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Erste Lieben

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Dass ich ziemlich frühreif war, ist wohl Teil meiner Melzer-DNA – Transgender hin oder her. Für mich war bereits im Kindergarten klar: Mädels sind himmlisch. Zum Beispiel Marianne Schmitz. Was war ich in dieses niedliche Ding verknallt. Mit ihrem langen Goldhaar sah sie aus wie eine Puppe. Alle fanden sie toll und waren in sie »verliebt«. Wie man das in dem Alter eben so ist. Vollkommen harmlos, aber mit ganzem Herzen. Marianne und ich waren unzertrennlich. Sie wohnte auch nicht weit von uns entfernt, sodass wir viele Nachmittage miteinander verbringen konnten. Vater-Mutter-Kind war unser Lieblingsspiel. Wer da der Vater war, könnt ihr euch sicher denken. Andere Mädchen wollten nie der Vater sein. Die Mutterrolle hingegen war immer heiß begehrt. Ich war das einzige Mädchen, das mit Wonne den Vater, Bruder oder König spielte.

Und ich liebte es, verliebt zu sein. Es fühlte sich auch völlig natürlich an. Fragezeichen ploppten erst in der fortgeschrittenen Pubertät auf. Ob im Kindergarten oder in der Schule, sobald es ums Thema Liebe ging, gab ich mich als Junge aus. An mein Umfeld appellierte ich, das gefälligst mitzumachen, was es auch brav tat. Im Türkei-Urlaub zum Beispiel war ich für alle der Chris. Mit neun Jahren hatte ich ja auch noch keine Brüste, was mein Verwirrspiel sehr viel einfacher machte. Ich sah aus wie ein ziemlich süßer Junge, blonde Haare, braun gebrannt, coole Badehose, war lässig und witzig. Die Mädels klebten an mir wie die Bienen am Honigtopf. Ich genoss es und war zugleich der beste Kumpel der Jungs. Besser ging’s nicht.

Du kannst dich allerdings noch so sehr wie ein Junge fühlen, kleiden, benehmen – und auch die Menschen, die dich mögen, können dabei jahrelang mitspielen –, sobald ein Busen wächst, hast du ein Problem, oder besser gesagt zwei. Die sind wie sichtbare Signale, die deutlich machen: Das ist kein Typ! Mit steigendem Brustumfang wurde meine Seelennot größer, mein Versteckspiel schwieriger. Die Hormone ergriffen meinen Körper, womit jedoch nicht nur der Busen, sondern auch die Sehnsucht nach sexuellen Erfahrungen wuchs. In meiner Situation ein Bad im Haifischbecken.

Viele meiner Eroberungen begannen mit einer Lüge.

»Hi, ich bin Daniel … Chris … Lukas!«

Für mich aber war es die Wahrheit. Mit einem »Hi, ich bin Yvonne!« hätte ich mich selbst verraten.

Mein erstes echtes Abenteuer in Sachen Mädchen hatte ich mit 14:

André und ich daddeln während einer Trainingspause an unseren Handys.

»He, was ist denn los?«, frage ich, als ich ihn plötzlich auflachen höre.

»Wenn du Langeweile hast, dann schreib der mal«, sagt er grinsend und hält mir sein Display hin. Darauf viele Emojis und Herzchen. Von Melina*. »Die schreibt immer zurück!«

Wer wird dieses Mädel mit dem zauberhaften Namen sein? Prompt stelle ich mich ihr vor:

»Hi, ich bin Daniel. Verrätst du mir deinen Lieblingsladen? Ich suche nach neuen Klamotten …«

Lieber mal vorsichtig rantasten. Doch ich lande sofort einen Treffer. Im Nu sind Melina und ich in regem Gedankenaustausch. Was als Langeweile-Scherz begonnen hat, wird immer intensiver. Kurz darauf telefonieren wir zum ersten Mal. Sich zu schreiben und zu telefonieren, kann sehr intim sein. Manchmal lernst du einen Menschen auf diese Weise sogar viel besser kennen, weil die Optik keinerlei Rolle spielt. Es geht um die Stimme, ihren Klang und die Worte. Man lacht zusammen, wird vertrauter, teilt geheime Sehnsüchte oder Probleme. Das kann so innig werden, dass man sich schon ineinander verliebt, ohne den anderen gesehen zu haben. Melina und mir passiert genau das. Denn nicht mal meine Stimme klingt besonders weiblich.

