Читать книгу Semana Santa - Bernat Fabre - Страница 9
SIEBEN
ОглавлениеDie ersten Sonnenstrahlen krochen zögernd über die Sierra als ich die Augen aufschlug. Mein Kreuz schmerzte und erzählte mir, dass ich mehr als 44 Jahre alt war. Mein linkes Bein war nach wie vor im Tiefschlaf. Montse hatte sich in meinen Arm gekuschelt – leider eher aus Verzweiflung als aus Zuneigung. Ich versuchte meine Position nicht zu verändern, trotzdem wachte meine schöne Begleiterin mit mir zusammen auf. Irgendwann in der Nacht hatte eine mitleidige Seele uns den Aufenthaltsraum für das Pflegepersonal aufgeschlossen und ein paar Chips für die Kaffeemaschine spendiert. Kurz darauf war eine weniger besorgte Dame aufgetaucht, die die Kostenübernahme geregelt wissen wollte. Ich gab ihr meine Kreditkarte, mit der sie das Weite suchte, wie mein Kater, der soeben ein Stück Roastbeef ergaunert hatte. Die Turmuhr aus der nicht weit entfernten Kirche am Dalí-Museum hatte längst Mitternacht geschlagen, aber wir hatten immer noch nicht in Erfahrung bringen können, wie es Dani ging. Er hätte längst tot sein können. Irgendwann hatte die Natur dann ihr Recht gefordert und waren in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Als hätte es nur eines Zeichens von uns bedurft, öffnete sich die Tür und ich erkannte in der durchnächtigten Gestalt den Arzt, der Dani vor Stunden in der Notaufnahme versorgt hatte. Seine Augen waren gerötet, das Gesicht von grauen Bartstoppeln überzogen. Auch er schien das Gegenteil einer ruhigen Nacht gehabt zu haben.
„Sind Sie die Eltern?“
Typische Frage: Mann + Frau + Kind = Familie. Noch bevor ich über den Reiz einer solchen Konstellation philosophieren konnte, bemühte sich Montse die Familienverhältnisse klar zu stellen. Offenbar lief ihr Motor schneller an als meiner.
„Dani ist mein Neffe und das hier ist ein guter Freund von uns.“
Na, ja, immerhin hatte ich es schon bis zum Status des „guten Freunds“ geschafft.
„Hm, und wo ist seine Mutter und sein Vater?“
Montse ignorierte die Nachfrage.
„Sagen Sie uns, wie geht es Dani?“
Wenn ich erwartet hätte, dass sich der Arzt auf seine Schweigepflicht berufen und hier eine große Show abbrennen würde, wurde ich eines Besseren belehrt. Offenbar hatte ich es mit einem Vertreter seiner Art zu tun, der nur am Wohl seiner Patienten interessiert war. Jedenfalls setzte er ein müdes Lächeln auf und antwortete:
„Fangen wir mit den guten Nachrichten an, Señora: der Junge wird durchkommen. Wir werden ihn noch ein, zwei Tage zur Beobachtung hier behalten müssen, aber dann wird er wieder toben können, wie bisher.“
Montse fing wieder an zu weinen, diesmal aber aus Erleichterung. Ich würde gerne einwerfen, warum Frauen wohl alle so nah am Wasser gebaut haben, aber ich muss bekennen, dass auch meine Augenwinkel mehr als nur feucht waren. Tatsache ist, dass ich nun schon das zweite Mal innerhalb von zwölf Stunden wie ein Schlosshund flennte. Immerhin konnte ich wenigstens die nächste Frage folgerichtig formulieren:
„Und was sind die schlechten Nachrichten, Doktor …?“
„Dr. Sanchez, aber sagen Sie einfach Doc zu mir, das tun alle hier.“
„Mein Name ist Jan und meine Freundin heißt Montse.“
Wir tauschten ein müdes, aber freundliches Lächeln aus. Für eine förmliche Vorstellungsrunde taugte die Situation nun wirklich nicht. Ich für meinen Teil mochte den Mann, vor allem weil er einem kleinen Jungen, von dessen Existenz ich vor ein paar Stunden noch nichts gewusst hatte, wohl gerade das junge Leben gerettet hatte.
