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Kraftquelle Sport und ein fieser Stachel
ОглавлениеEin wichtiges Ventil in meinem Leben war und ist der Sport. Draußen herumtoben, um die Wette rennen, klettern? Seit ich denken kann, genau mein Ding. Und dann kam das Wasser mit all seinen Sportmöglichkeiten hinzu. Es sollte meine große Liebe werden. Mit Schwimmen fing es an. Das lernte ich während eines Spanienurlaubs. Herbert*, der damalige Chef meines Vaters und guter Freund meiner Eltern, brachte es mir bei, als ich vier Jahre alt war. Behutsam unterstützte er meine ersten Schwimmversuche im warmen Mittelmeer, indem er seine Hand von unten gegen meinen Bauch legte, damit ich nicht unterging. Immer und immer wieder – bis ich es schließlich allein konnte. »Da haben wir ja ein richtiges Naturtalent, eine richtige kleine Nixe«, lobte er mich. Das hörte sich schön an, obwohl ich lieber ein Wassermann gewesen wäre. Danach hätte ich das tragende Wasser am liebsten gar nicht mehr verlassen.
Aus dem Urlaub zurück, wollte ich meine neu entdeckte Leidenschaft natürlich nicht aufgeben und ließ nicht locker, bis ich im Schwimmverein angemeldet wurde. Dort machte ich mich so gut – ehrgeizig war ich sowieso –, dass man mich schon bald Wettkämpfe schwimmen ließ. Mit noch nicht mal sechs Jahren. Eine fantastische, sehr unbeschwerte Zeit. Für meine Mutter bedeutete die Schwimmkarriere ihrer Tochter allerdings eine Belastung mehr, denn sie fuhr mich nun zweimal die Woche zum Training nach Dortmund. Vierzig Minuten hin und vierzig Minuten zurück plus den Wettkämpfen an den Wochenenden. Da ich noch ein Kind war, störte sich zunächst niemand im Verein daran, dass ich in Badehose beim Training auftauchte. Immerhin schwamm ich darin ja wie der Blitz und sammelte einen Pokal nach dem anderen und ein großes Bündel an Medaillen. Irgendwann ging das mit der Badehose natürlich nicht mehr, und ich musste wie alle anderen Mädchen auch einen Badeanzug anziehen. Meine Stimmung mag darunter gelitten haben, meine Leistung jedenfalls nicht.
Wasser ist bis heute mein Element. Wenn ich mich darin bewege, wird plötzlich alles viel leichter, irgendwie schwerelos. Nirgends kann ich meinen Kopf so gut abschalten und mich fallen lassen wie beim Schwimmen und Tauchen.
Nach fünf Jahren beendete ich meine Schwimmkarriere jedoch. Ich gewann noch einen wichtigen Pokal, dann hörte ich auf. Das sorgte natürlich für Bestürzung bei Trainer und Mannschaftskolleginnen.
»Oh nein, Yvonne, wir können und wollen nicht auf dich verzichten. Gerade jetzt, wo du die nächste Stufe erreichen könntest«, versuchte mich mein Trainer zu locken. Es tat mir auch sehr leid, denn ich mochte den Sport und die Menschen dort. Aber im Badeanzug hatte ich keine Chance mehr. Meine wachsenden Brüste machten mir einen Strich durch die Rechnung. Sollte ich die ab jetzt etwa öffentlich zur Schau stellen? Für mich eine entsetzliche Vorstellung. Diese beiden Dinger wollten mir etwas aufzwingen, das ich zutiefst ablehnte: das Mädchensein. Also musste ich mir Ausreden einfallen lassen.
»Ich komme doch jetzt auf die weiterführende Schule«, erklärte ich, »da schaffe ich es einfach nicht mehr mit den vielen Stunden und Hausaufgaben und so.«
Dass mein Bruder und mein Cousin André gleichzeitig aufhörten – sie wechselten zur Leichtathletik –, verschaffte mir gleich noch eine Ausrede: Die zusätzliche Fahrerei werde meiner Mutter zu viel.
