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15. März 1999

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Der Winter läßt langsam nach, hin und wieder ein schwacher Frühlingsduft: Momente vorsichtiger Wärme, tauender Schnee, nasse Blätter statt gefrorener. Auf dem Meer hat die Eisschmelze eingesetzt, und manch einer lockert ein wenig den Pyjama seines Bootes, um davon träumen zu können, was ihn im richtigen Frühling erwartet: kratzen, schaben. Wir wissen alle, daß wir uns täuschen lassen. Um die Ecke liegt der nächste Schneesturm bereit, das Finale erfolgt gewöhnlich am letzten Apriltag, wenn an brennenden Maifeuern die Mädchen singen, an den Füßen neu gekaufte Lackschuhe, die die Nässe aufsaugen.

In Sjövik ist es ruhig. Nirgendwo mehr Plakate, auch keine Zettel im Briefkasten. Ich muß fast lachen, wenn ich an meine Angst denke. Als ich am Tag darauf nach dem Plakat Ausschau hielt, war es verschwunden, und andere Leute, die ich vorsichtig danach fragte, hatten es nicht gesehen. In der Konzerthalle nimmt alles seinen gewohnten Gang, verstohlene Blicke von Johannes, dem ich nach Möglichkeit aus dem Weg gehe. Kristin sieht mich erstaunt an, als ich mich zurückziehe. Die Konzerte laufen einigermaßen, keine gefühllosen Finger oder eingeschlafenen Füße mehr. Alles ist besser geworden, seit einer der Geiger mir Betablocker anbot. Verwundert hatte ich ihn angesehen, und er sagte rasch: »Du brauchst sie natürlich nicht. Aber mir helfen sie. Sie verscheuchen diesen plötzlichen Bühnenschreck, und das Herz beruhigt sich.«

Ich ließ mir die Tabletten geben und nehme seitdem vor jedem Konzert eine. Ich weiß nicht, ob sie helfen; ich wage nicht, es ohne sie zu probieren. Doch manchmal kehrt die Übelkeit zurück. »Vielleicht schon die Wechseljahre«, sagt jemand und lächelt beruhigend, was mich anekelt. Auf den Proben kann es noch immer passieren, daß ich falsch einsetze, alles wird schwarz, und wenn ich aufschaue, weiß ich überhaupt nicht, wo wir sind. Was früher fast ohne jede Anstrengung lief – die Musik strömte zwischen meinen Fingern, floß dahin wie ein Bach –, läßt sich jetzt nur schwer lenken. Es ist, als ließe mich mein Talent völlig im Stich. Ich hatte keine Ahnung, welche Qualen das verursacht. Ich gerate entweder aus dem Takt oder vermag überhaupt nicht zu spielen. Aber ich kann es doch! möchte ich schreien. Nichts anderes kann ich als die Musik, doch vielleicht nicht einmal die? Dieser letzte Gedanke macht mir Angst.

Ich ziehe mich zurück, so gut es geht, Johannes’ und Kristins Blicke und die Gedanken an meine Unfähigkeit. Aber ich entkomme den Träumen nicht. Noch immer stehe ich im Dunkeln in jenem Kreis, halte die Hände der Fremden und höre, wie sie mich bitten, ich solle mich rückwärts fallen lassen. Manchmal fiel ich, ohne zu wissen, ob jemand hinter mir stand, um mich aufzufangen, und dieser Schrecken, die Angst vor der Dunkelheit, dem Tod ... Ich wache immer auf, bevor ich erfahre, wie es ist, den Boden zu erreichen. Meine Kiefer schmerzen. Wenn ich versuche, den Mund zu öffnen, knackt es leicht, und er ist so trocken, daß die Zunge am Gaumen festklebt. Völlig ausgedörrt, Wasser. Ganz und gar leer, muß nachgießen.

Aber da sind auch andere Träume, angenehme. Sogar wenn ich hier im Turmzimmer sitze, kehren sie zurück, und dann bin ich merkwürdig atemlos und erregt. Es sind erotische Träume, meist mit demselben Thema. Ich treffe Männer, mit denen ich früher einmal ein Verhältnis oder nur eine sexuelle Beziehung hatte. Wir begegnen uns wieder, suchen einen Platz, an dem wir allein sein können, und beginnen uns sofort zu lieben. Wir saugen uns am Nacken des anderen fest, die Hände bewegen sich wie ausgehungerte Vögel über den Körper des anderen. Es geschieht wie auf ein vereinbartes Signal, keine Worte, und obwohl es aufreizend ist, ist es doch auch sehr berührend. Es liegt Zärtlichkeit darin, das Gefühl, daß wir uns außerhalb der Zeit begegnen: »Endlich bist du hier, und wem schadet das schon?« Aber die Träume beeinflussen auch mein waches Leben. Es ist, als sei ich guter Hoffnung, ohne daß ich ein Kind gebären werde. Ich warte, suche Zeichen und harre meiner Zeit. Ständig mit dem Gefühl des erstickten Verlangens und mit dem Traum von berauschender Freiheit. Ich warte auf Post, auf Prophezeiungen, auf ein Licht, das mir den rechten Weg weist, einen Kreis in der Dunkelheit, der plötzlich in Licht badet, so daß ich sehen kann, wer meine Hände hält, wer mich also auffangen wird, wenn ..., falls ich falle.

