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5. Die Geschwister.

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Eine schöner und geschmackvoller eingerichtete Wohnung, als die des Grafen Hannibal, wäre schwerlich zu finden gewesen; denn nicht nur zeugte die ganze Einrichtung derselben von großem Reichthum, sondern die einzelnen der Hunderte von Gegenständen, von der schweren Parforce-Peitsche bis zu der mit Schildpatt ausgelegten Stutzuhr, waren auch so sorgfältig gewählt, und mit so viel feinem Geschmack geordnet, daß, wäre man verschwenderischer Ueberladung wer weiß wie abhold gewesen, man beim Eintritt sich dennoch behaglich angehaucht und sogar bis zu einem gewissen Grade heimisch fühlen mußte.

Der Graf selbst war natürlich derartigen Eindrücken nicht unterworfen. Ihm galten die türkischen Teppiche und Damast-Gardinen nicht mehr, vielleicht noch weniger, als einem einfachen Bürgersmanne ein sandbestreuter Fußboden und dünne, weiße Fenstervorhänge.

Die reich gepolsterten Sessel, die kostbar geschnitzten Stühle und Tische, der prachtvolle Kronleuchter, die wunderbar schönen Bronze- und Elfenbein-Bildhauerwerke, was waren sie ihm auch weiter, als Erinnerungszeichen einer vorübergehenden Laune, deren Befriedigung ihm eine kurze Unterhaltung gewährte.

Ein oberflächlicher Blick belehrte, daß es außer Pferden und Hunden nicht viel mehr in der Welt gab, was seine Theilnahme zu erwecken vermochte. Es stand dies in seinen schlaffen, jedoch regelmäßig schönen Zügen geschrieben; es lag in seinen von kraftlos und matt niederhängenden Lidern versteckten blauen Augen; vor Allem aber sprach es sich in der ganzen Haltung aus, mit der er am Abende jenes Wintertages auf einer schwellenden Ottomane lag, mit den breiten, stählernen Sporen rücksichtslos in das kostbare Gewebe bohrte und einem neben ihm sitzenden Neufundländer Hunde die Lefzen so lange über der Nase zusammenpreßte, bis das geduldige Thier endlich vor Schmerz laut aufjauchzte.

Das Jauchzen des Neufundländers rief ein schadenfrohes Knurren zweier kleiner Affenpinscher hervor, die neben dem Grafen auf der Ottomane lagen; das Knurren wieder bewegte den Grafen, von dem Neufundländer abzulassen und die Affenpinscher an den kurzen Schweifendchen zu zerren, daß sie in ein giftiges Bellen ausbrachen, wofür sie zur Strafe nach dem mit einer türkischen Decke verhangenen Tische hinaufgeworfen wurden, wo sie die größte Mühe hatten, sich ihren Weg, ohne Schaden anzurichten, zwischen geschliffenen Gläsern, Krystallflaschen, Porzellanleuchtern, Aschbecher und Bergen von photographischen Abbildungen hervorragender Tänzerinnen, Rennpferden und gekrönten Häuptern hindurch zu suchen.

Nachdem wieder Ruhe eingetreten und die matten Augenlider, die sich bei dem Lärm der Hunde etwas erhoben hatten, in ihre alte Lage zurückgesunken waren, strich die weiße, sorgfältig gepflegte rechte Hand einige Male nachlässig über den stattlichen, blonden Bart, der zu beiden Seiten des Kinns in lange, gekräuselte Zipfel auslief, und dann wendete der Graf sich halb nach einer Dame um, die ihm gegenüber mit derselben vornehmen Nachlässigkeit in einem umfangreichen Lehnsessel ruhte.