Stundenlang hängen wir an unseren Handys, jeder auf seinem Bett liegend, und doch sind wir uns total nah. Ich mag den warmen Sound ihrer Stimme, ihr wunderschönes Lachen … Mein Eroberungstrieb erwacht, und ich gebe alles, um Melinas Herz zu berühren. Mittlerweile haben wir uns auch Fotos geschickt. Mit meiner Nick-Carter-Gedächtnis-Friese sehe ich aus wie der Backstreet-Boys-Sänger, auf den die Mädels gerade so abfahren. Aber Melina verliebt sich in Daniel und möchte ihn endlich treffen.

Vor unserem ersten Date bin ich extrem aufgeregt und fange schon Stunden vorher an, mich zu stylen. Zig Outfits probiere ich vor dem Spiegel aus – schließlich will ich besonders gut aussehen –, doch dann entscheide ich mich für mein Lieblingsshirt. Darin fühle ich mich wenigstens halbwegs sicher, denn mir ist speiübel. Wie wird sie reagieren? Erkennt sie sofort, dass ich ein Mädchen bin? Und dann? Könnte ja sein, dass sie stinksauer ist und mich stehen lässt. Aber habe ich denn eine Wahl? No! Als Yvonne wäre ich gar nicht an sie herangekommen. Ich muss dieses Risiko eingehen. Jetzt habe ich mir immerhin eine Chance herausgespielt …

Ich sehe sie schon von Weitem. Sie sieht so hübsch aus. Im Nu ist mein Herz entflammt, aber auch kurz vor dem Kollaps. Ein bisschen komme ich mir vor wie in so einem alten Western. Showdown. Aber von alledem ahnt Melina nichts. Mit jedem Schritt auf sie zu wächst die Aufregung – bis wir endlich voreinanderstehen. Plötzlich ist alles ganz leicht. Da ist überhaupt keine Überraschung in ihrem Gesicht. Kein Zögern oder Fragezeichen. Ich bin Daniel, und ihre Erwartungen sind nicht enttäuscht worden. Mir fallen tausend Steine vom Herzen. Egal wie es nun weitergeht. Es ist einfach nur schön, ihr endlich in die Augen sehen zu können.

Tatsächlich werden wir als Daniel und Melina »in echt« noch unzertrennlicher. Wir verstehen uns mega. Wie langjährige Freunde. Gleichzeitig ist da diese herrlich prickelnde Spannung zwischen uns, die ich in vollen Zügen genieße. Da liegen so viele aufregende Versprechungen in der Luft.

Eines Tages drückt sie mir mit ihrem bezauberndsten Lächeln ein Schmuckschächtelchen in die Hand.

»Für dich.«

Als ich es öffne, liegt da eine Silberkette mit unseren Namen – DANIEL & MELINA – und einem Herzchen. Gerührt und glücklich bitte ich sie, mir die Kette um den Hals zu legen …

»Bist du bescheuert?«, kläfft mein Vater, als er die Kette am nächsten Morgen an mir entdeckt. »Du verarschst das Mädchen ja total! Du wirst ihr gegenüber jetzt sofort erklären, dass du kein Junge bist! Sonst mache ich das!«

»Das mache ich nicht, auf gar keinen Fall!«, schreie ich meinen Vater an.

Ich könnte ihn killen. Was mischt der sich denn ein? Für mich ist das Ganze kein leichtfertiges Spiel. Es ist meine Art, mich in meiner Rolle als Mann zu testen. Mein Vater aber fackelt nicht lange und greift zum Telefon.

»Das wird jetzt ein für alle Mal klargestellt …«

Nein, das macht er jetzt nicht wirklich, denke ich, da höre ich schon, wie er mit Melinas Mutter spricht. Ich bin wie gelähmt. Dann ist Melina dran … Ihm den Hörer aus der Hand reißen? Einfach weglaufen? Bebend vor Zorn stehe ich da. Er steht mir gegenüber mit ausgestrecktem Arm, um mich abzuwehren. Was wäre besser gewesen? Irgendwann enttarnt zu werden? Es zu beichten? Hätte ich das jemals getan? Spielte jetzt auch keine Rolle mehr, denn die Entscheidung ist mir gerade abgenommen worden.