Herman ist hin und wieder zu Hause, ist da und gleich wieder weg. Ist er hier, essen Rosanna, er und ich gemeinsam. Die beiden reden ein wenig zerstreut und gut erzogen miteinander. Ihr seid meine Familie, denke ich dann manchmal, ihr und Marvin. (»Wo ist Marvin, Mama?«

»Spielt irgendwo draußen.«

»Wo ist Marvin, Mama?«

»Wieder beim Doktor, Liebling. Die beiden müssen sich ein bißchen unterhalten.«

»Wo ist Marvin, Mama?«)

Rosanna sagt Gute Nacht, und wir gehen durch das Haus und betrachten unsere neu erworbenen Sachen. Herman nickt zufrieden und abwesend zu allem. Er will das Haus über Wasser halten, will jedoch nicht selbst mitrudern. Er betrachtet uns ein wenig von der Seite, amüsiert und mit dem stets gepackten Koffer in der Diele. Immer steht die Arbeit an erster Stelle. Wir leben mit einem der größten Dirigenten unserer Zeit (ja, all die Agenten und Presseleute lassen es mich nicht vergessen), und der Preis, den wir bezahlen müssen, ist dieser Koffer. Sowie das mangelnde Interesse. Sowie ... Nicht immer ist es so gewesen; es fällt schwer, sich an etwas anderes zu erinnern.

Wir legen uns ins Bett, Seite an Seite. Herman ist diesmal nicht auf dem Weg irgendwohin, das Konzert wurde abgesagt, und er hat eine unerwartete Spielunterbrechung. Ich habe Lust, ihm nahezukommen, will zuhören, will, daß er mir zuhört, möchte wieder Geheimnisse teilen – dieses Verlangen loswerden, das mich zu Boden zu drücken scheint. Meine Hand in seiner, ich presse sie fest und sage: »Irgendwas stimmt nicht, Herman.«

»Wann stimmt schon alles?« erwidert er gähnend.

»In deinen Konzerten.«

»Ja, aber da haben wir Noten, denen wir folgen können. Was haben wir im Leben?«

»Mich«, versuche ich. »Du hast mich.«

Ein Murmeln, flüchtiges Streicheln über meine Wange.

»Irgendwas läuft falsch«, beharre ich. »Etwas ist aus dem Gleichgewicht. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Hilf mir.«

Jetzt seufzt er, klemmt sich ein weiteres Kissen unter den Kopf, reibt sich die Augen.

»Fühlst du dich alt, Herman?«

»Wir müssen alle sterben, meine Liebe.«

»Ja, aber beunruhigt dich das?«

Ich berühre ganz vorsichtig seine nackte Hüfte. Er zuckt zusammen.

»Ist es hier nicht mächtig kalt?«

Er steht auf und sucht nach einem Pyjama. Sein graues Haar leuchtet im Mondlicht, und er stellt sich ans Fenster und blickt auf das Meer.

»Ich bin doch hier.«

Nach kurzem Zögern legt er sich wieder ins Bett. Hält meine Hand keusch auf der Bettdecke fest.

»Sicher bist du das, natürlich ist es so«, murmelt er.

Schweigen, aber keine Küsse.

»Was willst du, Herman? Mit mir, mit uns und den Kindern?«

»Will?« fragt er verwundert. »Was soll ich wollen. Wir haben doch alles.«

»Alles?«

»Also Molly, du kannst so halsstarrig sein. Alles, was ich habe, ist hier.«

»Marvin ist es nicht.«

»Aber das haben wir doch gelöst, so gut wir vermochten. Zum Besten aller. Jetzt nicht noch mehr davon.«

»Aber wann, wenn nicht jetzt?«

»Ich bin müde. Alle diese Orchester, die auf Interpretationen warten, auf etwas Bahnbrechendes. Versuche doch mal zu verstehen. Manchmal raubt mir das jede Energie. Was wäre, wenn ich nicht mehr zu bieten hätte?«

»Dann sage doch nein.«

»Nein? Das kann ich nicht.«

Das habe ich schon früher gehört. Ein überraschend lauter Seufzer von meiner Seite, weshalb ich sofort das Thema wechsle.

