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III. 2. Penthesilea
ОглавлениеIII. 2. 1. Entstehung und Dramaturgie
„Zwischen Verzweiflung und Verantwortung“ lautet der Titel eines Essays des Herausgebers Blamberger der Kleist-Jahresbücher. Damit ist die Periode der Entstehung gut umschrieben. Das Material für Penthesilea, Königin der Amazonen, ist einer griechischen Quelle entnommen und stellt ein Bild wilder Leidenschaft dar. Das Trauerspiel umfasst 24 Szenen, keine strenge Gliederung in Akte und entsteht zwischen 1807 / 1808, die Goethe für die Aufführung in Weimar in fünf Akte umschreibt. Es erlebt daher seine szenische Uraufführung posthum Mai 1876 im Königlichen Schauspielhaus in Berlin am Gendarmenmarkt.
Goethe lehnt das Stück als unvereinbar mit dem klassischen Grundgedanken ab, wobei er unterschlägt, dass bis zu Horaz grausame Schilderungen durchaus zum Bestandteil der griechischen Antike gehörten und nicht als unzeigbar galten, namentlich Euripides´ Version der Medea. Von Kleist erzeugt im Drama das Sinnbild des Schicksalhaften im Leben, wodurch die immanente, für das Gefühl spürbare Zwangsläufigkeit des Geschehens deutlich hervortritt. Das Drama wird aufgeführt und sofort wieder abgesetzt, von Kleist überwirft sich mit Goethe, da er ihn für seine komödiantische Bühnenadaption verantwortlich macht. Zu dem Ärger gesellt sich der drohende Bankrott der monatlichen Literaturzeitschrift Phoebus, die der Dichter mit all seiner Habe gegründet hat und der finanzielle Erfolg an den seiner Stücke gekoppelt ist. Im Juli geht das bei Cotta in Druck. April 1811 gibt es im Berliner Konzertsaal auf Initiative von Henriette Schütz eine szenische Lesung.
Die Orte wechseln unbeständig zwischen dem Lager der Griechen und dem der Amazonen, wobei es zwischenzeitlich zu Begegnungen zwischen den Hauptprotagonisten und zahlreichen Schlachtberichten (Mauerschau) kommt. Ein Wendepunkt fehlt bzw. es kommt zu wechselndem Kriegsglück und Allianzen. Ebenso ist kein eindeutiger Umkehrpunkt auszumachen.
Die vierundzwanzig Szenen scheinen Stunden geschuldet, da sich die Handlung auf einen einzigen Tag beschränkt. Alternativ wäre auch eine Anlehnung an die 24 Gesänge der Illiaden denkbar. Mythisch erinnert der erotische Konflikt der Amazonenkönigin mit dem Griechenkönig an die Unvereinbarkeit der Liebe von Medea und Jason.65
Dramaturgie: Szenenfolge
Drei griechische Könige besprechen Kampfgeschehen bei der Schlacht. Odysseus berichtet von der Ankunft der Amazonen und deren unerwarteten Kampf gegen die Trojaner; vom eigenen Versuch, mit den Amazonen sich zu verbünden, wobei Penthesilea Achills Leben rettet. (2) Der eintreffende Hauptmann berichtet den Königen, dass Achill sich erneut in den Kampf geworfen hat mutmaßlich in Gefangenschaft geraten ist. Odysseus will aufbrechen, um ihn zu befreien. (3) Ein eintreffender Zeuge berichtet, wie Achill von den Amazonen unter Penthesilea verfolgt und entkommt. (4) Der verwundete Achill tritt hinzu; ein Schlachtplan, wie die Griechen die Schlacht gegen Troya wenden, findet Erörterung, Achill zeigt sich mehr an dem direkten Duell mit Penthesilea interessiert.
