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2. Mai 1999

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Ich wache spät auf, gejagt von Träumen, in denen man im Dunkeln einen Kreis bildet und es unerwartete Begegnungen gibt. Tiefes Luftholen. Als ich die Augen schließe, kehren die Bilder zurück: Hände um meine Hüften, das Gesicht eines Mannes ohne erkennbare Züge über mir. Berührend, aber auch aufreizend. Merkwürdige Kombination. Ich strecke die Hand aus, und da liegt Rosanna.

»Liebstes Mamachen«, sagt sie und kuschelt sich unter meinen Arm. »Die beste Mama der Welt.«

Es erstaunt mich jedesmal wieder. Wie eine so zornige, junge Frau in meinen Armen zum kleinen Mädchen wird. Wir liegen Seite an Seite, blicken auf das sonnenüberflutete Meer, die Vögel singen, und es wird ein wunderbarer Tag werden.

»Dein Vater?« frage ich schlaftrunken.

»Er ist los. Aber er hat dir eine Tasse hingestellt.«

Dieser Wunsch zu vermitteln, dort Hoffnung zu verbreiten, wo es so wenig davon gibt – das ist ihre Bürde und ihre Gabe.

»Wie lieb von ihm«, sage ich und stehe auf. »Willst du, daß ich dich zur Schule bringe?«

»Ich bin schon zu spät.«

»Ein Grund mehr. Es ist lange her, daß ich deine Schule gesehen habe.«

»Da ist nicht viel zu sehen.«

»Langweilig?«

»Fürchterlich«, sagt sie verdrossen.

Frage jetzt, los frage! Aber sie ist schon aus dem Schlafzimmer verschwunden.

Ich gehe ins Bad, Rosanna duscht als erste. Ich betrachte mich im Spiegel. Älter geworden, muß man einfach zugeben. Ich recke mich ein wenig. Wenn ich das hier ein bißchen verändere, leicht lifte ... So nicht, Molly. Was ist mit Würde? Ein so unglaublich schwieriges Wort. Rosanna steigt aus der Dusche, nimmt ein Handtuch, ich bin an der Reihe. Da sagt sie es, leise, fast unhörbar: »Ich entwickle mich nicht, Mama.«

»Nicht?« erwidere ich verblüfft und suche in meinen Gedanken: Frage, frage!

»Nein«, sagt sie nachdrücklich und zieht das Handtuch straff um sich.

»Vielleicht mußt du dir neue Ziele setzen, irgendwelche Herausforderungen, wie wärs mit einem Kurs?«

Sie sieht mich resigniert an.

»Verstehst du wirklich nicht?«

Wie eng sie das Handtuch um den schmalen Körper geschlungen hat.

»Verzeih mir, Rosanna. Es ist so lange her. So vieles, was in meinem Leben passiert, und ...«

»Es geht nicht um dich, Mama! Wirklich nicht.«

Wieder dieses Lachen, nervös, bürgerlich. Rosanna schlägt die Tür hinter sich zu. Ich gehe ihr nach.

»Entschuldige. Erzähle es mir.«

»Die Schule hier, du hast keine Ahnung. Die Anforderungen. Beim Sport, die Mädels hinterher in der Dusche, was sie sagen. Erinnerst du dich, Mama?«

»Nur schlecht«, sage ich und begreife, daß es genauso ist, ich lebe von einem Moment zum anderen. »Du bist so unglaublich hübsch«, füge ich vorsichtig hinzu.

»Hübsch«, schnaubt sie, »man hat erwachsen zu sein. Eine Kindfrau, das wollen sie haben. Mit Brüsten wie eine Mama und Hüften wie ein Junge. Siehst du es nicht? Ich bin nur ein hübsches Mädchen. Das reicht nicht hinten und nicht vorne.«

»Für mich reicht es bei weitem«, versuche ich es auf die scherzhafte Art. Sie legt den Kopf an meine Schulter.

»Koma wäre schön«, murmelt sie.

»Wie bitte?«

»Mit dreizehn müßte man einen richtig dramatischen Unfall haben, ins Koma fallen und mit achtzehn wieder aufwachen. Fertig entwickelt und so. Phantastisch.«

»Koma«, sage ich nickend, »müßte es auch bei bald Vierzigjährigen geben.«

Jetzt lachen wir beide, endlich.