»Die Geschichte über uns, Herman«, sage ich und lächle ihn zärtlich an. »Irgendwo habe ich gelesen, daß jede Ehe eine gemeinsame Geschichte hat. Wie man sich kennenlernte und weshalb, die Entscheidungen, die man danach getroffen hat. Wie lautet unsere Geschichte, was meinst du?«

Meine tastenden Finger unter seiner Pyjamajacke. Sie wollen sagen, laß mich mit meinen Träumen nicht allein. Schreib mir, träume wieder von mir, prophezeie mir die Zukunft, verzehre dich – was auch immer. Die Finger gleiten um seinen Nabel, er rührt sich nicht. Langes Schweigen.

»Ich habe Angst«, höre ich mich sagen und liege schwer auf dem Kissen. »Dieses Gefühl, daß nichts stimmt, daß mein Körper etwas ist, in dem ich nicht zu Hause bin. Das Ende. An so etwas denke ich. Wie ich dem entgegenfalle. Alle wissen wir es schließlich, aber wie kann man es mit Würde handhaben?«

Er setzt sich auf, ich rutsche von seinem Arm. Er steht erneut auf.

»Ich will das Bett nicht mit dem Tod teilen.«

»Mit dem Tod?«

»Als Gesprächsthema. Ich ertrage das nicht, Molly.«

»Dann laß uns über etwas anderes reden.«

Aber er hat schon sein Kissen genommen und ist gegangen, um sich im Gästezimmer schlafen zu legen, die Tür fällt hinter ihm ins Schloß. Früher einmal war mein Körper etwas, von dem er sich nicht zu trennen vermochte. Er war der Ort seines Verlangens. Damals lagen wir dicht aneinandergeschmiegt, und keiner von uns wollte hinausfinden. Wir waren eins und konnten uns nicht vorstellen, anders zu leben. Damals war ich kein kleines einsames Mädchen im Körper einer erwachsenen Frau. Wie bin ich hier gelandet?

Das erste Mal, als ich Herman sah: Vital, gut aussehend, mit Charisma, irgendwo weit weg eine Frau – eine vage Erinnerung an einen blassen Schatten, der kein Wort sprach, offenbar sind wir uns wohl doch begegnet – und keine Kinder. Mein Herman! Ich wußte es sofort, sein Lächeln, das zu etwas einlud. Er lud zu einem anderen Leben ein, und die er einlud, war ganz eindeutig ich (O, die Auserwählte zu sein!), und wer war ich schon, um das abzuschlagen? Es war, als stünde man im Licht, würde gesehen und, aufs neue, getragen und erhoben. Die Hand um meinen Nakken, dort hatte es begonnen. Ich wollte etwas fragen, er blieb nach der Probe da und beugte sich zusammen mit mir über die Noten – ungewöhnlich, natürlich war ich mir dessen bewußt – und statt die Lehne des Stuhls zu umfassen, legte er seine Hand um meinen Nacken. Wir wußten es bereits in diesem Augenblick. Der Nacken der Geisha. Dieser ungeschminkte Teil voller Blässe, das Sinnbild der Lust.

Er streckte die Arme in die Höhe und erhob seinen Taktstock. Ich gehorchte ihm, damals wie heute. Er bestimmte den Takt, und ich spielte. Er liebkoste, und ich ließ mich liebkosen. Er liebte, und ich ließ mich lieben. Er küßte, und ich ließ mich küssen. Zuweilen aber war es ein merkwürdiges Gefühl, es schien, als wollte er meinen Mund mit seinen Küssen verschließen. Wenn ich ihm widersprach, beugte er sich stets vor und küßte mich. Ich versuchte erneut zu reden, und er legte mir den Finger auf die Lippen. Es lag etwas Erregendes darin, wie er mich lenkte. Der Anblick seiner Hände, die wenigen Male, die er mich dirigierte. Kraft und Entschlossenheit: Geh mit, ich bin es, der für Ablauf und Interpretation einsteht. Halte nun inne, spiele jetzt, lege deine Hand hierhin, nein dorthin, erhebe den Bogen, atme mit mir, beuge den Rücken. Ich ging willig mit, ich war jung: Führe mich, trage mich, zieh mich aus, halte mich, lösch das Licht, küß mich, bis meine Gedanken verstummen.

Aber die Gedanken verstummten nicht. Mein Mund öffnete sich auch weiterhin, um etwas anzumerken, und am Ende war er es müde, mich mit Küssen zum Schweigen zu bringen. Am Ende hatte ich genug eingekauft, jedenfalls für eine Zeitlang, und dann stand ich da. Und er packte, stellte den Koffer neben die Tür. Unsere Kinder allein um meine Füße. Allein in einem ach so dekorierten Zuhause. Küsse anstelle von Worten, damit kann man doch wohl leben?