(5) Ein erster Ortswechsel erfolgt ins Lager der Amazonen. Penthesilea will unbedingt Achill bezwingen, da sie im Kampf verwirrt von ihm abgelassen habe. Prothoe rät ihr davon ab, Privates mit dem Interesse ihres Volkes zu vermischen. (6) Die Oberpriesterin erscheint mit gefangene Griechen erscheinen, sie werden nach Brauch als Gäste nach ihren Wünschen gefragt, bevor man sie der Göttin Diana opfert. (7) Die Priesterin spricht aus, dass Penthesilea von Amors Pfeil getroffen ist und sie eine weitere Kampfhandlung missbilligt. (8) Eine Amazone berichtet, vom zweiten Zweikampf zwischen Achill und Penthesilea; dass diese ihm unterlegen ist und dass Achill sie verschont hat. Beide Heeresführer haben nun jeweils einmal von ihrem Siegerrecht Gebrauch gemacht und den Gegner verschont. (9) Die Königin kehrt zurück, zum erneuten, den entscheidenden Kampf bereit. Und ignoriert abermals den Rat der anderen. Allen ist klar, dass sie als Weib begehrt und geachtet sein will und nicht aus politischen Gründen handelt; einzig Prothoe leistet ihr Gefolgschaft. (10) Als Achill sich naht, befiehlt Penthesileaseine Schonung. (11) Achill kommt ohne Waffen im Gefolge einiger Griechen näher und bekennt sich als (von der Liebe) „getroffen“. In der herrschenden Verwirrung sinkt Penthesilea ohnmächtig nieder. (12. Szene) Achill verhindert eine Schlacht. (13). Freundin Prothoe bittet Achill zu gehen, damit sie nicht glaube, die Besiegte und Kriegsgefangene sein und hören müsse, Achill gesteht seine Liebe und dass er sie heiraten wolle.
(14) Penthesilea und hält ihr Erleben für einen Traum, erblickt Achill und will ihn töten. Prothoe konfrontiert sie mit der Wahrheit; Achill bekennt sich zu ihrem Gefangenen „in jedem schöneren Sinn“. Penthesilea will das Rosenfest eröffnen und ein neues Zeitalter verkünden. (15) Achill will wissen, weshalb sie sich mit ihrem Heer auf die Seite der Troyaner gestellt hat und erfährt, dass beim Rosenfest nur für Nachkommenschaft gesorgt werden soll, die männlichen Säuglinge alle getötet werden, die Väter indes die Freiheit wiedererlangen. Im Traum sei ihr Achill als Vater ihrer Tochter erschienen. Er indes will sie in sein Königreich führen und besteht auf das Recht des Siegers. (16) Nach der langen folgt eine sehr kurze Szene, in der Achill wieder zum Kampfgeschehen zurückkehren will. (17) Wiederholt ringt das Paar darum, wer mit wem in wessen Heimat zurückkehrt, ein Geschlechterkrieg entbrennt. (18) Als Achill zur Schlacht aufbrechen und Penthesilea ins Gefangenlager bringen will, reißt ihn Odysseus mit sich und die Amazonen stoßen wieder zu ihrer Königin. (19) Diese ist erfüllt vom eigenen Todeswunsch; „Ich will in ewige Finsternis mich bergen.“
(20) Ein Bote richtet ihr aus, dass Achill sie zum entscheidenden dritten Zweikampf fordert, damit geklärt werde, wer wessen Gefangener ist. Obschon man ihr davon abrät, folgt sie seinem Ruf, ein Gewitter bricht aus. (21) Achill gesteht seinen Vertrauten, dass er im Zweikampf unterliegen und der Geliebten folgen will, damit sie ihm nach gewisser Zeit nachgebe und in seine Heimat freiwillig begleite. Achill vertraut auf einen Schein-Zweikampf, die rasende Penthesilea aber glaubt an ein finales tödliches Duell. (22) Die Oberpriesterin will die rasende Heerführerin mit Stricken fesseln lassen. Eine Amazone berichtet, wie Achill im Kampf zu Boden stürzt und Penthesilea mit ihren Hunden die Glieder des Geliebten in Stücke reißt. (23) Im Dialog mit der Oberpriesterin erklärt ihr Meroe, dass Achill ihr keinen Widerstand bot und offensichtlich ihre Königin als Braut begrüßte, diese aber Küsse mit Bissen vergalt und ihn von Hunden in Stücke riss. Damit werden der Tod des Achill und die Verwandlung der Königin in eine Kannibalin zweifach geschildert. (24) Sie kehrt mit der Leiche zurück, um sie zu säubern und der Göttin zu opfern; ihre Gefolgschaft erkennt sie nicht wieder; Penthesilea ist der Welt entrückt und hat offenbar nicht realisiert, dass sie ihren Geliebten getötet und entstellt hat. Als sie es gewahr wird, erdolcht sie sich.