Melina ist schockiert und will es erst nicht glauben. Kein Wunder. Sie hatte ja keinen Schimmer, obwohl wir uns schon so nah waren. Als sie endlich begreift, was passiert ist, kommt, was kommen musste: Sie ist total sauer auf mich. Und mir ist es peinlich hoch zehn. Als würde ich tausend Tode gleichzeitig sterben. Ich bin traurig, wütend, geschockt. Mein eigener Vater hat mich verraten. Und Melina? Der Handy-Chat läuft heiß. Ich versuche zu erklären. Aber zunächst ist da nur Entrüstung – und dann Funkstille. Ichhabesieverlorenichhabesieverlorenichhabesieverloren. Mein Kopf fährt Karussell.

Woher sollte ich damals – mit 14! – auch wissen, dass am Ende immer die Liebe siegt, egal unter welchem Namen?

Ich hatte das unglaubliche Glück, dass Melina genauso verliebt in mich war wie ich in sie. Und wir waren ja inzwischen beste Freunde geworden. In den vergangenen Wochen hatten wir jede freie Minute miteinander verbracht. So verrauchte ihre Wut über diese große Enttäuschung allmählich, und die Sehnsucht hatte wieder genügend Raum, um sich breitzumachen.

Als ich wenig später meinen Geburtstag feierte, tauchte sie ebenfalls auf der Party auf. Anfangs noch sehr reserviert, fasste sie nach und nach wieder Vertrauen zu mir, sodass wir einige Tage darauf einfach da weitermachen konnten, wo wir vor dem Verrat durch meinen Vater aufgehört hatten – nur unter einem anderen Namen. Nun hieß es nicht mehr DANIEL & MELINA, sondern YVONNE & MELINA.

Und so war es denn auch Melina, der ich meinen allerersten richtigen Kuss zu verdanken habe …

Am frühen Nachmittag wollen ein paar Freunde zum Grillen vorbeikommen. So ein Grundstück am Waldrand mit Teich ist ja prädestiniert dafür. Melina ist schon früher da. Wir liegen nebeneinander auf meinem Bett und schauen so einen »Alibifilm« – Daylight mit Silvester Stallone –, um uns dabei unauffällig immer mehr aneinanderkuscheln zu können. Mein Herz rast. Als ich mich traue, sie anzuschauen, gucke ich direkt in ihre leuchtenden Augen. Jetzt ist der Moment! Das spüre ich genau, denn wenn ich eines richtig gut kann, dann ist es, Gelegenheiten zu erkennen und zu packen. Unsere Gesichter sind sich ganz nah, und Melinas wunderbarer Duft raubt mir fast den Verstand. Ich schließe die Augen. Vorsichtig, zärtlich, mit ein ganz bisschen Zunge (mehr ist gerade auch gar nicht nötig) berühren sich unsere Lippen. Jetzt bloß keine Hektik. Bloß nicht drängen oder was falsch machen. Wie habe ich mich danach gesehnt! Und nun liege ich hier und küsse mein Traummädchen.

Ich war beseelt. Aber wenn man 14 ist, geht es danach ja nicht einfach unbefangen weiter. Nach diesem Kuss waren wir beide erst mal etwas peinlich berührt und verunsichert. Und als bald darauf die Freunde eintrudelten, taten wir zunächst so, als wäre nichts gewesen. Aber da war dieser Rausch. Wie waren durchflutet von Liebe und Aufregung. Und beide hatten wir den Drang nach mehr. Endlich all die erträumten Dinge tun …

Bis zum Abend suchten wir immer wieder die körperliche Nähe des anderen. Als die Clique zu einer gemeinsamen Freundin weiterzog, landeten Melina und ich irgendwann in deren Zimmer. Allein. Und so folgte dem ersten Kuss noch am gleichen Tag die erste Fummelei. Kichernd quetschten wir uns auf einen Sitzsack, alberten herum – und nur einen kurzen Augenblick später fingen wir wieder an, uns zu küssen. Diesmal schon mit der Gewissheit, dass beide es wollten. Wir knutschten so heftig, dass auch ganz andere Regionen in Wallung gerieten. Mich verlangte nach mehr. Sie auch. Mit nervösen, unerfahrenen Händen fummelten wir gegenseitig über den unbekannten Körper. Die Hände verschwanden unter den Shirts und in den Hosen. Ich drang in ersehnte Gebiete vor. Voller Leidenschaft. Alles war so aufregend neu. Der absolute Wahnsinn.

Nach diesem unvergesslichen Tag waren Melina und ich eine Zeit lang ein Paar mit allem, was dazugehört, bis ich irgendwann Lust auf andere Girls bekam. Ich war auf den Geschmack gekommen … Doch wir sind bis heute befreundet – und demnächst wird sie heiraten. Einen Mann. Was sonst.

* Name geändert.

Endlich Ben

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