Wir hatten schließlich unsere Abmachung. So nannte er es. Er hielt das Haus finanziell über Wasser und ich in Bezug auf die Gefühle. Er brachte Geld ins Nest – mein Gehalt war lächerlich gering, oder etwa nicht? –, während ich garnierte und verzierte, den Vogeljungen Futter ins Mäulchen stopfte und ihre Münder mit Süßkram, durch Bestechung und Schelte zum Schweigen brachte. Mama ist jetzt ein bißchen müde? Ziemlich oft war Mama ein bißchen zu müde, doch schließlich gab es die Abmachung. Und wir konnten ja die Plätze tauschen, wenn ich wollte. Einmal wollte ich es, ich bat Herman, Vaterschaftsurlaub zu nehmen, damit ich mich als freie Kammermusikerin erproben konnte, bevor ich meine feste Anstellung in der Konzerthalle wieder antrat.

»Aber Dirigenten können doch keinen Vaterschaftsurlaub nehmen«, sagte er ganz zärtlich. »Wer würde denn nach einer Absage wieder anrufen? Das verstehst du doch sicher.«

»Und was ist mit unseren Gesprächen?«

Er küßte mich noch zärtlicher. Was gab es da hinzuzufügen? Dirigenten im Vaterschaftsurlaub! Sogar ich mußte lachen. Und hinterher das Gerede im Ausland! Wir lachten, bis ich zu husten anfing. Und ich begründete die Entscheidung wie so viele andere Frauen: »O nein, ich will die Kinder nicht hergeben. Nein, nicht einmal, wenn Herman sie nimmt. Und meine Arbeit ist im Augenblick ohnehin so öde, da ist eine Pause nur schön. Herman kann ja nicht so leicht freinehmen, aber darum geht es nicht!«

Und so wurden wir eins dieser Paare, bei denen man dem Thema Gleichstellung, zumindest der praktizierten, aus dem Weg gehen mußte. Inzwischen sind wir ziemlich viele, trotz des ständigen Redens und der neuen Generationen, und wir schlängeln uns geschickt zwischen den Falltüren hindurch.

Ein Kuß, und es war vorbei. Aber etwas in mir war gestorben. Ob ich es zugab? Ich log und täuschte: mich selbst, ihn, andere Leute und unsere Kinder. Doch in meinem Inneren? Ein kleiner spitzer Stachel, der eine Wunde aufriß. Er sitzt noch immer dort. Unter dem Schorf – da blutet es weiter.

Mehr jetzt nicht, Rosanna. Ein wahrhaftigeres Leben? Lügen und Halblügen. Liebe und Leidenschaft. Lust und Unlust. Ich weiß nicht, liebstes Kind. Wußtest du, Rosanna, wie weh es tut, das zu schreiben? Bestimmt hast du es geahnt, ein Tagebuch nur für mich. Auch dich habe ich manchmal mit Küssen zum Schweigen gebracht. Bei Marvin ging es sogar bis zu Schlägen. Doch war nicht ich es, die ihre Hände erhob. Auch der Dirigent war es nicht. Nicht in diesem Fall.

Genug jetzt. Ich lösche das Licht im Turmzimmer, drehe eine Runde durch das schlafende Haus. Rosanna ist vom Kissen gerutscht, das dunkle Haar hängt über die Bettkante, der Mund offen, erschreckend verletzlich. Marvins Tür ist geschlossen, auch dort wurden die Koffer gepackt. Im Gästezimmer liegt mein Mann, der es nicht mehr über sich bringen kann, mich zu küssen. Gewiß verurteile ich ihn; das tun verschmähte Frauen.

»Vergiß nicht, daß er in der Welt nach oben kommen will.« Das sagte seine Mutter bei unserer Heirat, Marvin als Säugling in ihren Armen und ich im wallenden weißen Kleid mit tropfender Brust, natürlich fanden das viele geschmacklos. Nach oben kommen. Sie mußte es wissen: Allein mit fünf Kindern in einer Zweiraumwohnung, beharrlich hat sie ihn angefeuert. Und natürlich verstand ich, ich sagte doch, daß er ein Aufsteiger ist. Aber naiv, wie ich war, glaubte ich, ich würde neben ihm aufsteigen, daß wir, jeder mit einem Kind auf dem Rücken, gemeinsam die Spitze des Berges erreichen, zu unseren Füßen die Welt und in unseren Lungen frische Alpenluft: The hills are alive with the sound of music ...

Rosanna, du warst es, die mich veränderte, mich zum Menschen machte. Ich glaube, du weißt es. Aber daß du mir jetzt verlorengehst? Das Leben. Nie ist es so, wie wir geglaubt und erwartet haben. Immer ist es völlig anders.

Die Liebhaberin

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