II. 2. Inhalt
Die Handlung kann auf das reine Geschehen bezogen, zusammengefasst werden in: Krieg, ausbleibende Versöhnung und Privatkrieg zweier unglücklich, weil widerwillig sich liebender Menschen, die in zweifachen Konflikt geraten: erstens zwischen ihren Privatinteresse und dem öffentlichen Wohl ihres Volkes wählen zu müssen und zweitens der inneren Bereitschaft, als Gefangener und damit unterlegenes Geschlecht dem Sieger Gehorsam zu leisten. Die individuelle Wahl besteht zu keinem Zeitpunkt. Als Zusammenfassung können die Sätze gelten: „Siegen geht so rein nicht ab“66 und „Ach wie gebrechlich ist der Mensch, ihr Götter“.
Im übertragenen Sinn ist das Motiv ein Ringen um Balance in mehrfacher Hinsicht. Naturrecht gegen Staatenrecht bzw. Patriarchat und Matriarchat, Gewalt und Eros. Die beiden Lage, das der Griechen und Männer einerseits und das der Amazonen andererseits, sind von den Vertretern im Gleichgewicht. Den Hauptprotagonisten Pentesilea werden drei Fürstinnen und eine Oberpriesterin zur Seite gestellt; wobei Prothoe „Schwesterherz“ ihrer Gebieterin von dem Kampf abrät, weil sie die schwache Seite (die weibliche Achillesverse) erkennt und die Katastrophe zu verhindern versucht, während Meroe und Asteria an den militärischen Ehrenkodex erinnern und die Oberpriesterin an die Staatsraison. Achilles sieht sich von gleichfalls drei Freunden beraten, wobei nur einer, Odysseus, ihn vor der Liebe und seiner vermeintlichen List warnt, die anderen Könige der Griechen indes die Kampfhandlung vorantreiben. Vielseitigkeit und Vielstimmigkeit spielen daher eine ausgewogene Rolle. Das letzte Wort Prothoes gemahnt an das Baum-Gleichnis aus „Die Familie Schroffenstein“: „Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte! / Die abgestorbne Eiche steht im Sturm, Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder, Weil er in ihre Krone greifen kann.“
Das Verb kann als Möglichkeit bildet das Schlusswort. Zwischen Können und Müssen, Zufall und Notwendigkeit der Handlung wogt das Geschehen hin und her. Das einzig am Ort Verbleibende ist der Baum; er findet Verwendung als Gleichnis für die Früchte der Erkenntnis. Wer nicht von ihnen kostet, bleibt in Sklaverei und Vorurteil befangen, wer sie isst, muss mit dem Fluch der Erbsünde leben.
III. 2. 3. Interpretation
Der Konflikt von Wahn und Sinn, Traum und Realität
Stellen, in denen Penthesilea als Furie, Wahnsinnige oder Rasende bezeichnet wird, gibt es viele. Wahn spielt in allen Stücken Kleists eine entscheidende Rolle, in diesem Drama tritt Kriegseifer hinzu, die Schlachterfahrung des Autoren, seine vielen Jahre Militärdienst und familiärer Hintergrund ; so stiftet die vernichtende Niederlage der Preußen bei Auerstedt 1806 den Anlass zu dem an Gewaltszenen reichen Szenario.67
Vier Formen von Wahn sind zu unterscheiden: Fieberwahn, der zwischen Traum („Pentheselia! O du Träumerin!“), Prophezeiung und falscher Deutung von Zeichen wie ein Schleier liegt. Liebeswahn, der die keusche Amazone widerwillig überfällt und ihr die Ordnung raubt. Drittens politische Agonie, fatale Entscheidungen, die das Heer der Amazonen dem Abgrund zutreiben. Zuletzt Selbstbetrug: Penthesilea spaltet ihre Persönlichkeit, so dass ein Teil der Pflichterfüllung in Mord und Leichenschändung umschlägt, der andere, weibliche Anteil seelenlos und traumatisiert verkümmert. Die Herrscherin ist ohnmächtig (dreimal wird ihr das Bewusstsein geraubt) und treibt nicht nur ihren Untergang, sondern die gesellschaftliche Ordnung voran. Ehrgeiz und Ruhmsucht sind ein elementarer Bestandteil Kleist´scher Figuren.