Wie jeder Zug im Gesichte des Grafen von einer unbesiegbaren Langenweile zeugte und man in demselben vergeblich nach einer Spur von höheren Geistesfähigkeiten suchte, so bot auch die in reichster Toilette prangende Dame das vollkommene Bild einer mit allen Genüssen eines üppigen Lebens vertraut gewordenen, den sogenannten höheren und bevorzugten Ständen entsprossenen Persönlichkeit. In ihren zuweilen scharf aufblitzenden Augen lag dagegen etwas mehr Lebhaftigkeit, wie in ihrem Antlitz die schwache Familien-Aehnlichkeit durch einen bemerklichen Ausdruck von Klugheit wieder ziemlich verwischt wurde. Jedenfalls hätte man die Beiden nicht auf den ersten Blick für Geschwister gehalten, es sei denn, man wäre durch die vornehme Vernachlässigung des feinen Anstandes auf die richtige Spur geführt worden.

Häßlich war die Gräfin keineswegs, im Gegentheil, ihr Gesicht hatte schöne Formen und Farben, eben so schien ihr dunkles Haar üppig und stark zu sein. Der Ausschnitt ihres Kleides reichte so tief hinab, daß ein sittsames Bürgermädchen sich mindestens befremdet von ihr abgewandt haben würde, ohne über die prächtige Farbenabstufung in Erstaunen zu gerathen, welche die Schwanendaunen-Einfassung des Kleides zu dem von einer doppelten Perlenschnur umschlungenen, weiß gepuderten Halse bildete.

Als der Graf sich nach einem längeren Schweigen seiner offenbar grübelnden Schwester wieder zuwendete, nahmen deren Augen einen fast lauernden Ausdruck an, doch sichtlich vermied sie, durch eine Veränderung ihrer Lage zu große Theilnahme zu verrathen.

»Jedenfalls wirst Du einräumen, Clotilde,« begann der Graf, und indem er sich träge herumschob, drangen seine Sporen tiefer in die weiche Polsterung ein, »ja, jedenfalls, daß die Affaire mit dem Wechselbalg sich sehr mißlich gestaltet hat. Erstens traue ich dem Schurken von Vorsteher nicht, der mir beständig auf der Tasche liegt, und dann könnte das Kind auch sehr leicht in unrechte Hände fallen, die etwas Anderes daraus machten, als vielleicht wünschenswerth wäre.«

»Wie vermagst Du nur derartige Befürchtungen zu hegen?« fragte die Gräfin nach kurzem Sinnen zurück. »Bist Du nicht im Stande, den elenden Seim in jedem Augenblicke zu zermalmen, ohne daß Du dabei den geringsten Unannehmlichkeiten ausgesetzt wärest? Hast Du nicht Alles mit kluger Ueberlegung eingeleitet, daß ...«

»Bitte um Verzeihung, theuerste Schwester,« unterbrach der Officier die Gräfin mit ungewöhnlicher Regsamkeit, »Du wirst Dich entsinnen, daß ich nie ohne Deinen Rath handelte, die Ehre der klugen Ueberlegung also vorzugsweise Dir zufällt, außerdem aber Du Dich ganz derselben daraus entspringenden Vortheile erfreust, wie ich.«

Die Gräfin machte eine ungeduldige Bewegung; sie besann sich indessen schnell wieder und fuhr fort, als ob sie gar nicht unterbrochen worden wäre: »Also, daß unsere Vorkehrungen von keiner Seite durchkreuzt werden können. Doch sei dem nun, wie ihm wolle, das Kind geht uns nichts an; es ist entlaufen und hat dadurch die Verderbtheit seines Charakters bewiesen. Herr Seim wird die geeigneten Wege einschlagen, es wieder in seine Gewalt zu bekommen, es dann nach seinen Grundsätzen behandeln und allmählich für ein Correctionshaus oder, wer weiß wofür, reif machen. Ich baue fest darauf, daß, hat es wirklich seinen Weg zu anderen Leuten gefunden, dies erstens nicht verborgen bleibt, anderntheils aber auch dort seine bösen Neigungen zum Vorschein kommen, und man schließlich froh ist, es auf gute Art wieder los zu werden.«

»Wenn es nur gewiß wäre, daß es durch sein Betragen Alle, die mit ihm in Berührung kommen, von seiner Unverbesserlichkeit überzeugt,« versetzte der Graf gedehnt, indem er die Ohren des Neufundländers über dessen Stirn zusammenzuknüpfen versuchte; »ich kann mich nämlich von der Furcht nicht lossagen, daß es nicht so schlimm mit ihm steht und daß es sich möglichen Falles Freunde erwirbt, die nach seinem Ursprunge forschen.«

