? Es galt, ein Menschenleben zu retten, das Leben eines Kindes, und zu genau wußten sie, was es heißt, den Liebling des Herzens dem Grabe überantworten zu müssen.

Darum beeilten sie sich auch so sehr, das Halstuch und das leichte Kleidchen von der Brust des auf dem Sitzsacke liegenden kleinen Mädchens zu entfernen, und darum empfanden sie auch ein so inniges Entzücken, als sie entdeckten, daß das Herz noch nicht aufgehört hatte zu schlagen. Freilich wiederholten sich die kaum fühlbaren Schläge in langen, unregelmäßigen Pausen, allein sie bewiesen doch, daß wenigstens noch ein Funke von Leben vorhanden sei und ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt werden dürften.

Mit weiteren Prüfungen hielten sie sich daher nicht auf, denn jeder Pulsschlag in dem zarten Körper konnte ja der letzte sein, jeder Augenblick über Leben und Tod entscheiden. Zwar hatten die guten Leute in der Schule keine große Gelehrsamkeit gesammelt, aber lesen hatten sie gelernt, und rechtzeitig erinnerte sich die Frau, in einem Bilderbuche von der Wiedererweckung im Schnee Erstarrter gelesen zu haben, und von den Mitteln, deren man sich dabei bediente. Die Mittel erschienen ihr damals wunderbar und märchenhaft, allein heute verstand sie den ganzen Werth derselben, und leicht gelang es ihr, auch den Gatten damit vertraut zu machen. Schnee war ja in ihrer nächsten Nähe in Fülle vorhanden, sie hatten es daher so bequem, wie sie nur wünschen konnten, und für Leute ihres Schlages, die seit ihrer frühesten Jugend mit schwerer Arbeit vertraut gewesen, war es kaum eine Mühe, mit lockerem Schnee die erstarrten Glieder zu bedecken und zu reiben.

Und sie rieben lange und eifrig; nur gelegentlich ließen sie ein bedauerndes Wort fallen über die hageren Aermchen, die unter ihren Händen und der rauhen Behandlung zu zerbrechen drohten, und über das dünne Kleid, welches selbst der kräftigsten und abgehärtetsten Natur keinen hinreichenden Schutz gegen die winterliche Kälte geboten hätte. In dem Maße aber die schlaffen Glieder sich zu erwärmen begannen, verdoppelten sie auch ihre Anstrengungen, und als sie dann endlich das Klopfen des Herzens deutlicher spürten, ein leiser, warmer Athemzug die Schläfe der dicht vor den kalten Lippen ängstlich horchenden Bäuerin streifte, da dankten sie laut dem lieben Gott, daß er den Weg hatte verschneien und die Pferde von demselben abirren lassen. Wie ein freundlicher Trost zog es in ihre bekümmerten Herzen ein, und die auf ihren erhitzten und vom Wetter gebräunten Wangen schmelzenden Flocken vermischten sich mit einzelnen warmen Tropfen, die ein unerklärliches Gefühl den biederen Leuten, ohne daß sie es merkten, in die Augen getrieben hatte. Indem aber das auf der Gränze des Todes stehende Leben unter ihren Händen zurückkehrte, verschärfte sich auch ihre Erfindungsgabe.

Die Frau holte nämlich aus ihrem Kober einen Krug Essig hervor. Behutsam wusch sie Schläfen und Gesicht des Kindes, und ein paar Tröpfchen ließ sie zwischen die noch immer kalten Lippen laufen. Der Mann dagegen hatte unterdessen den Deckel von dem kleinen Sarge geschraubt, und zwar mit fester Hand und ohne jenen herben Schmerz zu empfinden, der ihn, als er in der Stadt die letzte Wohnung seines einzigen Kindes auf den Wagen lud, erschütterte; in den Sarg auf die Hobelspäne legte er seinen dicken Mantel, sorgfältig darauf achtend, daß die feuchten Stellen nach unten kamen und kein Schnee mehr hineinfiel. Und als er damit zu Stande gekommen war, hob er, mit Hülfe seiner Gattin, den bewußtlosen Körper auf das seltsame Lager, den Kopf etwas erhöht, wie man wohl bei Gestorbenen thut, worauf die Bäuerin mit mütterlicher Sorgfalt ihre Decke über den kleinen Gast breitete, so daß ihm nur eine schmale Falte zum Athmen blieb. Der Mann aber befestigte den oberen Theil des Sarges ganz lose auf den unteren, um die Kälte nicht zu dem Kinde hineindringen zu lassen, damit es erhalten bleibe und wieder zu seinen besorgten Eltern zurückgebracht werden könne.

Den Mangel des Mantels fühlte er eben so wenig, wie seine Gattin den Mangel der Decke; sie waren abgehärtet und außerdem hatten sie sich warm gearbeitet. Ihre Arbeit war indessen noch lange nicht beendigt, denn die Dunkelheit hatte sich fast zur schwarzen Finsterniß verdichtet, so daß die Frau die Zügel vom Wagen aus halten mußte, während der Mann sich nach vorn zu den Pferden begab und, dieselben führend, seinen Weg mühsam zwischen den Baumstämmen hindurch tastete, die seinen Wagen und namentlich dessen Räder bei jedem neuen Schritte mit Verderben bedrohten.

Sobald sie aber die Straße erreicht hatten, stieg er wieder auf, denn nunmehr befand er sich auf bekanntem Boden, und die Zügel nahm er so straff, wie seit langer Zeit nicht; sogar die Peitsche gebrauchte er mehr, als es vielleicht nöthig gewesen wäre, und dahin ging es in scharfem Trabe durch den dunklen Forst, daß der Schnee zu beiden Seiten davonstäubte und die Räder kaum Zeit behielten, bis auf den Grund der Geleise durchzudringen.

Wie klapperte der Wagen plötzlich so lustig und wie klingelten die Deichselketten so hell! Wie sauste der Schnee in dichten Massen von den Zweigen, wenn diese im Vorüberfahren gestreift wurden, und wie war es sonst in dem Walde so feierlich still!

Vom schwarzen Himmel aber sanken die Flocken unablässig in alter Weise nieder, leise und ungesehen. Auch auf den Sarg fielen sie reichlich, aber der Sarg tanzte und wackelte nicht mehr so unbeholfen wie vorher. Er war jetzt schwer und ruhte daher fester auf seinem Strohlager, und statt der erwarteten kleinen Leiche schlummerte in ihm ein junges, erwachendes Leben.

Vorwärts, vorwärts durch Nacht und Schnee! Die Pferde schnaubten, die Peitsche knallte; nicht mehr vor sich nieder starrten die beiden Bauersleute, sondern rückwärts lauschten sie ängstlich. Ihre Herzen waren nicht mehr so schwer bedrückt; der liebe Gott selber hatte sie getröstet, indem er ihnen eine neue Sorge anvertraute.

Der Meerkönig

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