Für Penthesilea, die nur zur Fortpflanzung lieben darf, wird die Frage, wer wessen Beute ist, schicksalsentscheidend und gerät zur Besessenheit. Dies macht die Naturgewalt sichtbar, u.a. Blitz und Donner, aber auch Tiergestalten wie die hetzenden Jagdhunde. Penthesilea erscheint als weiblicher Dionysos mit den Mänaden, wahlweise ihren Amazonen und den Tieren repräsentiert sie unberechenbare (feminine) Urgewalt, Ekstase, Rausch. Ihr Sexualtrieb macht sie mit den Tieren gemein und führt die wahnsinnige Mordlust herbei. Der Dualismus zwischen Vernunft und Gefühl oder Pflicht und Neigung mündet in Zerrissenheit und Suizid, im Übergang steht der Verlust des Sinns, folglich Wahnsinn. Angedeutet findet sich dies wie häufig bei Kleist durch Ohnmacht und Traum, der als Trance und Unbewusstes deutbar wird. So erscheint die Protagonistin abwechselnd als „leer“ und „gedankenvoll“. Mimik und Gestik legen Hysterie nahe, ihr Handeln bleibt monströs unverständlich.
Ekstatisch bleibt der Widerspruch zwischen Bewusstsein und Ent-oder Verzückung, ausgelöst durch Liebeswahn. Die widerstrebenden Gefühle sind autodestruktiv: „Freud ist und Schmerz dir, seh ich, gleich verderblich, / Und gleich zum Wahnsinn reißt dich beides hin.“68 In der verfremdeten Welt des Bewusstseins gibt es für die Amazone nur ein Bereitsein zum Tode bzw. wilde Mordlust der Furien, in der sich der Wille zur Selbstvernichtung durch Kontrollverlust bereits entäußert. Dass sich der Autor darin wiederfindet und mit der Figur der Pentesilea identifiziert, verdeutlicht sein Brief über das Drama an Marie von Kleist: „Mein innerstes Wesen liegt darin … der ganze Schmerz zugleich und Glanz meiner Seele.“69
Sprache, Sprachverlust: zwischen Macht und Ohnmacht
Nicht nur der letzte Satz „Ach wie gebrechlich ist die Welt“ beinhaltet eine doppeldeutige Syntax zwischen emotionalem Aufbegehren und stoischer Schicksalshörigkeit, der mit dem Kassandra-Mythos, der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, spielt. Wir vernichten, was wir lieben, so hat einst Christa Wolf „Penthesilea“ pointiert. Zernichtet wird in jedem Fall der Austausch, das kultivierte Gespräch oder der Versuch einer wirklichen Annäherung, der Verstehen des Fremden.
Vergleicht man die Redeanteile, so überlagen Monologe Dialoge klar und wenn Figuren miteinander reden, dann meist aneinander vorbei „Du ganzer Schreckenspomp des Kriegs, dich ruf´ ich, / Vernichtender, entsetzlicher, herbei!” Es herrscht auch ein Krieg um Worte, um Sprachgewalt. Das Schlachtfeld des Stückes ist Sprache. Es sind Wortschlachten, die in „Penthesilea” geschlagen werden. Der häufigste, immer wiederkehrende Befehl lautet: „So rede! Sprich!” bzw. „Sprecht! Redet!“ Beispielsweise, als die Jungfrauen von den Griechen wissen wollen, womit man ihnen einen Gefallen bereitet: beide Kulturen verstehen sich nicht; aber auch Penthesileas Verhalten befremdet ihre soziale Gruppe und Achill die seinen. So reagiert die Oberpriesterin auf ihre Königin zunehmend fassungslos. „Sag an: wo? Wann? Wer?“ Versatzstücke, abgebrochene Sätze und Fragegewitter verleihen der Textstruktur gezielte Brüche und Risse. Alles bleibt Fragment und Aufbruchsstimmung. „Du willst? - säumst? – Du willst … Wie, Rasende?“ Dass Pentheselia nicht mehr in die Schlacht ziehen, sondern bleiben will, lässt ihre Mitstreiterinnen glauben: „Sie ist von Sinnen!“ Die gleiche Situation wiederholt sich unter umgekehrten Vorzeichen, als die Königin, kaum von ihren Wunden genesen, gegen Achill ins Feld ziehen will, wo die Kräfte ihrer Armee aufgebraucht sind.
