Читать книгу Heinrich von Kleist - Bernd Oei - Страница 10
III. Dramen III. 1. Die Familie Schroffenstein
ОглавлениеIII. 1. 1. Entstehung und Dramaturgie
„Aber welchen Mißgriff hat die Natur begangen, als sie ein Wesen bildete, das weder Mann noch Weib ist, und gleichsam wie eine Amphibie zwischen zwei Gattungen schwankt.“51
Kleider-und Rollentausch haben eine zentrale Funktion im Werk von Kleists52, denn sie versinnbildlichen sowohl den schwebenden Zustand zwischen Natur-und Rechtsstaat als auch die Identitätsproblematik, zudem Androgynität (Hermaphroditen - Mythos) des Menschen samt seiner Gebrechlichkeit.
Seine erste Tragödie, ein Trauerspiel, hauptsächlich in Paris und im Schweizer Thun in der Wohnung seines Literaturfreundes Heinrich Zschokke, verfasst, vollendet Kleist Anfang 1803. Zu diesem Zeitpunkt will von Kleist, dem Großes nie groß und Gewaltiges nie gewaltig genug ist, Shakespeare übertreffen. Sein an „Romeo und Julia“ angelehntes Trauerspiel erscheint anonym und erlebt bleibt nach seiner Premiere am 9. Januar 1804 im Grazer Nationaltheater ohne weitere Aufführungen hinterlassen. Besonders das Ende verstört, da die Versöhnung der Familien im Eiltempo erfolgt und weder Trauer noch Raum für andere Gefühle lässt. Auf die Gewaltorgie (der natürlichen Ordo Kleists) erfolgt die Peripetie, die im Drama gewöhnlich früher erfolgt. Teilweise wird dies erklärt durch von Kleists abrupte Abreise aus der Schweiz, denn von der Veröffentlichung bzw. der einmaligen Aufführung in Graz erfährt er nichts. Im Herzen trägt er ein anders Stück: „Robert Guiskard“, das Fragment bleibt.
Zwei nur geringfügig abweichende Fassungen entstehen; eine Variante spielt im mittelalterlichen Schwaben, die zweite in Spanien. Einige Namen der Protagonisten wie der Witwe Ursula sind gleich, die anderen nicht. Schroffenstein könnte auf Schraffenstein verweisen, einem Jugendfreund Schillers, da von Kleist sich in seiner Tradition sieht und Misstrauen, Rechtsgefühl bzw. Loyalitätsbruch die beiden entfremdet. Auch dass von Kleist an die Burgruine Schrofenstein in Obertrirol denkt, ist denkbar, zumal sie mit einer Familienfehde in Verbindung steht.
Nur auf den ersten Blick erscheint das einzige Kleist´sche Regeldrama53 , denn wie alle anderen ist es in fünf Akte untergliedert mit einem klassischen Wendepunkt im dritten und Kulmination im fünften Akt.
Wie der Titel andeutet, ist es ein Familiendrama und der Konflikt besteht zum einen in der hermetischen Abriegelung der beiden verfeindeten Dynastien Rossitz und Wyk (Haus Warwand). Sprachlich deuten Sitz und Wand bereits Züge der Klaustrophobie und Horizontverengung der Mitglieder an. Die beiden Familien verkörpern Staaten im Kriegszustand vor dem historischen Hintergrund der Napoleon-Kriege. Individualität ist ihnen nur sehr bedingt beigegeben; sie erinnern an Marionetten.
Der erste Akt besteht aus zwei relativ langen Szenen im Quartier der Pro-und Antagonisten: die Eingangsszene spielt in der Familienkapelle des Familienzweigs Rossitz. Das erste Wort, ein vom Mädchenchor gesungenes, „Niedersteigen“ deutet bereits den Niedergang der Familie an. Die Szene endet mit einem für Kleist charakteristischen Ohnmachtsanfall. Nach Bestattung der verstümmelten Leiche des jüngsten Familiensprosses Peter schwört dem Rossitz-Clan den mutmaßlichen Mördern der verfeindeten Wyk Rache. Die zweite Szene findet auf deren Familiensitz statt, wo das Familienoberhaupt ein reines Gewissen hat; in Ohnmacht fällt auch dort jemand, der erstgeborener Sohn – weshalb, bleibt ungeklärt.
