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I. 2. Das Duell mit sich selbst
ОглавлениеI. 2. 1. Eine Gegenüberstellung mit Puschkin
Nach gregorianischen Kalender (in Russland erst mit der Oktoberrevolution 1918 eingeführt), wird der zweifellos bedeutendste Dichter Russlands am 6. Juni 1799 geboren; er ist etwa 22 Jahre jünger als Heinrich von Kleist. Von dunklen Ahnungen, der bizarren Synthese aus Aufklärung und und Aberglaube erfüllt, bewegt sich sein Werk gleichfalls zwischen Romantik und Realismus. Der Heißsporn, der auch von Kleist bisweilen sein kann, duelliert sich als Offizier infolge einer Intrige mit dem französischen Gardeoffizier Georges-Charles de Heeckeren d’Anthès am 8. Februar 1837. Er wird dabei durch einen Bauchschuss schwer verletzt, an deren Folge er zwei Tage später im Alter von 36 Jahren in Moskau verstirbt, womit er nur wenig älter wird als Heinrich von Kleist.
Die beiden Männer geraten trotz ihrer Reputation aufgrund ihrer liberalen Gesinnung häufig unter Generalverdacht, sehen sich zensiert, verfolgt, ins Exil verbannt. Heinrich von Kleist erschießt sich am Kleinen Wannsee am 21. November 1811. Im selben Jahr tritt Puschkin in die Armee ein.
Gemeinsamkeiten finden sich viele: neben der aristokratischen Herkunft eines alteingesessenen, doch verarmten Adels, dienen sie als Offiziere einem autokratischen System, das sie im Grunde verachten. Ihre liberale Gesinnung zwingt sie ins Exil. Ein kaum zu überbietende Reisefieber, Rastlosigkeit, Nomadenexistenz sind die Folge inklusive der (romantisierten)Todessehnsucht. Ambivalenz prägt ihren Geist. Sie bewundern die französische Kultur, sprechen fließend Französisch, doch aus den Napoleonischen Kriegen erwächst während der Befreiungskriege Feindschaft und Patriotismus. Literarisch brechen sie mit der Tradition und sind schwer zuzuordnen; zudem engagieren sich beide für die Herausgabe eigener kritischer Zeitungen, die ökonomische Misserfolge werden.
In ihren Dramen, Erzählungen und in der Lyrik ist das Thema der Gewalt leitmotivisch, nicht zuletzt wird auch das Duell mehrfach beschworen. Das Übersinnliche und Monströse ist beiden vertraut; Puschkins „Der eherne Reiter“ (in dem sich das steinerne Monument des ersten Zaren verselbständigt) und die rächende Steinstatue in „Don Juan“ dokumentieren dies.
Sowohl Kleist als auch Puschkin sind unversöhnliche Opportunisten der Autokratie, von der Zensur Verfolgte und zeitweise aus ihrer Heimat Verbannte. Es verbindet sie die Kombination aus Freiheit und Mutwille, die man auch als Hasardeur bezeichnen könnte. Mit Puschkin erfährt Russland eine Hinwendung zum Nationalstolz trotz seiner Rückständigkeit. Bezeichnend dafür ist Puschkins Paradox: „Natürlich verachte ich unser Vaterland vom Kopf bis zu den Zehen, aber es ist mir auf das Äußerste zuwider, wenn ein Ausländer dieses Gefühl mit mir teilt."
Vergleicht man Puschkins Erzählung „Der Schuss“ (1830) mit von Kleists Erzählung „Der Zweikampf“ (1811), so lehnen sich beide an historische Ereignisse an, die sie sehr frei interpretieren. Im Fall von Kleist handelt es sich um den Hundertjährigen Krieg, in dem Gottesurteile üblich waren, bei Puschkin spielt die Schlacht von Sculenji im heutigen Moldawien während des osmanisch-griechischen Krieges eine Rolle. Eine Interpretation der Novelle Kleists7verweist mit seiner Metapher der „Tarnkappe“ der politischen Opposition auf die Zensur, die Autoren zu historischen Chiffren nötigt. Selbiges gilt auch für Puschkins Novelle „Der Schuss“. In beiden Geschichten geht es um ein Duell und die Auseinandersetzung mit sich selbst durch einen äußeren Rivalen. Im Zentrum steht die Triade Ehre, Recht und Rache; die Finalisierung läuft apodiktisch auf den Tod hinaus, da er ihr innerer Zweck ist.
Das Geheimnis wird durch Selbstoffenbarung gelüftet, dennoch bleiben viele Rätsel offen, die Unglaubwürdiges beinhalten. Das Leben ist nur Spiel, das Fragen der Theodizee aufwirft.