Drei Mauerschauen belegen: der Krieg bildet für beide Parteien und nur phänomenologisch unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme die Existenzgrundlag: Regeln, Gesetze und permanenter Ausnahmezustand, Grenzerfahrungen. stellt die ehernen Gesetze ihres Staates in Frage: ihr widerfährt, wofür es keine Sprache zu geben scheint; das Unerlaubte der Liebe. Dieses unerwünschte und doch herbeigesehnte Gefühl wütet in ihr, Achill wird zum “Störfall“. Der Dialog zwischen den Liebenden ist nicht mehr als ein hastiges Stammeln und Stocken; physisch wie psychisch bringt Achill Penthesilea ins Straucheln.
Beide sind aufeinander fixiert, doch das Begehren zu lieben und zu besitzen erweist sich als unvereinbar, weil besiegen, um zu lieben in sich paradox ist. Kleist belegt seine Heldin mit dem Attribut „unverwüstlich“; doch wie sie physisch nicht nachgibt, so unbeugsam bleibt sie gegenüber dem Gesetz der Libido. Ist in ihrem kriegerischen Matriarchat ist auch Platz für die Liebe vorgesehen und ihr wie allen Amazonen eine Brust zum besseren Umgang mit Pfeil und Bogen amputiert: „Weil doch die Kraft des Bogens nimmermehr Von schwachen Frauen, beengt durch volle Brüste, Leicht wie von Männern, sich regieren würde.“70 So bleibt doch Liebe ein Schlachtfeld wie Pfeil und Bogen Attribute Amors sind. Die Penthesilea verbliebene Brust ist Symbol rudimentärer Weiblichkeit, Makel und Androgynität.
Mit zunehmender Liebe (präziser Begehren oder libidinöses Verlangen) versinkt die Sprache, verkommt zu Interjektionen wie „Ach“. Daher scheint auch das leichte Homonym Küsse Bisse nicht einem komödiantischen Effekt geschuldet. „Wenn Penthesilea zuletzt Küsse und Bisse verwechselt, ist dies die Ineinssetzung von Sprache und Schweigen, die als Mysterium körperlicher Vermählung gefeiert wird: das Einssein durch Verschlingen des Körpers.“71 Man muss von einem Modell der Eskalation sprechen, für das Worte fehlen.
Auch Achill findet kaum Zugang zur Sprache. Anstelle der natürlichen Frage, die man gewöhnlich an den Geliebten richtet, willst du mit mir leben, fragt er: willst Du mit mir sterben? Die Erfüllung des Eros liegt für ihn stets im Thanatos. Mit Stendhals Kristallisationstheorie: Liebt Penthesilea Achill oder nur das Bild, das sie sich von ihm gemacht hat, ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen nach masochistischer Unterwerfung, denn dass Achill der mächtigste aller Kriegsgegner ist, macht ihn für sie begehrenswert und keineswegs ein individueller Zug. Ihre Fixierung erfolgt vor dem ersten Wort-, sogar vor dem ersten Blickwechsel mit ihm. Kleist legt sogar Spuren, wie er über die Sprache, um deren wahrhaftigen Ausdruck er stets ringt, täuscht: „Die Hand verwünsch ich,… und das verräterische Wort.“72 Und: Seht, wenn, auf euer übereiltes Wort.“ In Variation, aber metaphorisch umso listreicher: „Ich habe mich, bei Diana, bloß versprochen / Weil ich der raschen Lippe Herr nicht bin.“ Sie hat ihn aus Versehen getötet „und weiter nichts“
Geschlechterkampf oder höhere Theologie
„Entseelt ist sie“73. Kleist invertiert Leib und Psyche. Im antiken Urmythos tötet Achill Penthesilea; bei Kleist trifft ihn ihr Blick ins Mark und verhindert den tödlichen Stoß, als sie wehrlos ist. Die Gewalt, zentrales Thema für Kleist, erfährt bis zum Ende kontinuierliche Steigerung; ein klar erkennbarer Kulminations-oder Wendepunkt indes fehlt. „Penthesilea“ weist eine dreifache Umkehr auf: von der Kampf-zur Liebesgier, von ihr zur furienhaften Rache nach dem vermeintlichen Liebesverrat Achills und zuletzt zum Selbstvernichtungswillen nach der Erkenntnis der begangenen Untat. Durch den zerbrochenen Glauben an die Vernunft kann Wirklichkeit nur aus dem Selbst heraus erzeugt werden mittels „metaphysischem Realismus“74.
