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Lesbisch oder was?

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Warum sich die Mädels in ein Mädchen verlieben, ohne lesbisch zu sein? Eigentlich ganz simpel: Sie verlieben sich in den Menschen, in seine Stimme, seinen Geruch, seinen Humor. Melina hatte sich in den Menschen Daniel verliebt. Und dann heißt derselbe Mensch eben auf einmal Yvonne oder Claudia oder Kathrin.

Das Etikett mag sich ändern. Der Mensch bleibt.

Letztlich geht es ja nur darum, welcher Mensch sich hinter dem Namen – Yvonne/Ben – verbirgt. Jenseits des Geschlechts.

Ich vermute allerdings, dass es problematischer geworden wäre, wäre ich ein Transgender-Junge gewesen, der sich als Mädchen ausgibt. Denn Jungs in dem Alter wollen auf gar keinen Fall von ihrer Peergroup ausgegrenzt werden. Als schwul zu gelten, ist unter Jungs nach wie vor nicht unbedingt cool. Das kann sogar richtig böse enden, je nachdem, in welchem Umfeld du dich bewegst. Mädchen hingegen sind offener, auch für Experimente. I Kissed a Girl von Katy Perry löste einen regelrechten Hype aus. Wenn zwei Mädchen sich in einer Partynacht küssen, hat das mit Ausprobieren, Grenzenüberschreiten und Spaßhaben zu tun, ist aber überhaupt kein Hinweis darauf, dass sie lesbisch sind. Auch für mich stellte sich die Frage nach meiner sexuellen Ausrichtung nie, weil ich mich ja immer als Junge beziehungsweise Mann gefühlt habe. Insofern war ich von Anfang an hetero. Ohne dass ich das als Kind oder Jugendliche hätte genau benennen können. Zeit meines Lebens fühlte ich mich zu heterosexuellen Mädchen und Frauen hingezogen – und diese sich zu mir!

Meine Trainerin Gertrud Schäfer, mit der mich ja ein enges Vertrauensverhältnis verband, war tatsächlich der einzige Mensch, der mich mal darauf angesprochen hat.

»Sag mal, Yvonne, bist du eigentlich lesbisch?«

»Nein, wie kommen Sie darauf?«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, weil ich davon voll und ganz überzeugt war.

Nach dieser Frage begann ich allerdings erstmals, mich bewusst mit meiner sexuellen Präferenz zu beschäftigen und ob das alles so richtig ist, wie es ist. Was ist denn eigentlich los mit mir? Wieder konnte ich mich nirgends zuordnen. Rosa oder hellblau? Puppen oder Autos? Lesbisch oder hetero? Wer und was war ich?

Erwachsene neigen dazu, alles zu hinterfragen und zu diskutieren. Als junger Mensch hingegen folgst du einfach deinen intensiven Gefühlen. Du magst irritiert sein, aber wenn dein Körper sich mit jemandem verbinden möchte, dann folgst du dem Gefühl. Nicht anders wird es den Hetero-Mädchen gegangen sein, die mit mir zusammen sein wollten. Meine Männlichkeit war so präsent, dass sie die Signale empfangen haben und ihnen gefolgt sind. »Mit dir ist das was anderes!« Offenbar brauchten sie selber eine Erklärung für ihr Verhalten, denn vermutlich werden diese Mädchen mitunter verunsichert gewesen sein. Ich dagegen fühlte mich von ihnen akzeptiert. Sie begehrten mich, den Menschen, unabhängig vom Geschlecht. Das tat mir gut in meiner ganzen inneren Aufgewühltheit und Zerrissenheit.

Die Mädchen, mit denen ich zusammen war, nahmen mich so, wie ich war, aber auf unbekanntem Terrain lauerten fiese Fallstricke und größtes Konfliktpotenzial. Zum Beispiel im Freibad. Der trainierte junge Mann zieht sein T-Shirt aus, und – BÄNG! – Brüste werden sichtbar. Jedes Mal fühlte ich mich bloßgestellt. Kurz zuvor der angeschmachtete Typ, im nächsten Moment die peinliche Offenbarung. Schrecklich. Solche Situationen zermürbten mich, bis ich einfach nicht mehr ins Freibad gegangen bin. Der Preis dafür war hoch, denn während alle meine Leute zusammen Spaß hatten – noch dazu in meinem Element, dem Wasser –, blieb ich von Zweifeln erfüllt allein zu Hause. Es ist eine Sache, mit einem Mädchen zu fummeln, aber eine ganz andere, mit Brüsten im Bikinioberteil durch die Menge zu spazieren. Solange ich enge Bustiers unter wallenden T-Shirts tragen konnte – natürlich immer schön die Schultern nach vorne, damit die elenden Brüste nicht zu sehen waren –, fühlte ich mich in der Öffentlichkeit halbwegs wohl. Körperlich richtig frei bewegte ich mich aber nur auf unserem Familienboot. Sobald wir weit genug vom Ufer entfernt waren, sonnte ich mich oben ohne. Dabei ging es mir nicht darum, möglichst streifenfrei braun zu werden. Ich wollte nur wenigstens ab und zu wie ein Mann in der Sonne liegen.