Ja, mein struggle nahm definitiv an Fahrt auf. Es wurde immer schwieriger, diesen ständigen inneren Kampf zu ertragen. Doch der Sport half mir dabei, mich wenigstens noch als selbstbestimmter Mensch zu fühlen: Auf das Schwimmen folgte die Leichtathletik. Das lag nahe, schließlich war André damals mein bester Freund und wie mein zweiter Bruder. Vielleicht war es für den anderthalb Jahre Älteren deshalb auch nie komisch, dauernd mit einem Mädchen abzuhängen. Seit Jahren unternahmen unsere Familien viel gemeinsam; man feierte so gut wie alle Geburtstage und Feiertage miteinander. Auch als wir älter wurden, waren André und ich fast täglich zusammen. Wenn ich mit dem Schulbus nach Hause kam, hieß es kurz mittagessen, Hausaufgaben zusammenpfuschen – und dann raus: skaten oder eben Leichtathletik. André war mein Sparringspartner im Training und im Leben. Wir hatten nicht nur die gleichen Interessen, sondern sehen uns bis heute sogar sehr ähnlich. Wie Geschwister. Unsere innige Freundschaft dauerte sehr lange an. Erst als er zum Studium nach Köln ging und wir beide in unser Erwachsenenleben einstiegen, haben wir uns etwas aus den Augen verloren.
Nach wie vor hat Sport eine hohe Bedeutung für mich. Er gibt mir die Kraft, mich zu spüren und mit anderen zu messen, an Grenzen zu kommen, sie zu überwinden und die eigene Willensstärke zu spüren. Gleichzeitig ist Sport mein Weg, Wut, Frust und innere Einsamkeit zu kompensieren. Schnell habe ich gemerkt: Wenn du dich auf dem Sportplatz abrackerst, hast du weniger Zeit zum Grübeln. Außerdem bot er mir immer wieder die Gelegenheit, mich mit Jungs zu vergleichen. Konnte ich, was sie konnten? War ich genauso schnell und stark?
Es folgte eine Episode in meinem Leben, die ein großer Triumph hätte werden können, jedoch abrupt endete. Mit einem Stachel im Herzen, den ich wahrscheinlich nie mehr loswerde.
Mein Bruder und André trainierten unter der Leitung der bekannten Kugelstoßerin Gertrud Schäfer. Als ich die beiden eines Tages beim Training besuchte, durfte ich aus Spaß ein paar Runden mitrennen.
»Du bist ja schnell!«, sagte Gertrud Schäfer mit einem ungläubigen Blick auf ihre Stoppuhr. »Junge, Junge … Wann fängst du bei uns an, mein Mädchen?«
Das war mein Sprung ins Team.
Ich hatte einen Mordsrespekt vor meiner neuen Trainerin, betete sie regelrecht an. Nicht nur dass Gertrud Schäfer selbst deutsche Meisterin und Olympia-Teilnehmerin gewesen war, sie ist auch eine Trainerlegende. Unter ihrer Regie gewann die Siebenkämpferin Sabine Braun zweimal die Weltmeisterschaft und wurde zweimal Europameisterin. So jemandem begegnet man wirklich nicht jeden Tag. Und noch unwahrscheinlicher ist es, von so einer Koryphäe betreut zu werden. Das Glück meinte es richtig gut mit mir. Noch dazu bescheinigte sie mir großes Potenzial und wollte mich für eine Sportlerlaufbahn fit machen.
Dass Gertrud Schäfer auf der weiterführenden Schule auch noch meine Sportlehrerin wurde, kam meinem sportlichen Fortschritt sehr zugute, weil sie mich nun noch mehr im Blick hatte. Eine intensive Trainingszeit über drei Jahre schweißte uns zusammen – und meine Trainerin entwickelte einen verheißungsvollen Plan.