Die entstehende Gefühlsverwirrung ist Folge der illusorischen Sicherheit des Gefühls die alle weiblichen Protagonisten Alkmene, Käthchen und Penthesilea in ihrem Rollenverständnis erschüttert. „Höhere Theologie“ (Korff) herrscht in den Prophezeiungen vor, in Penthesileas Fall die der Mutter, wobei sie deren Traum missdeutet. Sie offenbart in ihrer Verrücktheit eine tiefere Form der Vernunft, denn sie sucht Achill im Kampf besiegen, aber zugleich als Weib seine Liebe erringen; es liegt also ein Liebesparadox vor. „Wenn du mich liebst, so sprichst du nicht davon.“
Die Frau fordert Anerkennung ihres Selbst durch den Anderen, was widersinnig ist. Penthesilea ahnt um das Unbewusste, ihre heimliche Libido: „Wie manches regt sich in der Brust der Frauen, Das für das Licht des Tages nicht gemacht.“
Im Triumph der Leidenschaft befreit sie sich von der Widernatürlichkeit des ihr aufgezwungenen Amazonentums. Anstelle der Gebärmaschine wird sie Tötungsmaschine. Denn im Unterschied zu den Griechen töten die Amazonen ihren Gegner nicht, sondern unterwerfen ihn, um sich über die Gefangenen ihre Nachkommenschaft zu sichern. Allerdings ist eine individuelle Partnerwahl nicht vorgesehen, das Rosenfest ist ein religiös kollektiver Ritus.
Im Augenblick höchster Unvernunft, als sie den Geliebten wie eine Hündin zerfleischt, gelangt die absolute Liebe Penthesileas ans Ziel: Nicht im romantischen Liebesbund, sondern der antike Liebestod stellt die höchste Erfüllung ihrer Liebe dar. Insofern handelt Penthesilea nicht verrückt, sondern nach den Gesetzen ihrer Kriegs-Logik. Absolute Liebe lässt sich nur im Tod verwirklichen, wenn man mit Haut und Haar lieben wörtlich nimmt. Siegermentalität steht über allem.
Es ist kaum anzunehmen, dass Kleist emanzipatorisch auf eine Umkehr des Geschlechterkampfes erstrebt, wohl aber auf einen mündigen Bürger: „Ein Staat, ein mündiger, sei aufgestellt / Frauenstaat, den fürder keine andere / Herrschsüchtige Männerstimme mehr durchtrotzt.“
Unwahrscheinlich erscheint eine Gesinnung der Gleichberechtigung; plausibler die Unmöglichkeit selbiger drastisch zu veranschaulichen. Will man die Kastrationsangst beschwören, so hat das Weib den Mann nur aus „Versehen“ mit den Zähnen zerrissen. Tiervergleiche, nicht nur mit Wölfen und Hunden, finden sich viele, sie gehören zum Jagdmotiv und dem Kult um die Göttin Diana. Versöhnung wäre für Kleistkontradiktorisch und mit Ohnmacht gleichzusetzen. Ein Hinweis dafür liefert Penthesileas religiöse Selbstbegrenzung: „Es schickt sich nicht, daß eine Tochter Mars´/ Sich ihren Gegner sucht, den soll sie wählen / Den ihr der Gott im Kampf erscheinen läßt.“
Naturgesetz und Rechtsgesetz
Von Anfang an besteht bei Kleist ein Zusammenhang zwischen Barbarei und Zivilisation (ein mit-als auch ein gegeneinander) durch die fatalen Folgen des Sündenfalls, der Voraussetzung für moralisches Denken bildet in Form von Aufbegehren und Ungehorsam gegenüber einem System. Der Zusammenhang von Raub und Gemeinschaftsgefühl oder Familie als Staat ist in allen Dramen nachweisbar. Die Forderung nach Gerechtigkeit führt immer über archaische Rache, Schuld tragen im Naturzustand immer die Götter. Auch, dass die Kriegerin mit ihren Hunden Achill zerfleischt ist letztlich Ankanke: „Ists meine Schuld, daß ich im Feld der Schlacht / Um sein Gefühl mich kämpfend muß bewerben?“75