Auf dem Rückweg von ihrer Schule sitze ich wieder im Bus. Da war etwas, was sie gesagt hatte, dicht an meine Brust gedrückt, gerade, als ich gehen wollte: »Muß ich?« Aber ich habe mich wohl verhört. Bestimmt hat sie »Machs gut« gesagt. Rastlosigkeit überfällt mich, ein enervierendes Zucken der Beine wie bei Teenagern. Spielfreier Tag, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Bin nahe daran, den Bus ins Zentrum zu nehmen, um mich einer weiteren Orgie in vollgestopften Läden hinzugeben. Aber ich kenne Rosannas Blick, wenn ich heimkomme und die Tüten um meine Füße gleiten, als stünde ich in einem Schlangennest. Und dann Hermanns Desinteresse, wenn ich ihm wie ein glücklicher Schäferhund die Trophäen apportiere.

Muß etwas gegen diese zitternden Beine tun. Ins Fitneßstudio gehen. Genau. Und nicht vergessen: Gymnastikbänder, positive Gedanken, ein Ziel vor Augen, keinen Alkohol, rasches Gehen, rote Wangen und schwungvoller Schritt. Ach bitte, nur ein einziges Zeichen!

Dann steht er da. Im Bus. Sich nach fast zwanzig Jahren wiederzusehen. Er ist der schönste Mann, mit dem ich je eine Beziehung hatte. Wir waren lediglich ein paar Wochen zusammen, und da lagen wir meistens im Bett. Das haben wir auch in meinen nächtlichen Träumen getan, er ist einer der Männer, der am häufigsten darin auftritt. Bin gezwungen, mich zu räuspern, spüre, daß mir der Schweiß den Rücken hinunterläuft und die Wangen glühen. Mein Gott, Molly, wie heißt der Typ? Irgendwas mit Sport, Sprinten, Läuferaß vielleicht?

»Molly, so viele Jahre her und dann plötzlich in einem Bus ...«

Ich muß sehr verwirrt aussehen.

»Wir haben uns nur kurze Zeit gekannt. Mats. Erinnerst du dich an mich?«

»Mats. Natürlich.«

Tennis. Das war es.

»Mats Wikander. Fast wie der Tennischampion«, bete ich aus dem Gedächtnis herunter.

»Aber sauschlecht in Tennis«, erwidert er lächelnd, darüber haben wir offenbar immer gelacht. »Doch gut in anderen Dingen.«

»Gut in anderen Dingen«, wiederhole ich und merke, daß das Lächeln gar nicht mehr aufhören will.

Ich mache den Versuch, ihn nach seinem Leben zu fragen, als er, wie aus Versehen, leicht meinen Hals berührt. Kurz genug, um ignoriert zu werden, lange genug, um intim zu wirken. Etwas in mir zerspringt. Es ist, als drücke mich ein schweres Gewicht auf den Bussitz hinunter. Ich blicke direkt in die Augen eines Fremden und kann mich ihnen nicht entziehen. Es fällt mir auf – wie hat mir das entgehen können –, wie nahe die Hände anderer Menschen sind. Wo zuvor ein Abstand existiert hat, gibt es jetzt nur Leere, die mit Berührungen ausgefüllt werden muß. Lediglich ein zärtliches Streicheln fehlt, um diese schwer zu meisternde Einsamkeit zu überwinden. Ich versuche zu lachen, doch nur ein Schluchzer ist zu hören. Ich habe kaum ein Wort gesagt, er sieht mich dennoch. Die Schwere, die Begierde, die sich sofort auf die Atmung schlägt. Eine schwache Melodie in meinem Kopf. Einatmen.

Als er meine Hand nimmt, ist kein Widerstand mehr vorhanden, und als der Bus hält, steigen wir aus. Geradezu blindlings werde ich durch das Vorstadtgewirr von Einfamilienhäusern, Alleen, Spielplätzen, Verwaltungsgebäuden und Parkplätzen geführt. Ich weiß nicht, wie lange wir dort unterwegs sind, nur daß wir nichts sagen und daß dieses Gefühl der Schwere mich beim Gehen behindert. Bei Steigungen legt er mir die Hand auf den Rücken und schiebt mich vorwärts. Die Berührung bringt mich dazu, sofort ein Hohlkreuz zu machen, die Knie werden weich, ein Ziehen, hinauf bis in den Kopf. Ausatmen. Den Bogen bereithalten. Da ist wieder die Musik, das Tempo jetzt schneller.