»Ich bringe dich zu den Olympischen Spielen!«
Davon war sie offenbar felsenfest überzeugt. Ich traute meinen Ohren nicht. Wie bitte? Ich und Olympia? Der helle Wahnsinn. Das schien so unwirklich, so abstrakt. Einfach sehr weit weg. Da hocke ich immer vor der Mattscheibe, wenn sich Athleten aus der ganzen Welt bei den Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften messen. Und nun soll ich da mitmischen? Ich freute mich wie verrückt, blieb äußerlich aber ganz cool, während mein Ehrgeiz auf Hochtouren kam. Für eine ganze Weile schwebte ich auf Wolke sieben, vergaß sogar meine große Last, die ich mit mir herumtrug.
Gertrud Schäfers Idee war es, mich wie einen Phönix aus der Asche zu präsentieren. Sie wollte mich allein, also ganz ohne Verein, aufbauen, um mich dann bei wichtigen Wettkämpfen aus dem Hut zu zaubern und die Konkurrenz zu überraschen. Auf mich hatte diese Form des Trainings allerdings keinen guten Effekt, weil ich mich ganz selten mit den Besten messen konnte. Dauernd gegen schwächere Mitschüler zu siegen, ist nur halb so schön und zielführend. Und so blieb André, der ähnlich gut war wie ich, mein einziger Sparringspartner. Aber er kämpfte nun mal gegen ein Mädchen.
Nach und nach schwand meine Motivation, was durch den energiefressenden Kampf in mir selber verstärkt wurde. Dauernd nur Training, Training, Training. Dabei setzten mir meine Hormone immer mehr zu. Ich hatte Schlafprobleme, fühlte mich ausgelaugt und überfordert. Es fiel mir immer schwerer, die Laufschuhe zu schnüren, die Sporttasche zu packen. Dann noch der ganze Schulkram und meine Seele. Hilfe! … Vater und Trainerin machten tüchtig Druck. »He, Yvonne, streng dich an.« »Du kannst noch mehr, das weiß ich!« Oft war ich so fertig, dass ich kotzen musste. Das alles führte dazu, dass ich mich immer häufiger fragte: Wofür diese ganze Plackerei? – bis ich es irgendwann einfach satthatte. Viel lieber wollte ich mich den verlockenden, süßen Mädels um mich herum widmen …
Heute bereue ich es zutiefst, nicht durchgehalten zu haben. Es schmerzt mich, vielleicht die größte Chance meines Lebens verpasst zu haben. Das mag angesichts meiner Geschichte nebensächlich erscheinen. Aber den Traum von Olympia nicht realisiert zu haben, hat eine tiefe Narbe hinterlassen. Gertrud Schäfer hatte eine enorme Bedeutung für mich, als Trainerin, aber auch als Mensch, weil sie an mich geglaubt hat. Ihre unkomplizierte Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen, tat mir damals unglaublich gut. Gerade deswegen habe ich mich auch jahrelang so geschämt. Was für eine Enttäuschung muss ich für diese großartige Trainerin gewesen sein.
Gertrud Schäfer erinnert sich …
»Ich muss mich in eure Bewegungen verlieben«, habe ich immer zu meinen Athleten gesagt. Bei Yvonne war das kein Problem. Ich sah sie und wusste sofort, dass ich da ein Riesentalent vor mir hatte.
Die Schule, an der ich als Sportlehrerin tätig war, verfügte über eine zweihundert Meter lange Tartanbahn mit leichter Steigung. Da habe ich Yvonne getestet. Das war selbst für eine alte Sporthäsin wie mich ein sehr aufregender Moment, als ich das schmale Ding die Bahn hochflitzen sah. Ich traute meinen Augen kaum. Yvonne hatte wahnsinnige Beine mit einer unglaublichen Schrittfolge. Eines dieser seltenen Naturtalente. Sie erreichte auf Anhieb Zeiten, von denen andere nur träumen konnten.