Auch „Penthesilea“ thematisiert den Konflikt zwischen den Gefühlen des Individuum und der gesellschaftlichen Ordnung, die dem natürlichen Empfinden desselben in unnatürlicher Weise entgegensteht. Kleist offenbart in der Amazone Penthesilea, die eine Wahl trifft (oder von ihr getroffen wird), indem sie ihren Gegner Achill begehrt. Sie opfert ihre Liebe der Staatsraison und lässt ihn töten, weiß sich schuldig, weil sie entgegen ein höheres göttliches Naturgesetz gehandelt hat. Da das Gesetz, dem die Königin der Amazonen treulich dient, seinen Sinn nicht mehr erfüllt, richtet sie sich selbst. Dem Eros folgt zwangsläufig Thanatos. Sie muss zwangsläufig sterben, weil ihre natürlichen Gefühle mit dem Gesetz nicht vereinbar sind, ergo im Rechtszustand unnatürlich wirken. Penthesilea wird von Kleist mit einem Wolf verglichen, dem Sinnbild des homo homine lupus est aus Thomas Hobbes´ „Leviathan“.
Das von Schiller geforderte Bündnis zwischen Schönheit und Moral pervertiert bei Kleist in Selbstzerstörung. Die Thematik, sich selbst treu zu bleiben, ist das Leitmotiv. So rät Prothoe ihrer Königin: „Und lass dich bist zum Fuß herab zerspalten / Nicht aber wanke in dir selber mehr.“ Dabei ahnt sie ihren Tod mehrfach voraus: „Zum Tode war ich nie so reif als jetzt.“ „Ganz reif zum Tod, o Diana, fühl´ich mich!“
Die Amazonenkönigin Penthesilea und der Griechenheld Achill leben beide in sehr rigiden gesellschaftlichen Systemen, in denen Liebe, wie sie sie empfinden, nicht vorgesehen ist. Im Essay über das Glück endet Kleist seinen hypotaktischen Schachtelsatz währenden Satz: „ Ich nenne Glück … ein sicheres tief gefühltes und unzerstörbares Glück in unserem Inneren zu gründen.“76 Genau dies setzt er im Drama um. Kampf ist das Gesetz der Stunde. Eroberung oder Unterwerfung sind alternativlos und erzeugt Duellcharakter. Penthesilea spricht über: „Das Glück, gesteh ich, wär mir lieb gewesen; / Doch fällt es mir aus Wolken nicht herab, / Den Himmel drum erstürmen will ich nicht.“ Später wird Prothoe entgegnen: „Indes das Glück, gleich einem jungen Fürsten, / In deinen Busen einkehrt, und, verwundert liebliche Behausung leer zu finden, Sich wieder wendet und zum Himmel schon.“ Penthesilea greift mehrfach die Himmelsmetapher auf. In der Antike galt Empyreum (woraus sich Imperium ableitet) als höchster Ort und Sitz der Sonne.
Die Chronologie von Kriegsfall-Rechtsfall-Sündenfall ist unausweichlich.77 Vergesellschaftungsprozesse unterliegen Automatismen. Ein Ausbruch aus dem System des Kollektivzwangs besteht nicht, individuelle Konzepte müssen scheitern. Kleist scheint zwischen bürgerlichen Vernunft-oder Intimsubjekt (Dominanz des Selbstbildes) und grenzüberschreitendem Adelssubjekt (Vorherrschaft des Fremdbildes) die Mitte ausloten zu wollen und sie im selbstbestimmten Tod zu finden. Im „Spiel aus Selbst-und Fremdbild“ kann es kein stabiles Ich geben.78 Seine Dichtung zeichnet sich gerade dadurch aus, reale Widersprüchlichkeit in sich aufzunehmen und darzustellen. Das Individuum kann sich, zerrissen wie er ist, nicht zwischen Verstand und Gefühl entscheiden.