»Laß sie forschen, so viel sie wollen, und kommen sie endlich auf den Grund, so kann es keine weiteren Folgen haben, als daß wir uns großmüthig zu einer kleinen Unterstützung verstehen, die sicherlich nicht die Höhe der Summen erreicht, die der saubere Seim bezieht. Weiß man aber erst, woher das räthselhafte Kind stammt, so schwindet auch das Interesse für dasselbe und man beruhigt sich leicht bei dem Gedanken, daß in einem auf dunkle Art in die Welt geschleuderten Geschöpfe kein guter Kern verborgen sein kann.«

»Oho,« fuhr der Graf auf, und der Hund jauchzte wieder unter einem rauhen Griff, »meine weise Schwester sollte doch am besten wissen, ob der Stamm, von welchem die Frucht fiel, einen derartigen Vorwurf verdient!«

»Allerdings weiß ich das; allein die Leute, welche etwa der Zufall mit dem Kinde zusammenführt, können das nicht wissen. Uebrigens scheinst Du heute Abend sehr philanthropischer Laune zu sein, und es sollte mich kaum befremden, bestrittest Du, daß durch eine Beimischung von gemeinen Elementen das edelste Blut verdorben werden kann.«

»Das bestreite ich nicht, meine theure Schwester, im Gegentheil, es sieht wohl kaum Jemand in unseren Kreisen strenger auf Reinhaltung des ihm tadelfrei überkommenen Stammbaumes, als ich, wenn ich auch zugebe, daß Verhältnisse eintreten können, die zur Auffrischung des erblindeten äußeren Glanzes ein Niedersteigen von der Höhe entschuldigen. Was Du irrthümlicher Weise als kindische Philanthropie bezeichnest, war eben weiter nichts, als der flüchtige Gedanke, daß das Kind vielleicht im Schnee umgekommen sei.«

Aus dem Gesichte der Gräfin wich bei diesen Worten die Farbe; jedoch nur auf Secunden, denn bald zeigte es wieder den kalten, berechnenden Ausdruck.

»Dann tragen wir keine Schuld, nein, unter keiner Bedingung tragen wir die Schuld an seinem Tode,« sagte sie hastig. »Warum ist es entlaufen? Warum hat es sich durch schlechte Führung seinen Aufenthalt in dem Waisenhause verleidet? Ist das Mädchen durch seine eigene Schuld um's Leben gekommen, so sind wir dadurch nur von einer großen Unruhe befreit worden, gerade so wie damals, als wir die verbürgte Nachricht ...«

»Schweige davon!« fuhr der Graf hastig empor, indem er sich auf der Ottomane herumwarf, daß dieselbe in allen Fugen knackte; »Du weißt, ich will nicht daran erinnert sein, es verdirbt mir die Laune für den ganzen Abend. Uebrigens kannst Du Dich rühmen, mich schon damals durch Deine Rathschläge bestimmt zu haben.«

Die Gräfin warf sich hintenüber und stieß ein helles, aber erzwungenes Lachen aus.

»Sieh doch den tapfern Krieger,« rief sie spöttisch ihrem Bruder zu, und zugleich lockte sie durch eine Handbewegung die munteren Affenpinscher auf ihren Schooß. »Sinke doch lieber gleich in Ohnmacht, anstatt mit mir darüber zu frohlocken, daß das Geschick vielleicht gütig genug war, den letzten Stein des Anstoßes aus unserem Wege zu räumen. Auch ich gönne dem unglücklichen Kinde kein trauriges Ende, allein wenn es einmal geschehen ist, so läßt es sich nicht mehr ändern.«

Die drei in dem Gemache befindlichen Stutzuhren schlugen jetzt kurz hinter einander halb Zehn und fast gleichzeitig ertönte von der Hausflur her das Klingeln eines Einlaßbegehrenden.