Aber nicht nur ihre körperlichen Voraussetzungen waren einmalig. Sie war total sprintstark und hatte eine enorme Ausdauer. Sie war einfach topfit und dank der vielen verschiedenen Sportarten, die sie betrieb, sehr gut durchtrainiert. Ein absoluter Trainertraum.
»Wenn du durchtrainiert bist, dann sehe ich dich als 17-Jährige in der 4 × 400-Meter-Staffel, und zwar bei den Olympischen Spielen in Athen. Du bringst alles mit«, sagte ich zu ihr. Damit hatten wir beide einen Deal und einen Plan.
Langsam steigerten wir das Training. Zu Hause in Marl habe ich selber eine Kugelstoßanlage, einen Diskus-Abwurfplatz und einen Kraftraum. Zudem konnten wir das Gelände im Wald und die Sportstätten der Schule am Wochenende nutzen. Im ersten Jahr hat sich Yvonne voll reingehängt, sehr viel trainiert. Dann aber wallten die Hormone, und die Liebe wurde wichtiger als die Stunden auf dem Sportplatz.
Als Trainerin kommt man seinen Schützlingen sehr nah. Man trainiert so intensiv, verbringt unzählige Stunden miteinander, schaut auf die körperliche Fitness, hat einen Blick auf die Zeiten, vergleicht sie. Daran sind natürlich auch Probleme, seelische Erschütterungen und Unzufriedenheiten abzulesen. Man bekommt mit, wenn sich etwas anbahnt oder nicht stimmt. Hinzu kommt die hormonelle Umstellung während der Pubertät, die mit den Anforderungen einer Sportlerlaufbahn nicht unbedingt kompatibel ist.
Yvonnes Orientierung, ihr Blick in Richtung Mädchen ist mir nicht verborgen geblieben. Eines Tages lud sie eine Freundin ein, sie beim Schüler-Zehnkampf in Aalen zu besuchen. Wie immer übernachteten wir alle zusammen in den Klassenräumen. Als es dunkel wurde, hörte ich es rascheln. Yvonne und die Freundin kuschelten sich in einen Schlafsack. Irgendwas stimmt da nicht, dachte ich. Doch was tut man in so einer Situation? Ein Fass aufmachen? Ich habe das eher pragmatisch gesehen. Na, mit einer Teilnehmerin mehr fahre ich bestimmt nicht nach Hause, dachte ich, aber ansonsten lassen wir das mal auf sich beruhen. Die Jugendlichen haben schließlich auch ein Recht auf ihre Entfaltung und Intimsphäre.
In dem jugendlichen Alter kommen die Sportler oft an ihre Grenzen, mental, seelisch. Bei Yvonne spürte ich viel Druck und Ambivalenz. Ich kannte die Familie gut, daher wusste ich auch, welche anderen Belastungen auf Yvonnes Schultern lagen. Sie war überhaupt nicht mit sich im Reinen. Eine Katastrophe für unsere Olympia-Pläne. Die Ausreden und die Absagen häuften sich. Als abzusehen war, dass sie die Kurve nicht bekommt, sagte ich zu ihr:
»Nächsten Samstag legen wir beide die Beine hoch.«
»Wieso?«, fragte sie.
»Yvonne, dir fehlt jener absolute Ehrgeiz, der nötig ist, um dieses Ziel zu erreichen. Ich erwarte eine andere Einstellung. Ich will und kann mich nicht mit Mittelmaß zufriedengeben. Du hast das Talent, ganz oben mitzumischen, aber dafür musst du richtig beißen.«
Genau das war zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht möglich. Natürlich war ich enttäuscht. Talent zu verschwenden, ist immer traurig. Sehr schade, dass Yvonne diesen Weg nicht weiterverfolgen konnte, aus heutiger Sicht jedoch total verständlich. Niemals hätte sie ihre Geschlechtsanpassung und die enormen Anforderungen einer Olympiateilnahme miteinander vereinbaren können. Das war einfach ihr Schicksal.
* Name geändert.