Penthesileas Problem besteht nicht darin, dass sie die Grenzen überschreitet, sondern in ihrer Kompromissbereitschaft, der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten, die der Staat fordert: „Mit Wolf und Tiger nicht, im Streite liegt: Gibt's ein Gesetz, frag ich, in solchem Kriege, Das den Gefangenen, der sich ergeben, / Aus seines Siegers Banden lösen kann?“79
Schließlich will sie dem Staatsgefüge aber bis zum Schluss treu bleiben. Sie ist die Königin, und weiß, dass nicht sein darf, was sie will. Sie zerreißt Achill wie ein feindliches System, das in das ihrige eingedrungen ist. Erst im Suizid sagt sie sich von diesen Gesetzen los. Das Zerrissensein von allen Dingen, denen man genügen will, ist ein Problem von Kleist. Die fortwährende Konstruktion und Dekonstruktion hat eine Neubildung des ästhetischen Urteils zur Folge, die einer konventionellen Ästhetik widerstrebt, einen „dramatischen Angriff zweiter Ordnung“ 80
Vielleicht ist das Verhältnis Penthesilea und Kleist eines der kompliziertesten Selbstidentifikationen in der Poetik überhaupt, aber dass sich Kleist vornehmlich in seine weiblichen Figuren einschreibt und Rollentausch vornimmt.81 Es gibt Menschen, die halten die Nähe zu einem anderen Menschen aus Bindungsangst nicht aus, auch wenn sie sich danach sehnen.
Stilistisch auffallend: Es geht nur um Achill und Penthesilea, alle Figuren beziehen sich auf sie, sie haben kein Eigenleben, gehen in ihrer Funktion als Kampfmaschinen auf, verkörpern den Kampf des Menschen mit sich selbst, Stimmen die einen hemmen, Stimmen, die einen vorwärts treiben, Stimmen voller Angst und auch voller Lust. Sich kämpfend bewerben, kämpfend untergehen. „Dies, du Geliebter, war´s, und weiter nichts”82, sagt Penthesilea und küsst die zerfetzte Leiche des Achill. Der Grundgedanke dahinter lautet: zum Leben reicht Liebe nicht, zum Sterben wohl.
Kleists Stück erzählt davon, welch ungeheure Widerstände ein Mensch überwinden muss, um ganz bei sich zu sein. Wer setzt diese Widerstände und verhindert so das Zu-sich-kommen? Der Staat, die Gesellschaft mit ihren Sitten, Gesetzen, Anforderungen? Wo liegen die Grenzen, die unüberwindbar scheinen – Außen, im Anderen oder im Selbst?
„Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten,/ Nicht aber wanke in dir selber mehr”. Aus Furcht vor der verzweifelten Grenzüberschreitung Penthesileas, den Geliebten zu töten und sich einzuverleiben, wird das Stück als unüberwindbare Trennung im Geschlechterkrieg thematisiert wie Staaten im Kriegszustand. „Arbeit an Mythos“ befreit vom „Absolutismus der Wirklichkeit“ (Blumenberg), Mythen nähren Ideologien.
So stehen bunte Tag-und Tat-Träume einer gespaltenen Seele für das einzig Fassbare: „Fürwahr! Ein Traum, geträumt in Morgenstunden, / Scheint mir wahrhaft'ger, als der Augenblick.“ Dass Achill die Geliebte verkennt und falsch einschätzt ist aufgrund ihrer Herkunft und kulturellen Prägung nahezu logisch und erinnert an die zahllosen Missverständnisse zwischen Preußen und Franzosen. Da das Stück dem Krieg und seinen Gesetzen geschuldet ist, bleibt am Ende nur die Kleist´sche Lösung des Doppel-Selbstmords, eingeleitet mit einer Epizeuxis „So! So!So!So! … „Sie stirbt! / Sie folgt ihm, in der Tat!” Weil ihr wie auch Kleist selbst auf Erden nicht zu helfen war. Tanais (Sarmatien) verweist auf Fremdeinverleibung.83