Wir betreten eine große Villa, er stellt die Alarmanlage ab. Das Haus gleicht unserem. Eine Frau hat es eingerichtet, das sehe ich sofort, denn sie hat ebensolche Möbel ausgewählt wie ich. Ein bißchen exklusiver, etwas kostspieliger, ausgefallener. Glaubten wir, ja. Genau das gleiche Sofa, die Farbe ein wenig anders, ein ebensolches Bücherregal, doch das ihre ist »extra angefertigt« auf etwas andere Weise. Wie wir uns doch täuschen lassen. Ich will gerade etwas sagen, als er mich entschieden neben sich aufs Sofa zieht.

»Meine Frau und meine Kinder sind drei Tage in Frankfurt.«

»Ich verstehe«, sage ich und streiche mit den Händen fest über mein Gesicht. »Ich werde sofort gehen.«

Als ich aufstehe, packt er mich beim Handgelenk, fährt mit den Fingerspitzen sanft meinen Arm hinauf.

»Was ich sagen will, ist: Wir haben viel Zeit.«

Zehn Stunden später ziehe ich mich in seiner Diele an. Er hält meine Schultern umfaßt, ganz fest, damit ich nicht ins Wanken gerate. Ein Blick in den Spiegel, wir sehen es beide. Er holt sofort eine Bürste, diskret zupft er erst die hellen Haare seiner Frau heraus. Danach bürstet er vorsichtig mein Haar. Es tut weh, meine Augen tränen.

»Es geht vorbei«, flüstert er, das hat er in diesen Stunden mehrfach wiederholt.

Eine einzige Sache habe ich gesagt, gleich zu Beginn: »Ich habe Angst.« Angst vor den Träumen, vor der Wirklichkeit, vor meinem Leben, das mir fremd erscheint, ich habe Angst vor dieser Veränderung, die in meinem Körper wütet und mich fiebern läßt. Nein, noch etwas habe ich gesagt, und zwar, als er mich fragte, was ich von ihm haben möchte, als er an meinem Rückgrat eine Perlenkette von Küssen ausgelegt hat.

»Gnade«, erwiderte ich zu meiner eigenen Verwunderung.

»Ich verstehe nicht viel von christlichen Begriffen. Aber ich kann Fleisch zu Brot und Blut zu Wein machen«, antwortete er lächelnd.

»Dann tue es.«

Und wir taten es.

»Es geht vorbei«, sagte er jetzt wieder mit einem Nicken und bürstete weiter mein Haar, worauf er sorgfältig die schwarzen Haare herauszupfte und sie in den Papierkorb legte.

Ein Mann der Ordnung.

»Noch immer genauso sportlich«, flüstere ich mit einem Blick auf seinen nackten Körper im Spiegel.

»Es gibt viele Arten, Sport zu treiben.«

»So ist es wohl. Man lernt es«, sage ich und blicke in zwei Paar Kinderaugen, die ihrem Papa an einem Badestrand zulächeln. Das Foto steckt in der rechten Ecke des Spiegels.

Er hebt meine frischgebürsteten Haare hoch, sie liegen wie ein Schal über seinen Händen, und er küßt meine Schultern.

»Bis bald.«

»Bestimmt. Soll ich ein Taxi rufen?«

»Ich finde den Weg.«

Aber als ich vor der Tür stehe, begreife ich, daß ich mich nicht auf den Beinen halten und noch weniger nach Hause finden kann. Ich fummle an meinem Telefon herum, meine Hände wirken plötzlich so groß. Haben meine Finger jemals dieses winzige Handy benutzen können? Ich schaue zu einem Straßenschild hoch, gebe der Vermittlung die Nummer an und setze mich auf einen Zaun, um zu warten. Dämmerung um mich herum. Hier werden Schulaufgaben gemacht, und man widmet sich der Familie. Kleine Mädchen blicken liebevoll von sonnigen Urlaubsstränden auf ihre Väter herunter, und in den Regalen stehen dicht an dicht Fotoalben und Diplome. Hier werden Geburtstagstorten gebacken und Rechnungen bezahlt. Haare gebürstet und Müllbeutel hinausgebracht. Laken werden gewechselt, und Waschmaschinen laufen auf vollen Touren.