Der zweite Akt besteht aus drei Szenen. Die erste findet in einer Höhle statt, in der sich die sich Kinder der verfeindeten Familien einander annähern. Die folgende Sequenz trägt sich im Haus Warwand zu; der Dialog der Eltern verdeutlicht die aussichtslose Lage der Feindschaft bis auf Blut und das Kima gegenseitigen Misstrauens. Die dritte Szene spielt vor den Toren der Wyks. Durch ein Missverständnis wird der zweite Sohn der Rossitz niedergeschlagen und die Schuld der Wyks vermehrt, denen man die Ermordung des zweiten Sohnes andichtet.
Der dritte Akt hat wie der erste nur zwei Szenen. Die erste Begegnung findet wieder zwischen den sich liebenden Kindern in der Höhle statt, die beiden wollen ihre Familien versöhnen. Die zweite Szene trägt sich im Haus Rossitz zu, wo der Vater vom angeblichen Tod seines zweiten Sohnes aus der Hand eines Wyks erfährt und aufbricht, um Rache zu nehmen.
Der vierte Akt ist mit fünf Szenen der umfangreichste. Er beginnt im Haus Rossitz, mit dem Dialog der Eltern. Die Folge-szene spielt wieder im Haus Warwand, wo man sich gleichfalls zur Schlacht rüstet. Die dritte Szene handelt im Bauernhaus, wo die abergläubische Magd und ihre Mutter einen Zaubertrank rühren, der die Verstümmelung des Rossitz-Sprösslings nach einem Badeunfall erklärt, die der letzte noch verbleibende der drei Söhne enttarnt. Er weiß nun, dass sein Bruder nicht ermordet, sondern seine Leiche geschändet wurde. Die vierte Szene spielt erstmals im Freien, allerdings in bedrückenden Gebirge, die fünfte im Turmkerker der Rossitz-Familie, wo der Vater den letzten ihm verbliebenen Sohn gefangen hält, doch er befreit sich mit einem Sprung. Der fünfte Akt besteht nur aus einer einzigen Szene, die sich im Höhleninneren zuträgt. Nach erfolgtem Kleidertausch der Liebenden und laufen den jeweiligen Vätern zu. Sie werden von diesen nicht erkannt und getötet; erst an ihren Leichen findet die Versöhnung statt. Von Kleist setzt die Gebärde des Verhüllens des eigenen Gesichts in Situationen extremer Affekte ein.
III. 1. 2. Inhalt
Hintergrund der Fehde liefert ein Vertrag, der beim Aussterben eines Familienzweigs dem anderen sämtliche Erbrechte überschreibt. Beide Clans misstrauen sich seitdem und mutmaßen Attentate. Rupert, der Patriarch der Familie Rossitz, schwört seine Söhne und Gefolgschaft ein, den Tod des Sohnes Peter zu rächen, für den er seinen verfeindeten Verwandten, die Sippe der Wyks, verantwortlich macht. Die ihm verbliebenen Söhne, Ottokar und sein illegitimer Halbbruder Johann, lieben im Geheimen die Tochter des Wyk-Clans Agnes. Ottokars Liebe wird auch erwidert, was Johann verbittert; als er Agnes bedrängt, wird er von ihrem Bruder Jeronimus verwundet, womit die Aussöhnung beider Familien endgültig vereitelt wird. Zu spät erfährt der Vater von ihm, dass Agnes ihn gesund gepflegt hat.
Ottokar findet heraus, dass sein jüngerer Bruder eines natürlichen Todes durch Ertrinken starb, seine Leiche allerdings verstümmelt wurde, so dass der Verdacht auf Mord genährt wurde. Die Parallelhandlung wird erst zur Gänze im Schlussakt erklärt: Die Totengräberwitwe Ursula hat den beim Spielen ertrunkenen toten Sohn einem Finger als Totem für einen Zaubertrank abgeschnitten. Seine Familie aber glaubt, was sie glauben will. Während die Familien zur Schlacht rüsten, entkommt Ottokar durch gewagten Sprung aus dem Verlies seiner Burg, in das er von seinem Vater zu seinem eigenen Schutz gesperrt wurde. Um die Familien zu versöhnen, tauscht er mit Agnes die Kleider, sie wollen als Geißeln ihnen gegenübertreten, doch beide werden von ihren Vätern ermordet, die erst nach ihrem Tod ihren Irrtum erkennen. Die geborgte Identität kostet ihnen das Leben.