»Das ist der Vorsteher,« sagte der Graf; »ich bestellte ihn auf halb zehn Uhr hierher, und eine servile Natur, wie er, ist immer pünktlich. Aber willst Du der Unterhandlung wirklich beiwohnen?«

»Natürlich, wenn auch nicht auf diesem Stuhle. Ich ziehe mich in Dein Schlafgemach zurück. Außerdem erwarte ich meinen Wagen erst gegen zehn Uhr. Ich hofft, meine Nähe wird auf Deine Verhandlungen keinen nachtheiligen Einfluß ausüben.«

»Keineswegs,« antwortete der Graf leise, denn er vernahm auf der Treppe Männerschritte.

Kaum war die Gräfin in das durch schwere Vorhänge von dem Salon getrennte Nebenzimmer geschlüpft, als ein Diener hereintrat und meldete, daß ein fremder Herr den Herrn Grafen in dringenden Angelegenheiten zu sprechen wünsche.

»Laß ihn herein,« befahl der Graf, indem er sich halb aufrichtete, »und merke Dir, ich bin für Niemanden zu sprechen.«

Der Diener entfernte sich mit einer Verbeugung, und mit einer noch tieferen Verbeugung erschien Herr Seim auf der Schwelle.

Er war noch immer derselbe, wie am Vormittage, nur ein Paar weiße Handschuhe und eine weiße Weste hatte er seinem gewählten Anzuge beigefügt; vielleicht auch, daß die grauen Haare sich noch etwas fester an den runden Schädel anschmiegten, das Lockenkränzchen über dem Rockkragen etwas neckischer nach oben wies und der biedere Ausdruck auf dem bescheiden lächelnden Antlitz wo möglich noch eindringlicher geworden war. Auch in seinen Bewegungen entwickelte er eine erhöhte Anmuth, was wohl mit darin seinen Grund fand, daß die dicken Teppiche eine gewisse Federkraft besaßen und den ungeübten Fuß beständig zu vorsichtigem Einherschreiten mahnten.

»Der Herr Graf waren so gnädig, mich zu sich zu entbieten,« begann Herr Seim, sobald er bis auf drei Schritte vor dem Officier angekommen war, seine Worte mit einer neuen Verbeugung begleitend.

»Ganz recht, Herr Seim,« entgegnete der Graf mit einer leichten Verneigung seines Hauptes, »ich wollte Sie sprechen, ja, aber setzen Sie sich, es ist mir bequemer.«

Herr Seim leistete der an ihn gerichteten Aufforderung sehr anmuthig Folge, wobei er mancherlei von »hoher Ehre« und »tiefster Beschämung« murmelte, und der Graf fuhr fort:

»Daß es mich unangenehm überraschte, als ich heute in der Zeitung die Geschichte von dem Entweichen einer Ihrer Pflegebefohlenen las und aus der Beschreibung sogleich das bewußte Mädchen heraus erkannte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.«

»Gewiß nicht, Herr Graf; ich glaube Dero Gefühle und Empfindungen Betreffs dieser Sache nicht zu unterschätzen.«

»Wohlan denn, mein werther Herr Seim, ich muß es Ihnen gegenüber einräumen, daß mir viel daran liegt, das Kind wieder unter Ihrer treuen Obhut zu wissen.«

»Nicht Geld noch Mühe sollen gespart werden, diesen Wunsch in Erfüllung zu bringen.«

»Gut, gut, ich bin gern bereit, Ihnen alle Kosten zu vergüten, und da ich mich sehr für das Kind interessire, weil - nun, Sie wissen ja - weil mir sein Gesicht einst auf der Straße auffiel ...«

»Weil das kleine, verkommene Geschöpf dem Herrn Grafen einst auf der Straße auffiel,« wagte Herr Seim den verlegen zur Seite schauenden Grafen ausdrucksvoll zu unterbrechen.