„Nun, ich weiß nicht, ob ihr beide, das wirklich hören wollt, aber während der Nacht war der Junge zweimal klinisch tot.“
Erschrocken schlug Montse die Hand vor den Mund und ich spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte. Ungerührt fuhr Sanchez fort:
„Das erste Mal konnten wir ihn mit dem Defibrillator reanimieren, beim zweiten Mal habe ich ihm Atropin direkt in den Herzmuskel spritzen müssen. Also, Herrschaften, so etwas habe ich hier bislang noch nicht erlebt. Was ist hier eigentlich passiert?“
Das schien die einhunderttausend Euro-Frage zu sein, so oft wie sie in den letzten Stunden gestellt worden war. Leider waren wir der Lösung des Problems bislang keinen Millimeter näher gekommen, Also wiederholte Montse die Geschichte die sie auch mir erzählt hatte. Nichts davon war geeignet, auch nur im Entferntesten einen Hinweis darauf zu geben, was passiert war. Ein Junge geht nicht zum Spielen vor die Tür, fällt danach ins Koma und vergisst zu atmen.
„Das macht für mich alles keinen Sinn“, meinte Doc kopfschüttelnd.
„Habe ich Sie richtig verstanden: trotzdem haben Sie einen solchen Fall schon einmal gesehen?“
„Ja und nein, Die Symptome sind sehr ähnlich: erst Fieber, dann Herzflimmern, dann Atemstillstand.“
„Aber?“
„Aber das letzte Mal, dass ich das erlebt habe war während meiner Ausbildung in Costa Rica. Und es war kein kleiner Junge, sondern ein ausgewachsener Waldarbeiter, der von einer schwarzen Mamba gebissen worden war.“
„Mambas sind hier eigentlich eher selten.“
„Das weiß ich auch“, gab Doc bissig zurück, „deswegen scheidet das als Ursache wohl aus. Außerdem habe ich keine Bisswunden gefunden.“
„Sonst eine Idee?“
Der Arzt zuckte die Schultern. „Wenn ich eine Wette abgeben müsste dann würde ich am Ehesten auf eine schwere Vergiftung tippen. Dafür spricht auch, dass der Junge sich jetzt rasch erholt. Was immer den Schock ausgelöst hat, es wurde im Körper offenbar schnell metabolisiert und abgebaut.“
Irgendwie schien damit alles gesagt. Dani würde wieder gesund werden. Die Ursache blieb im Dunkel. Doc gab mir meine Kreditkarte wieder – das hatte ich schon völlig vergessen. Er erlaubte uns, einen kurzen Blick auf den Jungen zu werfen, der in der Intensivstation an zahlreichen Kabeln hing, die seine Lebenswerte auf verschiedenen Monitoren wiedergaben. Zur Sicherheit wurde er weiter künstlich beatmet, auch wenn – wie Doc meinte - dies eigentlich nicht erforderlich sei. Wer einmal sein Kind an einem Beatmungsgerät gesehen hat, weiß wie jämmerlich und deprimierend dies ist. Bevor wir wieder in Tränen ausbrechen konnten, schickte Dr. Sanchez uns nach Hause und verschrieb uns 24 Stunden Ruhe. Falls es zu Komplikationen kommen würde, gab ich ihm meine Handynummer. Damit schmiss er uns faktisch heraus. Ich war schon aus der Tür, als er kurz meinen Arm nahm.
„Wenn Dani nicht sofort Sauerstoff bekommen hätte, wäre der Junge gestorben, bevor er auf der Station gewesen wäre. Das war gute Arbeit, Jan.“
Ich nickte nur und stieg in den Hummer. Auch diese Fahrt verlief schweigend. Meine Lebensspanne war beinahe abgelaufen, aber auf den letzten Metern war es mir wohl noch gelungen, ein junges Leben zu retten. Wer weiß: vielleicht gibt es doch bei allem einen großen Plan.