Jetzt kommt das Taxi. Wir fahren in der Dämmerung davon, und ich sinke dankbar in die Anonymität. Reiße ein Stück Nagelhaut ab, es blutet leicht. Es tut weh, es tut weh. Mit dem Feuer zu spielen. Ich begreife, daß ich diesen Ausdruck eigentlich nie verstanden habe. Man will ja nicht spielen, man will sich verbrennen. Man will eine Brandwunde haben, an der man pulen kann, um den Schmerz erneut zu spüren. Man will, daß es sticht. Ich hatte eine Bombe unter alles legen wollen, das begreife ich jetzt. Wollte, daß es explodiert. Daher die Rastlosigkeit, das Warten auf ein Zeichen. Zu was für einer Art Mensch macht mich das? Wichtiger vielleicht: Wer beseitigt die Trümmer nach der Bombe?

Wir halten bei Rot. Ein Plakat auf einem Anschlagbrett, von oben beleuchtet. Zuerst zucke ich zusammen, weil ich meinen Namen bemerke, und bekomme nicht mit, was da steht.

»Haben Sie gesehen ...«, rufe ich dem Fahrer zu, »... daß dort auf dem Plakat Molly stand. So heiße ich!«

»Aha«, erwidert er unbekümmert, er hat schon öfter solche wie mich im Auto gehabt.

»Können Sie zur Ampel zurückfahren?«

Er macht kehrt. Ich steige aus und schaue mir den Aushang an. Diesmal nur eine Blume, aber dieselbe Botschaft: »Kann nicht genug bekommen.« Danach zwei Worte in säuberlicher Schrift »Mollys Requiem«. Kein Datum, kein Ort. Und in der rechten Ecke ein kleiner Stempel, »Zukunftsinstitut«. Da lache ich auf.

»Sehen Sie«, sage ich zum Fahrer. »Wie kindisch.«

Er gähnt.

»Das Taxameter läuft. Wohin wollen wir jetzt?«

»Nach Hause.«

Ich schließe auf und betrete die Diele. Dort sitzt Rosanna.

»Hast du mich erschreckt!«

»Du riechst komisch«, sagt sie nur. »Was hast du gemacht?«

Es ist dunkel in der Diele, zum Glück.

»Ich war beim Sport. Du weißt, ein wahrhaftigeres und gesünderes Leben.«

Sie zuckt die Schultern.

»Marvin hat angerufen«, fährt sie fort.

»Und was hat er gesagt?«

»Daß es ihm gefällt.«

»Wie schön. Genau wie Papa gesagt hat, es ist ein gutes Internat.«

»Und was wird dort aus Marvin? Ein Internierter?«

»Bitte Rosanna. Es ist spät, nicht jetzt.«

»Wann dann, wenn nicht jetzt?«

Meine Hand auf ihrer Schulter. Merkwürdigerweise nimmt Rosanna sie und drückt sie an ihre Wange.

»Mamachen.«

Eine kleine Ewigkeit Stille.

»Meine Kleine«, murmle ich.

Dann ein rascher Gedanke: Was tue ich Rosanna an? Erneut Übelkeit, nur ganz kurz. Streichle ihre Wange, wie ich es getan habe, als sie klein war und Schwierigkeiten mit dem Einschlafen hatte. Sage wie damals: »Schlaf nur, ich trage dich. Laß dich fallen, ich fange dich auf.«

Sie lächelt und läßt zu, daß ich sie in ihr Bett hochtrage. Sie scheint nichts zu wiegen. Seit wann bin ich so stark?

»Mollys Requiem. Gibt es ein solches Musikstück?«

»Das fragst du mich!?«

»Ja, in der klassischen Musik jedenfalls nicht, aber vielleicht habt ihr in eurer Schule eine Band, die so heißt?«

»Keine Ahnung, habe es nie gehört.«

»Aber du hast die Plakate gesehen an den Anschlagbrettern hier in Sjövik?«

»Nein«, erwidert sie gähnend.

Ich lege sie ins Bett, decke sie sorgfältig zu.

»Dein Center riecht gut.«

»Center? Ja richtig, das Fitneßcenter. Schlaf jetzt, Mäuschen.«

Ehe ich einschlafe, klingelt das Telefon. Ich höre weit entfernt Hermans Stimme, dann wird die Verbindung unterbrochen. Er ruft noch einmal an, aber diesmal ist nichts als Schweigen zu vernehmen. Ich lösche das Licht und schlafe seltsamerweise sofort ein.

Die Liebhaberin

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