»Ganz richtig,« fuhr dieser darauf wieder fort; »ich sehe, Herr Seim, Sie verstehen mich vollkommen. Ich interessire mich also für das Kind und bin mit ganzer Seele bei dem Versuche, das verdorbene, kleine Geschöpf zu retten und der menschlichen Gesellschaft zu erhalten. Ich befürchte zwar, daß meine Geldopfer und Ihre Mühe nutzlos vergeudet sind ...«

»Vollständig nutzlos,« schaltete der Vorsteher mit entschiedenem Wesen und verbindlichem Lächeln ein.

»Das soll mich indessen nicht hindern, noch ein Stück Geld daran zu wenden,« erklärte der Graf weiter, »um mir später sagen zu dürfen, daß ich Alles aufbot, das Kind vor dem Corrections- oder Arbeitshause zu bewahren. Also, Herr Seim, das unglückliche Geschöpf zeigt wenig Anlage zu einem rechtschaffenen Lebenswandel?«

»Nicht die geringste, Herr Graf.«

»So daß Jeder ihm gern aus dem Wege geht?«

»Daß Jeder es flieht, wie die Sünde.«

»Und es endlich seinen dauernden Aufenthalt unter der strengen Zucht eines Arbeitshauses findet?«

»Wenn nicht gar in einem Staatsgefängniß.«

»Das wäre allerdings sehr zu bedauern,« bemerkte der Graf zögernd, und sein verlegener Blick streifte den Vorhang, hinter welchem seine Schwester lauschte; »ja, das wäre zu bedauern,« wiederholte er noch einmal, »aber das dürfte seiner eigenen Neigung zum Bösen zugeschrieben werden.«

»Nur seiner eigenen Schuld,« bekräftigte Herr Seim, das Kinn einige Male sanft an der weißen Binde reihend und demnächst den Hals mit dem Ausdrucke eines reinen, von keinem übeln Hauche getrübten Gewissens etwa um einen Zoll verlängernd; »es ist in der That sehr zu bedauern, gnädigster Herr, doch was läßt sich Anderes von einem elfjährigen Mädchen erwarten, welches sich nicht mehr damit begnügt, seinen Gespielinnen Kleinigkeiten zu entwenden, sondern sogar die Gelegenheit wahrnimmt, die Hand nach den Kassenbeständen der Anstalt auszustrecken?«

»Das hat es gethan?« fragte der Graf hastig, doch fügte er ernster hinzu: »Es ist merkwürdig, so jung, und doch schon so tief gesunken; so tief gesunken, trotz Ihrer gewissenhaften Beaufsichtigung, die Ihnen nicht unbelohnt bleiben wird. Aber wenn das Mädchen wieder zurückgebracht wird, was haben wir dann von Ihnen zu erwarten und welches Verfahren werden Sie fernerhin gegen dasselbe beobachten?«

»Nun, Herr Graf, es steht mir nur ein Weg offen, nämlich der, den kleinen, unverbesserlichen Dieb und Vagabunden von den übrigen Insassen unserer Anstalt getrennt zu halten und zu versuchen, ob nicht dennoch mit unnachsichtlicher Strenge Etwas bei ihm auszurichten ist. Letzteres muß ich zwar entschieden bezweifeln, indem da, wo das Ehrgefühl erst vollständig erstickt ist, eine Umkehr zum Guten nicht denkbar; aber gewissenhaft will ich über das unglückliche Kind wachen und es sogar bis an die Thür des Correctionshauses begleiten.«

»Wo mein Interesse für dasselbe selbstverständlich sein Ende erreicht,« fügte der Graf hinzu, indem er nachdenklich mit dem Kopfe nickte; »jedenfalls will ich mich dann noch besonders erkenntlich für Ihre Mühewaltung zeigen und die ganze Geschichte zu einem befriedigenden Abschlusse bringen.«

»Das heißt, wenn das unglückliche Geschöpf überhaupt noch Mühewaltungen verursacht,« bemerkte Herr Seim, einen frommen Blick zum Himmel sendend.

»Sie meinen doch nicht ...?« fragte der Graf, sich leicht entfärbend; dann stockte er plötzlich.

In Herrn Seim's Augen wurde trotz des wehmüthigen Lächelns ein gewisser lauernder und beobachtender Ausdruck sichtbar.