Das Tragisch-Komische besteht äußerlich in dem Versuch sich durch Tarnung, Identitäts-und Rollentausch, einen Vorteil zu verschaffen, der mit dem Tod endet. Tiefer liegt der Gedanke, den die indirekt Verantwortliche ausspricht, die als Hexe bezeichnete Ursula: „s ist abgetan, mein Püppchen. / Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.“54
III. 1. 3. Interpretation
Versehen oder Misstrauen
Der Tod ein Versehen? Missgunst und Aberglauben haben das Unheil in Gang gesetzt, das die Frau aus dem Volk für unabwendbar hält. Sie ist damit eine Schicksalsleiterin. Das Stück endet mit dem Satz aus dem Munde des Johannes zu Füßen der Leichen. „Das ist ein Spaß zum Totlachen.“ Ein Versehen, das der Zufall, im Grunde mehrere, die mit der Verwechslung enden, begünstigt, doch der Ananke, dem Zwang geschuldet ist.
Das erste augenscheinliche Motiv ist sicherlich Rache aus verletztem Rechtsgefühl heraus. Alle Handlungsimpulse gehen von der Gestalt des Rächers Rupert aus, der wie die Kleist'schen Gestalten Michael Kohlhaas und Cheruskerfürst Hermann eine durch ein ungeheuerliches Verbrechen gestörte natürliche, ursprüngliche Ordnung wieder herstellen will, indem er mit gleicher Radikalität den Verursacher des Unrechts vernichtet. Zerstört werden aufgrund der Vergangenheit aber Gegenwart – die unschuldige Liebe der Kinder und das Leben die Zukunft – das Leben der Erben.
Die Zwietracht besteht nicht nur zwischen den Familien, sondern auch innerhalb, denn Johannes ist bereit, sich mit seinem Bruder Ottokar zu duellieren, als er sieht, dass ihm die Gunst von Agnes zufällt. Die Kinder vereinen sich in einer gegenläufigen Handlung: Dem Paar gelingt in der Höhle als Ort der Idylle und der Utopie Glück und Versöhnung; dagegen bleibt die menschliche Behausung der Ort des Irrtums und Unrechts. In dem (erotischen) Schutzraum einer Höhle bringt irrtümlich jeder der Väter sein eigenes Kind um, womit Kleist das platonische Gleichnis umkehrt. Nicht selten sühnen die Jungen mit ihrem Blut für die Sünden der Alten. Erobern, Besitzen und Verfügen (Kinder als Lehen) bilden die Trinität des Dramas.55
Kleider als auch Höhle deuten die Verletzlichkeit an, aber auch dunkles Verirren und Tasten nach Wahrheit und Erkenntnis. Gerungen wird um das Gefühl des Vertrauens und Vertrautseins. Agnes´ Frage „Soll ich dir traun´, wenn du nicht mir?“ findet die Antwort Ottokars: „Tu es. Auf die Gefahr.56 Zweifel und Verdacht (suspense) ist ein klassisches Motiv bei Shakespeare, das Tragödien in Gang setzt. Kleist operiert bevorzugt mit der Dramaturgie des Misstrauens.57
Die konvergierenden Metaphern für das mühsame und vorsichtige Abtasten mit vorgezeichneter Enttäuschung liefern „offenes Buch“ und „verschlossener Brief“ im dritten Akt: „Deine Seele / Lag offen vor mir, wie ein schönes Buch“ sagt Ottokar, zu Agnes und wenig später. „Nun bist / Du ein verschloßner Brief“. Ihr Schweigen erscheint weniger verräterisch als das oft gebrochene, undeutliche oder missverstandene Wort bei Kleist. In ihrem gemeinsamen Schweigen finden die Kinder zueinander, was die Ambivalenz des Vertrauens, Wagnis und Rettung zugleich zu sein, verstärkt. Zwischen Gott und Teufel ist nichts, bestenfalls das Wort und das lügt, absichtlich oder aus Versehen, beständig, nicht nur in „Die Familie Schroffenstein.“
Anti-Aufklärung contra Lessing
Ein Ansatz, das Stück zu verstehen, liefert das Gleichnis von Kleist, das er Rupert in den Mund legt: „Die Stämme sind zu nah gepflanzet, sie / Zerschlagen sich die Äste.“58 Für die Hermeneutik sind drei Alternativen geboten. Zunächst die Erschließung durch eigene Textstellen. Für Kleist steht fest, „Traum kann nicht Sehnsucht nach Glück sein, da dieses doch das bewusste Streben aller ist.“ Auf Soldaten blickt der den Militärdienst verlassende von Kleist herablassend als Sklaven zurück, „ein lebendiges Monument der Tyrannei.“ Zweierlei impliziert das Bild vom Baum und den Ästen: die Selbstzerstörung durch (zu viel) Nähe und den Widerstreit von Wille und Kraft, denn aus einem zu viel an Leben heraus entwickelt sich der Tod. Möglicherweise ist aber die Vernichtung des Einzelnen notwendig zum Erhalt des Ganzen.