Kurzfristig dachte ich sogar darüber nach, meinen Busen »abzubinden«, ihn also bestmöglich wegzuquetschen, denn als mir wegen extremer Hautprobleme die Pille verschrieben wurde, nahm mein Brustumfang weiter zu. Ein Albtraum. Doch zum Glück habe ich den Abbinden-Gedanken wieder verworfen. Ich wollte nicht noch mehr als Freak wahrgenommen werden, schließlich hätten meine Sportkollegen das sofort mitbekommen. Das Abquetschen fühlte sich aber auch nicht richtig an. Ich stellte mir vor, wie peinlich es beim Sex wäre, wenn ich einen strammen Gurt um die Brust trüge. Das wäre genauso dämlich, wie sich Socken in die Unterbüx zu stopfen, um einen auf dicke Hose zu machen. No way. Eines ist ja nun mal klar: Spätestens wenn die Klamotten fallen, um Sex zu haben, lässt sich das Geschlecht nicht mehr verstecken.

Also setzte ich die Pille wieder ab, zog weiterhin die Brust ein und ging gebeugt wie eine alte Frau. Niemand sollte sehen, was sich da unter meinen Walleshirts verbarg. Dabei hatte ich wunderschöne, wohlgeformte Brüste. Ich aber empfand sie als bedrohlich und verabscheute sie. Diese beiden sichtbaren Zeichen von Weiblichkeit waren wie zwei schmerzhafte Dornen und kaum auszuhalten. Mit Mädchen rumzumachen und von jenen, die in mich verliebt waren, akzeptiert zu werden, ist das eine. Aber da gab es ja auch noch den Alltag. Da hatte ich keine Chance, als Junge durchzugehen, sondern blieb offiziell das Mädchen namens Yvonne. Auch im Konfirmandenunterricht. Zwei Jahre lang wurden meine Freunde und ich auf den »großen Tag« vorbereitet, doch während sich die anderen immer mehr auf den erhofften Geldsegen und ihr Fest freuten, wurde mir immer mulmiger zumute. Mir graute davor, in der Kirche als Yvonne aufgerufen zu werden und vor aller Augen durch das Mittelschiff nach vorne gehen zu müssen. Ganz abgesehen von der unausweichlichen Frage: Was sollte ich anziehen? In Rock und Bluse würde ich diesen Tag niemals überstehen. Und ein Hosenanzug für Mädchen war damals einfach nicht vorgesehen. Nein, für kein Geld der Welt würde ich mich herausputzen wie ein Funkenmariechen. Die Angst vor dieser demütigenden Situation schnürte mir den Hals zu. Und so blieb mir keine andere Wahl, als das Finale abzuschmettern. Zwei Monate vor dem angesetzten Termin begann ich damit, kritische Argumente in die Gespräche zu Hause einzustreuen.

»Hm, das ist doch eigentlich total blöd, dieses Kirchenzeugs. Scheinheiliger Mist. Ich glaube, das bin ich nicht.«

Bis mein Vater irgendwann meinte:

»Dann lass den Scheiß doch!«

Yepp. Das war mein Stichwort, um meinen Kopf unauffällig aus der Schlinge zu ziehen. Sofort griff ich die Anregung auf und brauchte mich auch nicht weiter zu rechtfertigen. Doch so erleichtert ich nun auch war: Gleichzeitig fühlte ich mich rotzelend. Diese große Sause ohne mich. Obwohl ich eigentlich so gesellig bin und am liebsten überall mitmische. Aber nicht als Yvonne!

Einige Monate später heiratete mein Cousin Sven. Ich freute mich riesig für ihn, denn wir mochten uns, und gegen ein trubeliges Familienfest hatte ich auch nichts einzuwenden – immerhin konnte ich inzwischen ja ohne Weiteres eine Hose mit Blazer anziehen, ohne dass mein Vater Theater machte. Die Kleidchenfrage war ein für alle Mal beantwortet. Aber die Verwandten setzten mir dennoch zu.

»Na, Yvonne, hast du schon einen Freund?« … »Nein??? Dann musst du dir vielleicht mal etwas Hübsches anziehen … nicht immer so ’n Jungenszeug.«

Solche Sätze machten mich fix und fertig. Ich fühlte mich total allein. Darum hielt ich mich, so gut es ging, von den Erwachsenen fern, kippte ein paar Gläser Sekt, gab die Spaß- und Babysittertante für die kleinen Gäste und meldete mich ab, sobald die Höflichkeit es zuließ. In meinem Hotelzimmer konnte ich hören, wie alle unten im Saal ausgelassen feierten. In Momenten wie diesen fühlte ich mich wie der einsamste Mensch auf Erden.

Endlich Ben

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