»Es war ein schreckliches Wetter, Herr Graf,« begann er sodann ernst und feierlich, »und wenn die Vorsehung bestimmt hatte, daß das Kind im Schnee seinen Untergang finden sollte, so konnten menschliche Anstrengungen es nicht retten. Wir haben, dem Himmel sei Dank, das tröstliche Bewußtsein, das Unsrige nach besten Kräften gethan zu haben, und von Seiten der Beschützer der Anstalt wird bei Gelegenheit der Aufnahme des Protokolls über den betrübenden Vorfall gewiß der so überaus liebevollen Fürsorge des Herrn Grafen und seines Wohlthätigkeitssinnes gebührender Maßen und mit dem Ausdrucke innigster Dankbarkeit gedacht werden.«

»Ja, ja, Niemand kann Schuld oder Interesse an dem frühzeitigen Ende des Kindes gehabt haben,« versetzte der Graf zerstreut; »wir versuchten Alles - aber wie war es doch, Herr Seim, nicht wahr, das Mädchen wurde von einer unbekannten Frau heimlicher Weise in einem Korbe bei Ihnen zurückgelassen? Ich meine nur - für den Fall, daß ich selbst gelegentlich Betreffs dieser Sache befragt würde.«

»Den Herrn Grafen trügt sein Gedächtniß nicht,« lautete des Vorstehers zuvorkommende Antwort; »das Kind war damals, also vor neun Jahren, erst ein zweijähriges, verkümmertes, kaum menschenähnliches Wesen.«

»Gut, gut, ich entsinne mich genau; ich sah es später auf der Straße, fand Wohlgefallen an seinen hübschen Augen, ließ ihm, anfänglich aus Laune, mancherlei zufließen, bis sich die Laune in rege Theilnahme und zuletzt in eigensinniges Beharren auf dem einmal gefaßten Entschluß verwandelte.«

»Sehr wohl, Herr Graf, so verhielt sich die Sache,« entgegnete Herr Seim mit einem halb vornehmen, halb unterthänigen Schmunzeln, »und in Uebereinstimmung damit ist auch das Buch über den namenlosen Findling geführt worden.

Der Graf, offenbar zufriedengestellt, wußte nichts zu antworten, denn nachdem die Geschäfte beendigt waren, gab es ja nichts mehr in der Welt, worüber er noch mit dem Waisenhaus-Vorsteher hätte sprechen mögen. Er streckte daher seine Füße lang von sich und begann, mit den Sporen dem Neufundländer ziemlich nachdrücklich in die Seiten zu bohren, bis dieser, trotz seiner großen Geduld, wieder einmal vor Schmerz laut aufjauchzte.

Herr Seim, begabt mit ungewöhnlichem Scharfsinne, betrachtete das Jauchzen als eine Mahnung, daß die Audienz beendigt sei und erhob sich. »Adieu, mein werther Herr!« versetzte der Graf nachlässig, noch bevor der Vorsteher den Mund geöffnet hatte.

»Verzeihen der Herr Graf, ich muß nothgedrungen wagen, ganz ergebenst darauf hinzudeuten, daß die von dem Herrn Grafen vorgeschlagenen und gewünschten Besserungsversuche mit dem Kinde sehr kostspielig gewesen sind, und da die Verwaltung des Waisenhauses keine Bevorzugung ...«

»Ich verstehe, Sie wollen Geld, beinahe hätte ich es vergessen; dort auf der Tischecke liegt es schon bereit.«

Das geübte Auge des Vorstehers hatte schon längst das Geld gesehen, mehrere Papierscheine, und auch den Werth desselben annähernd errathen. Auf die Aufforderung des Grafen nahm er es daher an sich, und nachdem er in schönen und correcten Wendungen seinen innigsten Dank ausgesprochen, welchen der Graf mit einem herablassenden »Schon gut!« hinnahm, wendete er sich mit einem wohlklingenden: »Gott erhalte den Herrn Grafen!« der Thüre zu.