In diesem Brief, der einer Rechtfertigung für seine Demission aus der Armee gleicht, spricht Kleist davon, dass er zwei unvereinbare Pflichten in sich verspüre; die des Strafens und des Verzeihens. In einem anderen an seine Schwester Ulrike 1801 erwähnt von Kleist, dass ein Mensch für das Amt nicht mehr passt gleich einer erkalteten Kugel, wenn er sich für ein „höheres Feuer erwärmt.“ Das höhere Feuer ist für ihn die Kunst, das Amt die Armee. Natürlich hat der Autor bei seinem Bild eines Familienstammbaums die Zweige im Auge, die eine Krone in zwei Hälften teilen und ebenso die eigene Gespaltenheit in sich. So ließe sich sein Trauerspiel über die Schroffensteins rezipieren als Erdrücktsein von den militärisch ranghohen Ahnen.
Die zweite Möglichkeit besteht in der Textreferenz, die bei Kleist nicht selten ist. Das Zitat, wenngleich es häufig Kleist zugeschrieben wird, stammt aus der Feder Lessings und paraphrasiert damit die Aufklärung. Das Original: „Der große Mann braucht überall viel Boden, und mehrere zu nah gepflanzt, zerschlagen sich nur die Äste.“59 Der Dichter, der auch gesagt hat, kein Mann muss müssen, verkörpert den Optimismus der Rationalität und des mündigen Subjekts wie kaum ein anderer Denker und steht Kant sehr nahe.
Heinrich von Kleist hat sich bereits von diesem Optimismus entfernt, er weiß 1803, als die Schweiz Teil Frankreichs wird (die Helvetische Republik wird Vasallenstaat Napoleons), die Freiheit ist ein Mythos. Die aufgeklärteste Nation seiner Epoche verrät die Ideale der Revolution. Der Frieden von Lunéville im Jahr davor ist ein Siegerfrieden, ein Diktat, das die linksrheinischen Gebiete deutsche Städte Napoleon zuschlagen. Von Kleist hat guten Grund, der Aufklärung zu misstrauen und sie als getarnten Leviathan zu deuten. In diesem Sinn kann es nur einen Sieger geben, zu viele Könige oder Tyrannen schlagen sich selbst die Häupter ab. Bei Lessing obsiegt die Aufklärung, die Vernunft über das bloße wirre Gefühl, den Impuls, alles endet durch Nathan in Wohlgefallen. Daher liest sich Kleists Drama wie ein Gegenentwurf, der durch die Kantkrise ausgelöst, mehr als nur spekulativ erscheint.
Kleist beugt sich nicht den Konventionen des bürgerlichen Trauerspiels, das maßgeblich von Lessing bestimmt ist. Aufrichtige, wahrhaftige Gespräche finden nur in der Höhle, fern der Zivilisation statt. Das Werk kristallisiert eine Parodie des Trauerspiels, wozu der geschlechtliche Rollen-und Kleidertausch beiträgt. Jeder Verdacht, jeder Mord, erweist sich als ein Versehen. Johann beklagt die ermordeten Jünglinge und in einer Art Kindersprache fügt er hinzu: „Seid nicht böse. Papa hat es nicht gern getan, Papa Wird es nicht mehr tun. Seid nicht böse.“60
Dass ein debiler und illegitimer Sohn das Schlachten überlebt, weil er erst dazukommt, als alle Messen bereits gesungen sind erscheint sinnfällig für die Dekadenz der Epoche, in der unschwer trotz des zeitlichen Abstands die aktuelle sichtbar wird.
Die dritte Form der Textexegese ist der Blick von außen. Dies führt zu einem Vergleich mit Shakespeare hinsichtlich seiner Figuren: der Narr, der Bastard (Johann als illegitimer Sohn Ruperts) und die Hexe (Ursula, Barnabe), Handlungselemente (Kindsmord), Handlungsdarstellung (Verstümmelung) und Motive wie Bruderzwist, Fehde, Liebesverbot und Familienfluch.61 Die Welt ist Teufelswerk oder banale Schmierenkomödie, das zumindest besagt der Ausgang „Zum Totlachen“, die aus der Tragödie bereits die Groteske erahnen lassen, die von Kleist dem Publikum serviert: der Ausdruck aus dem Gastronomiebereich ist intendiert, denn Totlachen wird eingeschlossen von Wein: „Wein! Das ist ein Spaß zum Totlachen! Wein!“62 Die Reihung von Exklamationen ist Kleist´sche Normalität. Angedeutet wird Lebensekel ohnehin, u. a. durch Ottokar vor seinem gewagten Sprung aus dem Turm. Angesprochen, ob er sich das Genick brechen will, erwidert er: „Das Leben ist viel wert, wenn man es verachtet. Ich brauchs.“ Ein Adressat für seine Rede fehlt wie der Ausweg. Alles was bleibt, ist der buchstäbliche Sprung.
Politische Gewalt und Familienidentität bzw. Konflikt bilden ein durchgängiges Leitmotiv, was auf Kleist Rezeption von Schillers „Wallenstein“ (seine sakrale Aura und Charisma) rückführbar ist. 63 Rache („Kein anderes Gefühl will ich kennen“) wirkt als omnipotenter Trieb; die Unmöglichkeit der Liebe in einer von Gewalt beherrschten Welt die logische Folge. Kleist nimmt damit eine Antiposition zur Weimarer Klassik ein, aber auch gegen Rousseaus Romantik. Das Motiv des Krieges kann angesichts des historischen Rahmens nicht überraschen, in der Schweiz drohte ein Bürgerkrieg zwischen Sympathisanten und Gegnern Napoleons. Zudem bietet die Kant-Krise den Hintergrund zu dem Drama, zumal Kleist Paris als Sündenpfuhl kennenlernt und schwer von der Aufklärung enttäuscht ist. „Die Wiederherstellung der Natur in einem zweiten Paradies ist nur möglich in der äußersten, äußerst gefährdeten Künstlichkeit des Fiktionspiels.“64 Wahrheitsanspruch führt zur Identitätskrise und diese zu bewusster Lüge (Intrige) oder Scheinwissen, beides führt in die unausweichliche Katastrophe.
Triadische Geschichtsphilosophie
Die Geschichte als organisch-leibliche Einheit zu begreifen, ist eine romantische Idee, die dem Ontischen Sein-Werden-Seiendes entspricht. Nach und nach dem dreistufigen Modell gleicht das erste menschliche Zeitalter von einem paradiesischen Zustand des mit sich und der Welt in Harmonie lebenden Menschen in der Höhle; bei Rousseau ist dies das Naturgesetz. Ihr folgt eine zweite (mit der Gegenwart des 18. Jahrhunderts gleichgestellte) Phase der Entfremdung des Individuums, als ob man sich in dunkle Wälder verirrt habe. Die dritte Stufe soll eine reflektierte Wiederbelebung des naiv erlebten Zustands gewährleisten,
eine Harmonie der utopischen Einheit, wie sie Novalis in „Heinrich von Ofterdingen“ versinnbildlicht, dessen Mystik Gefühl und Ratio vereint. Die Hinwendung zum Ritterlichen ist für Kleistsignifikant, jedoch ohne guten Ausgang aus den „bunten Träumen.“ Ottokar redet von einem Zustand, in dem „ein Aug’ das andere“ gleich versteht; doch seine Liebe zu Agnes verschärft nur die Familienfehde.
Die zwei kollidierenden Rechtssysteme sind der Erbvertrag und das Faustrecht der Natur, die Lösung bleibt Kleist schuldig. Das herbeigesehnte Rechtsgefühl, bei Kant im Gewissen verankert, kommt nicht zum Tragen. Alle Figuren, selbst Ottokar, scheitern an Voreingenommenheit. Der Begriff Rechtsgefühl in Variation zu innerstes Gefühl taucht mehrere Male auf, bleibt aber kraftlos, da die Figuren es nicht verinnerlicht haben. Eustaches Ausspruch „Denn über alles siegt das Rechtgefühl“ erweist sich als infantiler frommer Wunsch ohne Substanz. Auch Reue bleibt ohne Kontinuität und dient nur egoistischen Motiven.