Der Graf blickte ihm nach, und ein Zug der unaussprechlichsten Verachtung breitete sich über sein schlaffes Gesicht aus, als der Vorsteher sich in der offenen Thür noch einmal umwendete und mit einer abermaligen Verbeugung und einem abermaligen, aus tiefstem Herzensgrunde hervorgeholten: »Gott erhalte Sie!« sich rückwärts zur Thüre hinausschob.

Kaum waren die Schritte des sich Entfernenden auf der Treppe verhallt, da öffneten sich die Vorhänge des Schlafgemachs und herein trat die Gräfin. Ihr Gesicht trug die unverkennbaren Spuren innerer Aufregung.

»Ein zwölfjähriger Knabe würde seine Sache eben so gut gemacht haben,« begann sie, indem sie den Stuhl, auf welchem der Vorsteher gesessen, verächtlich zur Seite rollte und einen andern an dessen Stelle schob; »wäre dieser Schurke von Komödiant nicht so auf Geld versessen, dann hätte es ihm schwerlich entgehen können, daß der kleine Strolch Dir mehr Sorge verursacht, wie nöthig ist. Wozu Theilnahme verrathen, wenn man mit Geld viel weiter gelangt?«

»Ich hätte Dich an meiner Stelle sehen mögen,« entgegnete der Graf gedehnt; »ich halte den Kerl außerdem in den Fingern. Er handelte auf eigene Verantwortlichkeit, und ein Bericht von mir vermag ihn um seine Stelle zu bringen.«

»Und was kann eine auf seine Veranlassung herbeigeführte Nachforschung uns kosten?« fragte die Gräfin spöttisch.

»Male nicht den Teufel an die Wand,« erwiderte der Graf; »solchen Lumpen stopft man jederzeit den Mund mit Geld oder mit noch etwas Anderem. War er doch unverschämt genug, als ich von Anerkennung seiner Dienste sprach, sehr bezeichnend mit seinem Knopfloche zu spielen, als hätte er sagen wollen, daß meine Connexionen ihm wohl ein Bändchen in dasselbe verschaffen könnten, hahaha!«

»In der That, eine niedrige Seele, dieser Vorsteher,« bemerkte die Gräfin; »schlimmsten Falles müßten wir indessen doch Etwas für ihn thun. Uebrigens ist er auch ohne dies sicher genug, und wer weiß, ob Kälte und Schnee uns nicht bereits längst einen guten Dienst geleistet haben. Doch wo willst Du Deinen Abend zubringen?« fragte sie plötzlich in einem andern Tone, als sie unten einen Wagen vorfahren hörte.

»Im Britannia Hotel.«

»Um Dein Geld zu verspielen? Laß lieber für heute das Spiel und komm mit mir; ich habe nämlich an Dich gedacht und die Gräfin Renate zu einem vertraulichen tête-à-tête eingeladen.«

»Die Gräfin Renate?« fragte der Graf, hastig emporspringend.

»Die Gräfin Renate und sonst Niemanden.«

»Auf Ehre, Schwester, besser hättest Du nicht operiren können! Seit das Mädchen seine alte Großmutter beerbte, erscheint es mir doppelt schön und, unter uns gesagt, es ist hohe Zeit, daß ich mich gut verheirathe, um den Glanz unseres Hauses und Namens aufrecht zu erhalten.«

Mit diesen Worten warf der Graf seine Jagdjoppe zur Seite, und in der nächsten Minute stand er in einem glänzenden Uniformrocke, der seine stattliche Figur noch schöner hervortreten ließ, da, um sich von dem auf sein Klingeln herbeigeeilten Diener den Mantel umhängen zu lassen.

Die Gräfin antwortete nicht mehr; dagegen beobachtete sie ihren Bruder mit Wohlgefallen, im Stillen ihre Betrachtungen darüber anstellend welch schönes Paar derselbe mit der reichen Gräfin Renate bilden würde.

Auch ihr wurde darauf der kostbar verbrämte Mantel umgegeben, und fünf Minuten später rollten die Geschwister in der heitersten Stimmung der Wohnung der Gräfin zu.

Der Meerkönig

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